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II

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Die Theaterverhältnisse in Madrid bieten im 18. Jahrhundert ein ähnliches Bild wie ein Jahrhundert früher in Paris. Zwar war auch in Spanien die Diskussion um die Regeln so alt wie in Frankreich, hatte doch bereits Cervantes den canónigo, der sich nicht dem »confuso juicio del des­vanecido vulgo« unterwerfen wollte, zum Fürsprecher der Regeln gemacht (Don Quijote I, Kap. 48), aber erst im Bündnis mit der absolutistischen Reformbewegung kommt es im 18. Jahrhundert zu jener Konstellation von institutionalisierter Protektion, regelgeleiteter Textproduktion und einer den Text respektierenden Aufführungspraxis, die – wie der canónigo sich wünscht –, den Behörden die Unannehmlichkeit ersparen soll, strafend einzugreifen. Der Wunsch, die Theaterverhältnisse mögen – in selbsttätiger Regie der beteiligten Instanzen (Autoren, Schauspieler und Publikum) – als eine »lícita recreación« zum Besten des Gemeinwesens organisiert sein, ist so deutlich, dass Fritz Fries den Eindruck hatte, man entnehme den Diskussionen im 18. Jahrhundert »nichts Neues« (1964, 277). Es ist auch kein Zufall, dass die Jesuiten keineswegs ästhetische, sondern stets moralische Gründe gegen das Thea­ter mobilisierten (in der Regel den unmoralischen Lebenswandel der Schauspielerinnen – ein ›Argument‹, das noch die antirepublikanische Presse gegen Lorcas Studententheater La Barraca in Anschlag bringt).

Die neoklassische Bewegung könnte also verstanden werden als ein Versuch, das Theater zu rehabilitieren, indem das moralische durch ein ästhetisches Paradigma ersetzt und so eine neue In/Kompetenz-Struktur etabliert wird. Zuständig für die Unterscheidung von richtigem und falschem Theater sind dann nicht mehr Kleriker, sondern die Neoklassizisten selbst, als Spezialisten für die Interpretation der in diesem Bereich geltenden Regeln. Wie die französischen Vertreter der doctrine classique stützten sie sich auf die Autoritäten der Antike. Dass sie selbst es sind, die diese Regeln allererst »erfinden«, ist weniger wichtig als der Versuch, der bestimmten Regelhaftigkeit Anerkennung zu verschaffen. Ihre Durchsetzung definiert ein neues Terrain der Auseinandersetzung: Es genügt nicht mehr, das Theater in toto als Erregung unsittlicher Leidenschaften zu verdammen, sondern die neue Differenz zu respektieren, diejenige zwischen dem schlechten und dem guten Theater, zwischen dem »gusto del vulgo« und dem »buen gusto«. Das neoklassische Paradigma betrifft die Theaterverhältnisse insgesamt: die Textproduktion so gut wie die Aufführung, die Autoren ebenso wie die Schauspieler und die Zuschauer, deren Rezeptionsgewohnheiten durch den neuen »Stil« enttäuscht werden und die sich deshalb auf das neue Theater nicht einlassen. Die Erfolge Moratíns sind die Ausnahme.

Vom Standpunkt der Neoklassiker erscheinen die Theaterverhältnisse bestimmt durch eine chaotische Ansammlung unregelmäßiger Stücke, über deren Erfolg ein ungebildetes Publikum entscheidet. Indes findet sich ›Aufklärung‹, wie Jorge Campos gezeigt hat, auch auf der Seite der von den neoclasicistas im Namen ihres ästhetischen Kanons bekämpften Werke eines Comella oder Francisco Durán, die die neue bürgerliche Arbeitsmoral vertreten. Ist, was vom Standpunkt der neoclasicistas als hoffnungslose Traditionsgebundenheit des »vulgo« erscheint, nicht gerade das Fundament einer Haltung, die nicht klein beigibt? Bedeutet, was sich als bloßes »Festhalten« am Alten darstellt (Krömer 1968, 34), nicht auch Protest gegen eine Elite, deren Bevormundung man sich nicht gefallen lässt? Ähnlich wie in Deutschland die Frontstellung gegen die französische Tragödie der ins Kulturelle gebannte Protest gegen eine französisch parlierende, selbstherrlich agierende aristokratische Oberschicht war? Die spanische Aufklärungsbewegung glaubte im Neoklassizismus die Muster und Formen des kulturellen Zements zu besitzen, mit dem sich der neue geschichtliche Block formieren konnte. Dieser Zement verlor mit dem Ankommen jenseits der Pyrenäen seine Bindekraft. Die Achse Intellektuelle/Volk kommt nicht zustande, weil in Spanien – anders als in Frankreich – das neue Theater sich nicht als Bewegung für eine neue Welt- und Lebensauffassung zu akkreditieren vermag. Fritz Rudolf Fries, der vom Misserfolg der neoclasicistas überzeugt ist, meint jedenfalls, dass dieser nicht auf »ästhetische Ursachen« zurückgeführt werden darf. Dass die Reform nicht gelang, darin will Fries überhaupt einen Schlüssel sehen für das »Versagen der Aufklärung in Spanien«, die scheitern musste, »solange sie nur in den Köpfen einzelner« existierte und »nicht von der historisch vorbereiteten Situation getragen« wurde (1964, 286). Was die Massen ergriff, das seien die Vorstellungen von Spaniens Ruhm und Größe gewesen, einer Vorstellungswelt, der die Stilgrenzen nicht standhielten.

Andererseits ist die neoklassizistische Theaterreform im Bündnis mit der Aufklärung doch auch eine kulturelle Tatsache. Wo immer auf dieser Linie erfolgreiche Stücke geschaffen wurden und man die Kraft zur Veränderung der Theaterpraxis aufbrachte, war weniger Konformität mit der poetischen Theorie der Grund, als vielmehr die Gestaltung von aus der spanischen Geschichte genommenen Stoffen. Selbst ein radikaler Neoklassizist wie Montiano fesselte das Theater an die »Historie […], aus der es Luzán befreien wollte« (Krömer 1968, 90). Indem die spanische Tragödie ihre Themen der nationalen Geschichte entnimmt (vgl. Caso González 1972, 28), wird die Bühne aufnahmefähig für die Darstellung von Möglichkeiten und Formen des Zusammenlebens; »auch als Tragödienautoren wollen sie […] als veränderbar erweisen, was lange als schicksalhaft verstanden wurde, und so setzen sie der blind waltenden fortuna der Geschichte die virtus des bewusst handelnden Menschen […] entgegen« (Lope 1992, 273). So bringe etwa García de la Huertas Raquel die »Notwendigkeit des kontrollierten Aufbegehrens gegen einen unfähigen Herrscher« auf die Bühne: das kontrollierte Aufbegehren ist nicht nur Einengung, Begrenzung, ein Sich-Bescheiden im Gegebenen, sondern eben auch Ermöglichung, Probehandeln, letztlich Einübung von Politikfähigkeit auf Seiten der Subalternen. Es ist, als deute diese Orientierung an Geschichtlichkeit mehr nach England oder Deutschland7 als nach Frankreich. Indes ist die dort erfundene weinerliche Komödie ein Genre, das in Spanien im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts große Erfolge feiert. Ausgerechnet Luzán, der dem Neoklassizismus das theoretische Brevier geschrieben hat, ist vom Erfinder des Genres, Nivelle de la Chaussée, so beeindruckt, dass er dessen Le préjugé à la mode übersetzt. Was Luzán theoretisch bekämpft, die Vermischung von Komödie und Tragödie, die ernsthafte Darstellung alltäglicher Begebenheiten, begeistert ihn praktisch: ein Werk, das mit der klassischen Entmischung der Genres gerade bricht. Die Personen, die bei Moratín auftreten, sind denn auch weder Könige noch Leute vom Dorf, sondern Stadtbewohner, die wesentlich der »clase media« entstammen.

Wenn Spanien als ›Land ohne Aufklärung‹ von der politischen Rechten lange Zeit positiv akzentuiert werden konnte, so deshalb weil die neue Achse Intellektuelle / Volk tatsächlich nicht zustande gekommen war und die Aufklärung als Bruch mit den Traditionen des Volkes präsentiert werden konnte – eines »Volkes«, dessen Begriff selbst traditionalistisch war und in der Vorstellung einem natürlichen Gewächs näher stand als dem aufklärerischen Begriff einer sich zum Souverän konstituierenden politischen Körperschaft. Die Voraussetzung eines Zusammenkommens von popular-nationaler Tradition und Aufklärung ist die Republik. Die Erfahrung von García Lorcas Theaterunternehmen gewinnt von daher eine paradigmatische Bedeutung.

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