Читать книгу Zivile Helden - Peter Jehle - Страница 14

1.3 Die Konstitution des Zuschauers

Оглавление

Der Schauspieler Bruscambille wünscht sich ein Hôtel de Bourgogne, das ausschließlich »zum Hören und Sehen« da ist. Wer heute ins Thea­ter geht, ist selbstverständlich eine Zuschauerin oder ein Zuschauer – jemand, der das Zu-Schauen als die vorherr­schende Art und Weise der Beteiligung am Bühnengeschehen verinnerlicht hat. Doch ist dies das Resultat eines komplexen Prozesses. Für d’Aubignac stellt es sich u. a. als Problem der Anordnung und Verteilung der Menge im Zuschauerraum. Er weiß, dass von der räumlichen Anordnung bestimmte Ordnungseffekte ausgehen. Daher sein Vorschlag, den Raum durch Sitzplätze aufzuteilen und ihn der freien Verfügbarkeit durch die Zuschauer zu entziehen. Nicht nur den Taschendieben und Beutelschneidern wäre die notwendige Bewegungsfreiheit genommen, der Blick des Zuschauers würde zwangsläufig auf die Bühne gerichtet, die jetzt zum vorherrschenden Zentrum der Aufmerksamkeit werden könnte.

D’Aubignac sieht für das Theater die Anwendung von Techniken vor, die Foucault am Beispiel des Militärs, der Medizin, der Schule und der Indu­strie als einen »art des répartitions« analysiert hat (1975, 143). Er un­terscheidet zwei grundlegende Formen, in denen diese Kunst auftritt: 1) »la clôture«, d. h. »la spécification d’un lieu hétérogène à tous les autres« (ebd.): Man geht ins Theater; 2) »le quadrillage«, der jedem Individuum an dem so herausgeschnittenen, geschlossenen Ort seinen Platz zuweist (144). Es geht darum, die »circulation diffuse« (144f) mit Hilfe einer »tactique […] d’antiagglomération« zu unterbinden (145). Wie die Hafenstadt, die Foucault als Beispiel anführt, gehört das Theater zu den Orten, die »un carrefour de mélanges dangereux« bilden (145). Ehrbare Kaufleute finden sich Seite an Seite mit verarmten Studenten und lär­menden Soldaten, die noch keiner minutiösen Zeiteinteilung unterliegen und frei umherschweifen können. Und auch wenn das Parterre den Männern vorbehalten ist, kann es doch zu »gefährlichen Vermischungen« zwischen den Geschlechtern kommen (vgl. auch Teil II). Ordnung und Unordnung existieren gewissermaßen unterschiedslos neben- und ineinander. Zumindest bis zu dem spektakulären Prozess gegen Théophile de Viau 162336 und der öffentlichen Verbrennung seiner Bücher ist das Theater einer der Treffpunkte der »libertins«, deren Anhänger zu einem großen Teil aus dem Adel kommen. Kurz, das öffentliche Theater führt unterschiedliche Milieus zusammen, die sich wechselseitig Resonanz geben und in dieser Mischung vom Standpunkt der Obrigkeit als Unordnungskräfte erscheinen. Eine Bedingung für die Staatsfähigkeit des Theaters ist dagegen, dass seine räumliche Gliederung die ständische Ordnung nicht zum Verschwinden, sondern gerade zur Geltung bringt. Der Zuschauerraum muss, wie d’Aubignac fordert, eine Ordnung repräsentieren, »où les sièges des Spectateurs soient distingués, sans que les personnes de condition y soient mêlées avec le menu peuple« (Projet, 705f).37

Die Disziplinierung der Schauspieler hat ihr Gegenstück in der der Zuschauer. Auerbach meinte, dass der Ausdruck public, ursprünglich »das öffentliche Wohl, der Staat« bedeutend, mit Beginn der 30er Jahre des 17. Jahrhunderts zusätzlich den Sinn einer »bereits geformten und empfangsbereiten Theateröffentlichkeit« annimmt (1933a, 5) – einer Empfangsbereitschaft freilich, die sprunghaft und selektiv ist und sich von einem Moment auf den andern von der Bühne abwenden und dem – interessanteren – Schauspiel, das die Zuschauer selbst veranstalten38, zuwenden kann. Dieser diskontinuierliche Typus von Aufmerksamkeit wird im 18. Jahrhundert an Verhaltensweisen greifbar, auf die u. a. Sennett hingewiesen hat und die allerdings nur einem »bereits geformten« Publikum möglich sind (vgl. 1983, 93–102). Längst existiert ein Kanon erprobter und erfolgreicher Stücke, auf die die Schauspieler, besonders die der Comédie-Française, gerne zurückgreifen, um ein Publikum zufrieden zu stellen, das den vertrauten Stoffen stets neue Genüsse abgewinnt. Insbesondere die Pointen werden mit Spannung erwartet. Die Schauspieler, die solchen Erwartungen zu entsprechen suchen, stellen sich nahe an den Bühnenrand und wenden sich direkt ans Publikum, das seiner Begeisterung wie seiner Kritik ebenso entschieden Ausdruck gibt. Lautstark wird oft die Wiederholung solcher Stellen gefordert.39 Eine zweite Form, in der das Publikum seine Anwesenheit bekundet und den Fortgang der Handlung unterbricht, ist das ›Zum-Schweigen-Bringen‹, das den Schauspieler trifft, der nicht weiter weiß und dessen Missgeschick vom Publikum durch einen ohrenbetäubenden Lärm sanktioniert wird, der noch die Bemühungen des besten Souffleurs zunichte macht. Sennett sieht in diesen Reaktionen spontane Äußerungen, die auf eine »Vermischung von Schauspieler und Publikum« hindeuten (1983, 95). Als »spontan« erscheinen diese Eingriffe jedoch nur vom Standpunkt des heutigen Zuschauers, dessen Ausdrucksmöglichkeiten weitgehend auf die ritualisierte Form des Beifalls beschränkt sind. Die Wiederholung der Pointen und das Zum-Schweigen-Bringen sind Formen einer Beteiligung, die ein gebildetes Publikum voraussetzen: Es hakt an den Stellen ein, an denen der Schauspieler des literarischen Theaters sein besonderes Können unter Beweis stellen muss – das Rezitieren und die Kunst, einen Text treu zu reproduzieren. Doch kann solches Wissen allein kein sinnverstehendes Zuschauen begründen. Das Interesse an Details des schauspielerischen Könnens fungiert als Desinteresse am Sinn der Handlung. Die ›Höhepunkte‹ existieren losgelöst vom Zusammenhang des Ganzen.

Die Forderung d’Aubignacs, das Parterre mit festen Sitzplätzen auszu­statten, wird erst durch die Übersiedelung der Comédie-Française in ein neues Gebäude 1781 eingelöst. Das Théâtre-Italien folgt 1788. Erst 1759 waren im Théâtre-Français die Plätze auf der Bühne abgeschafft und ein Parkett angelegt worden, das zwischen Stehparterre und Orchester 180 Personen Sitzplätze bot. Der Comte de Lauraguais40 zahlte 60 000 Francs, um die Schauspieler für den Ausfall der Einnahmen zu entschädigen, die die Verbannung der Plätze von der Bühne zur Folge hatte (vgl. Marmontel, 139). Schon Marmontel diskutiert in seinem Encyclopédie-Artikel »parterre« – lange vor 1781 – die Vor- und Nachteile von Sitzplätzen und kommt zu dem Schluss, dass es sich dabei um »un autre monde« handeln wird: »le public des loges & celui du parterre ne feront qu’un; & dans le sentiment du parterre il n’y aura plus, ni la même liberté, ni la même ingénuité; osons le dire, ni les mêmes lumieres: car dans le parterre […] les ignorans ont la modestie d’être à l’école, & d’écouter les gens instruits; au lieu que dans les loges, & par conséquent dans un parterre assis, l’ignorance est présomptueuse: tout est caprice, vanité, fantaisie ou prévention.« (242) Aus ganz anderen Gründen als d’Aubignac plädiert Marmontel für die Trennung des Logen- und Parterrepublikums: Während in den Logen die höfische Gesellschaft als eine Ansammlung eingebildeter Ignoranten das Sagen hat, ist das Parterre – trotz der hier herrschenden Unruhe – eine »Schule«, die Geschmacks- und Urteilsbildung befördert, weil »gens instruits« und »ignorans« auf produktive Weise sich begegnen. Marmontel spricht vom Standpunkt dessen, der die kulturellen Kompetenzen des Dritten Standes entwickeln will und daher verhindern muss »que cette espece de république qui compose nos spectacles changeroit de nature, & que la démocratie du parterre dégénéreroit en aristocratie« (ebd.).

Auch Sennett erwähnt die Auffassung, mit der »Bequemlichkeit« sei zugleich eine »gewisse Leblosigkeit« ins Theater eingezogen (1983, 95). »Bequemlichkeit« und »Leblosigkeit« sind indes Kategorien, die das geschichtlich Neue – die Konstitution des Zuschauens als dominanter Form der Publikumsaktivität – einseitig, nur unterm Gesichtspunkt der Passivierung fassen. Im Blick auf die »Bequemlichkeit« bleiben die Ordnungseffekte einer materiellen Anlage ungesehen; die »Leblosigkeit« legt nahe, das Zuschauen als Nicht-Aktivität zu begreifen. Indes begründet die Stillstellung eine spezifische Aktivierung. ›Von außen‹ ist nichts zu sehen. Umso mehr spielt sich ›im Innern‹ ab. Es gilt, eine unmittelbare, durch nichts beeinträchtigte Beziehung zum Bühnengeschehen herzustellen. Auch in der Baustruktur, teilt Sennett mit, habe man nach 1720 mehr darauf geachtet, dass große Teile des Publikums eine »ungehinderte Sicht auf die Bühne hatten« (99). Das Husten des Nachbarn, ja ein einfaches Sich-Räuspern werden bereits als störend, vom Störenfried selbst als peinlich empfunden. Das Sitzen unterstützt die notwendige Abschottung gegen die andern. Die »Empfangsbereitschaft«, von der Auerbach spricht, kommt ohne die freiwillige Anstrengung des Einzelnen nicht zustande. Es sind verschiedene Praxen, die in der Herstellung der Empfangsbereitschaft sich wechselseitig stützen: das Sitzen, die ungehin­derte Ausrichtung des Blicks auf die Bühne, das Schweigen. Die Sinnlichkeit der »Außenwelt« – das Stimmengewirr, das Scharren der Füße, der Geruch der brennenden Öllampen usw. – wird möglichst weitgehend abgeschnitten. Übrig bleibt die unmittelbare und individuelle Beziehung zur Bühne.

Der Weg zum ›Publikum‹ des öffentlichen Theaters führt über die Anrufbarkeit des Einzelnen. Die Abschließung gegen »außen« erzeugt im Gegenzug die spezifische Offenheit für den Sinn des auf der Bühne Gezeigten. Erst jetzt kann es zur ›Botschaft‹ werden, das Zuschauen zur sinnverstehenden Aktivität. Wenn die »Privatisierung und Individua­lisierung des Zuschauers« (Orlich 1984, 444) erst im 19. Jahrhundert wirklich erreicht werden kann, so deshalb, weil erst jetzt die technischen Möglichkeiten gegeben sind, um die im Parterre auf ihre Plätze fixierten Zuschauer in ein ihre Vereinzelung akzentuierendes Dunkel zu tauchen.

Der »empfangsbereite« Zuschauer ist also weniger Resultat von Denkschriften oder polizeilichen Verordnungen als vielmehr Effekt ­einer architektonischen Anlage. Noch Goethe notierte den Widerspruch zwischen der Forderung Diderots nach »vollkommener Täuschung«, die erst die »natürlichste Natürlichkeit« bedingt, und den auf der Bühne noch immer üblichen Zuschauerplätzen, welche die »Illusion« zerstörten (DuW, 1. Teil, 3. Buch).41 Erst der Umbau des materiellen Dispositivs bewirkt die »Illusion des Realismus«, d. h. die ›Hermeneutisierung‹ des ganzen Vorgangs: Das Spiel der Schauspieler wird zur »Textinterpretation«, das Zuschauen zur sinnverstehenden Aktivität. Daher der Erfolg der romantischen Bewegung, die nicht etwa das Illusionstheater in Frage stellen, sondern dessen Produktionsweise revolutionieren wird. Die Momente »vollkommener Illusion« (Stendhal) sind durch keinerlei vorgängiges Regelwerk mehr zu erzeugen. Wenn die ›klassische‹ Darstellungsästhetik sich im sicheren Besitz einer Poetik wähnte, deren Wirkung auf die an ihre Plätze fixierten Subjekte gewissermaßen ›objektiv‹ verbürgt war, so stellt die romantische Erneuerung die Subjektivität der Zuschauer selbst in Rechnung. Die Illusion kann nur der Wechselwirkung von Darstellung und rezeptiver Gestimmtheit des Einzelnen entspringen. Das drame bourgeois, das die »Empfindsamkeit« der Zuschauer zugleich voraussetzt und entwickelt, ist nicht zufällig ein Meilenstein auf diesem Weg.

Die Einschließung des öffentlichen Theaters in einen festen Raum markiert – trotz der Klagen Bruscambilles – einen Wendepunkt. Herausgeschnitten aus dem Zusammenhang der öffentlichen Plätze, kann sich das Theater zu einem besonderen kulturellen Ereignis verfestigen, das von den honnêtes gens nach und nach in Besitz genommen wird. Das öffentliche Theatergebäude ist der sinnfällige Ausdruck der Abstrak­tion des Theaters aus den lokalen Bindungen und Traditionen: Seine Verbindung zur Festkultur des Volkes wird ebenso durchtrennt wie seine Einbindung in die ideolo­gische Macht Kirche.

Zivile Helden

Подняться наверх