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Einleitung

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Émile, der Held von Rousseaus pädagogischem Roman, soll ohne Bücher aufwachsen. Das 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der Zeitschriften und Wörterbücher, das dem Text eine sich von der Vormundschaft des »Buches der Bücher« emanzipierende Bedeutung gegeben hat, erscheint zugleich als eine von der Schrift beherrschte Gegenwart, der sich die Mündlichkeit als ein verlorenes Paradies des genuinen Gefühlsausdrucks entgegensetzt. Im Theater geraten die beiden Kulturen aneinander. Das Drama, das im Theater ein Publikum begeistert, kann als Text der literarischen Kritik anheimfallen. Wenn jenes sein Urteil ›vor Ort‹ unmissverständlich kundtut, so unterwirft diese das Stück einer Dogmatik, die im Bewusstsein der Regelhaftigkeit der Poetik, die zugleich eine Lehre des gesellschaftlich Gesollten ist, praktiziert wird. Das Lachen des Publikums ist ihr die unmaßgebliche Äußerung von Ignoranten. Wie die katholische Kirche notwendig immer zu spät kommt, wenn sie den langwierigen Prozess einer Heiligsprechung in Gang setzt, so eine Literaturgeschichtsschreibung, die ihr Geschäft als Applikation einer literarischen Werthaftigkeit betreibt und unter Umständen verwirft, was die Zeitgenossen begeistert hat. Houdar de la Mottes Inès de Castro, einer der größten Theatererfolge des 18. Jahrhunderts, konnte bei den Kritikern keine Gnade finden – hatten hier doch erstmals Kinder, »ganz unvernünftige kleine Geschöpfe […], die noch nichts besaßen als Empfindung« (Klemperer 1954, 106), das Gebiet der klassischen Tragödie betreten und die kommende Richtung aufs bürgerliche Drama angedeutet.

Die Konstitution der Theaterwissenschaft als Universitätsdisziplin zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland markierte den »Bruch« mit einer Auffassung von Theater als »›textueller‹ Kunst« (Fischer-Lichte 2004, 42). Sie wurde als »Wissenschaft von der Aufführung« begründet und setzte die »Umkehr der Positionen von Text und Aufführung« voraus (ebd., 43). In Frankreich war es Pierre Mélèse, welcher der falschen Natürlichkeit der literarischen Kritik die Gefolgschaft gekündigt hat: »Si le théâtre du XVIIe siècle a suscité d’innombrables travaux, on peut observer […] que les critiques modernes considèrent ce théâtre du point de vue de la critique littéraire, c’est-à-dire comme une œuvre accomplie, intangible, dont on s’efforce de dégager l’essence, d’expliquer les intentions et de justifier l’intérêt éternel« (1934, IX). Damit war ein Wechsel der Aufmerksamkeit vollzogen, weg vom Monumentcharakter des literarischen Werks, das die Nachwelt bewundert, hin zum Verständnis eines lebendigen kommunikativen Prozesses, der von unterschiedlichen Instanzen, nicht nur einer akademisch geadelten Kritik, in Bewegung gesetzt wird. Mit den ›Theaterverhältnissen‹, dem neben ›kultureller Hegemonie‹ zweiten Schlüsselbegriff, der für diese Studie zentral ist, taucht das Ensemble der unterschiedlichen Instanzen auf, zu denen das Publikum ebenso gehört wie die Schauspieler, die Autoren oder die architektonische Anlage, in der das Stück zur Aufführung kommt. Vor allem das Publikum gewinnt in dieser Perspektive entscheidende Bedeutung. In Deutschland war es Erich Auerbach, der es, ein Jahr vor dem Erscheinen der Studie von Mélèse, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte.1 Der ›revolutionäre‹ Charakter dieser Studien hängt damit zusammen, dass die falsche Natürlichkeit des literarischen Theaters mit seinen befugten Interpreten, deren Autorität durch die Stellung im schulischen und universitären Apparat garantiert war, durchsichtig wurde. Indem das Publikum, unabhängig von der ›klassischen‹ Geltung der Texte, als eigenständige Instanz in den Theaterverhältnissen in den Blick kam, mithin die Aufführung ihren subalternen Status gegenüber der ›eigentlichen‹, literarischen Beschäftigung mit dem Text verlor, war die Fixierung aufs individuelle Schöpfertum abgesprengt und der Weg frei, um »das Vergangene in einem Stadium der noch nicht abgeschlossenen Geschichtlichkeit, als ein Werden […], als einen in fortschreitender Bewegung sich bildenden Prozess« zu begreifen (Krauss 1934/1997, 330). Die jüngsten Bestrebungen, die den Ereignischarakter von Theater und anderer Phänomene von Theatralität aus der Zerstreuung sammeln, um sie zu einer »Ästhetik des Performativen« auszuarbeiten (Fischer-Lichte 2004), können umgekehrt das Bewusstsein für den Prozess der Literarisierung der Theaterverhältnisse schärfen. Wolfgang Orlich hat am Beispiel des drame bourgeois gezeigt, dass der Umbau des Theaters zu einem perfekten Illusionsraum beide Seiten verändern muss: den Text wie die Aufführungspraxis. Es geht also darum, die »widersprüchliche Einheit und Veränderung von poetologischer Reflexion des Dramas und Theaterpraxis in ihrem gegenseitigen Bedingungsverhältnis« zu untersuchen (Orlich 1984, 432). Für den »Stückeschreiber« Brecht ist das Schreiben nur der erste Entwurf; die eigentliche Produktion des Stücks findet auf der Bühne statt.2

Bei der Suche nach einem Theaterkurs für ihren 12-jährigen Sohn musste Hélène Merlin-Kajman feststellen: »les cours insistent tous sur l’approche ludique du théâtre […], le corps constituant évidemment aux yeux de tous le vecteur d’un épanouissement spirituel. De texte, il est rarement question.« (2005, 13) Ausdrücklich wird den Eltern versichert, dass die Kinder weder mit Molière noch Racine traktiert werden. Es ist, als folgte auf die Privilegierung des Textes die Privilegierung des ›Körpers‹. Die Entgegensetzung von Körper und Text, die letzteren zu einem bloßen »prolongement spontané de cette présence corporelle immédiatement communicative« entwichtigt (ebd., 14), ist freilich auch bewusstloser Ausdruck einer medienvermittelten Wirklichkeit, in welcher der Text als nicht ablösbar von Stimme und Gestus, die sprechenden und gestikulierenden Körper selbst aber vor allem als auf Bildschirme gebannte Phantome wahrgenommen werden. Demgegenüber ist der Theaterkurs, in dem sich wirkliche Körper und Stimmen begegnen, der Sonntag im Alltag der Mattscheibe. Indem die vorliegende Arbeit die Literarisierung der Theaterverhältnisse in ihrer Geschichtlichkeit – und das heißt immer auch in ihrer Bedeutung für die Gegenwart – zu begreifen sucht, könnte sie dazu beitragen, einige der Einseitigkeiten abzubauen, die im Zuge der ›Kulturalisierung‹ und ›Anthropologisierung‹ der Literaturwissenschaften zum neuen Credo geworden sind.

Zivile Helden

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