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Nach dem Untergang des mittelalterlichen Spielmanns waren die Schauspieler die wichtigsten Handlungsträger einer profanen Kultur der Mündlichkeit. Daher bietet gerade das Theater vielfältiges Anschauungsmaterial, um den Einschnitt, der die Mündlichkeit von der Schriftlichkeit trennt, in den Blick zu bekommen. Kein Zufall, dass der »Autor« auf diesem Gebiet über Jahrhunderte ein kümmerliches Dasein gefristet hat, allenfalls dem heutigen Drehbuchautor vergleichbar, der neben den Stars auf der Leinwand verblasst. Erst wenn der Text neben die Aufführung tritt und sich Respekt zu verschaffen versteht, erscheint das Theater als doppeltes Medium, das unterschiedlichen kulturellen Logiken gehorcht: Die Aufführung, Element einer Kultur der Mündlichkeit, kann in Widerspruch treten zum Text, der die Zuständigkeit des »Autors« und der »Gelehrten« überhaupt reklamiert und dessen Terrain die Schriftlichkeit ist. Das gilt auch für die Seite der Rezeption. Der Zuschauer hört, sieht und ist stets einer von vielen; der Leser ein Einzelner, auch wenn er seinem Geschäft im überfüllten Lesesaal einer modernen Bibliothek nachgeht, deren Geräuschkulisse ihm die abgeschiedene Studierstube als ein höchstes Gut erscheinen lässt. Die Kollektivität des Theaterzuschauers war über Jahrhunderte ein selbstverständliches Element seines Daseins, in dem sich sein Geschmack, seine Wünsche und Gewohnheiten bildeten. Erst die Modellierung der Aufführung durch den Text, der Umbau der Bühne zur vierten Wand, die Aufspaltung der zuschauenden Menge in einzelne Zuschauer – ihre Individualisierung – mittels Beleuchtung und Bestuhlung rückt die Rezeption im Theater in die Nähe der sinnverstehenden Aktivität des einsamen Lesens.

An der Querelle du Cid, die im Anschluss an die Aufführung von Corneilles Tragikomödie Le Cid 1637 die Anhänger des gespielten Stückes und die Kritiker des gedruckten Textes einander entgegensetzt, lässt sich der Vorgang exemplarisch studieren. Aufführung und Text treten antagonistisch auseinander und machen bewusst, dass eine Literaturwissenschaft, die sich für das Theater nur als Text – d. h. als Medium der Gebildeten, der »république des lettres« – interessiert, reduktionistisch verfährt. Die vielfach praktizierte kulturwissenschaftliche Erweiterung der Literaturwissenschaft gewinnt auf diesem Terrain einen präzisen Sinn: Das materielle Dispositiv der Aufführung – öffentlicher Platz oder geschlossener Raum, die architektonische Gliederung in Bühnen- und Zuschauerraum, die Zerlegung des letzteren in verschiedene Zonen (Parterre, Logen, Sitzplätze auf der Bühne) – bestimmt eine Wirkung, die dem in Gestalt der »doctrine classique« installierten Regulationsmodus ästhetischer Produktivkraft in die Quere kommen kann: Den Zuschauern gefällt, was die Doktrin verurteilt und der Gelehrte, der sich in seiner Studierstube über den Text beugt, aufs Prokrustesbett der Poetik spannt.

Der Aufschwung der dramatischen Literatur im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts in Frankreich, dessen vorläufigen Höhepunkt der Cid markiert, schien im Widerspruch zum Fehlen eines festen Theaters in Paris zu stehen (Mongrédien 1966, 47). Diese Auffassung vergaß den Abgrund, durch den die Kulturen der Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die Volkskultur und die humanistische Kultur einer an der Antike orientierten Gelehrsamkeit voneinander getrennt waren.3 Von diesem Standpunkt, für den feststeht, dass der Cid den Ausgangspunkt der klassischen Literatur bildet, stellt sich die Seite der Aufführung als defizient dar – nicht zu Unrecht, wenn man die Aufführung als bloße Applikation des Textes unterstellt. Davon geht auch Voltaire aus, wenn er immer wieder beklagt, dass in Frankreich zwar exzellente Theaterstücke geschrieben wurden, aber die materiellen Bedingungen fehlen, die ­ihnen Geltung verschaffen könnten.4 Was nützen die besten Verse, solange die petits-maîtres auf der Bühne ihnen den Respekt versagen? Die vorliegende Arbeit macht daher die Entstehung einer bestimmten Anordnung von Aufführung und Text zum Gegenstand. Die Zentralstellung des Textes, in seiner doppelten Gestalt als Lehre und Einzelwerk, ist als Vorgang der Literarisierung der Theaterverhältnisse zu untersuchen und in seinen Folgen für die Kämpfe um die kulturelle Hegemonie im Ancien Régime zu beurteilen.

Aber es ist nicht nur das Verhältnis von Aufführung und Text, die kulturellen Logiken von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, welche die Schauspieler den Autoren, die Kritiker den Zuschauern usw. entgegensetzt. Die Medien der Mündlichkeit und Schriftlichkeit bilden keineswegs kulturell homogene Räume. Wie das Lesen Element einer popular-kollektiven5, nicht nur einer gelehrt-individualistischen6 Kulturpraxis sein konnte, so umgekehrt das szenische Spiel Element einer abgeschotteten Gelehrtenkultur (Jesuitentheater). Was als Höhepunkt der deutschen Literatur gilt, kann seine Herkunft aus der Popularkultur nicht leugnen: Schon Hermann Reich hat bemerkt, dass in Goethes Faust, den der Dichter als Puppenspiel kennengelernt hat, »die alte Mischung der Sprache des Volkes und der Vornehmen« lebendig geblieben ist (1903, 883). Die Verbreitung der mündlich vorgetragenen Romanzen in losen Blättern (pliegos sueltos) oder in billigen Sammlungen (pliegos de cordel), die man bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts an Kiosken in Madrid – neben Feuerzeugen, Schnürsenkeln, Schuhcreme und anderen Dingen des Alltags – wohlfeil erwerben konnte (vgl. Caro Baroja 1969/1990, 13), stellte ihren popularen Charakter durchaus nicht in Frage. Erst vom Standpunkt einer ideologischen Ordnungsmacht wie der Inquisition, die die Reinheit der Lehre gegen unzulässige Vermischungen repräsentiert, stellt sich die Weltauffassung eines Müllers um 1600 als »explosive Mischung« von »schriftlichem Text und mündlicher Kultur« dar (Ginzburg 1983, 84). Die unzulässige Mischung ist nichts, was unabhängig von solcher Intervention existieren würde.

Die Schauspieler können mit den Zuschauern, die Textproduzenten mit den befugten Interpreten der in der »doctrine classique« verfügten Ordnung der Dinge in Konflikt geraten. Der Streit um den Cid bringt auch dieses Moment ins Bild und macht deutlich, dass mit der Formierung einer Lehre die Frage, wie der Raum des Ästhetischen von den Textproduzenten genutzt wird, keineswegs ein für alle Mal entschieden ist, im Gegenteil: Die Formierung eines Jenseits literarischer Werthaftigkeit, aus dem konkrete Regulationen der Schreibpraxis abgeleitet werden, stellt die Auseinandersetzungen nicht still, sondern zwingt sie in eine bestimmte Form. Gelungene ästhetische Handlungsfähigkeit beziffert sich nunmehr darauf, die eigenen Produkte als mit dem Jenseits der Werte kompatibel zu erweisen. Wie der durch den ästhetischen Regulationsmodus der doctrine classique bestimmte Raum von den Textproduzenten genutzt wird, steht nicht fest. Auch dort, wo die Theorie präskriptiv auftritt und bestimmte Formen mit besonderer Autorität ausstattet, ist eine Dialektik von Zwang und Ermöglichung am Werk: In der Zeit vor und während der Französischen Revolution erlebt die klassizistische Tragödie einen Aufschwung und wird zum »Vehikel revolutionär-patriotischer Ideologie« (Rieger 1984, 1). Freilich war dies nur möglich vor dem Hintergrund der »Herausbildung eines nationalen neben dem klassischen Kanon«, die Franz Walter Müller auf die Generation Dancourts beziffert (1959, 123).

Diese Dialektik wird verfehlt, wenn man einerseits die »Institutionalisierung der doctrine classique« als »das Resultat eines höfisch-­absolutistischen Kulturprogramms« fasst (Bürger 1979, 56), andererseits ihre Wirkung auf die Befreiung »von der Abhängigkeit von fremden Gesetzlichkeiten« reduziert (Sick 1993, 262). Die Formierung eines nach eigenen Gesetzen organisierten Reiches der Kunst bedeutet ja durchaus keine Stillstellung der Kämpfe, keine ideale Unabhängigkeit von Politik, Moral, Philosophie oder wie immer man die auf dem »neuen diskursiven Feld« (Sick) intervenierenden ideologischen Mächte bezeichnen will, sondern eher eine neue Form der Auseinandersetzung, deren Logik die Akteure, wenn sie erfolgreich sein wollen, sich aneignen und bedienen müssen. Américo Castros Beobachtung, dass mit der aristotelischen Abspaltung der Dichtung von der Geschichte eine Position gewonnen war, von der aus die Gegenreformation ihre moralischen Vorstöße ins Reich der Kunst bestens organisieren konnte, ist ebenso triftig wie die dazu kongruente Beobachtung, dass das Ideal stets in Gefahr war, »den Abhang des Komischen« (la vertiente de lo cómico, Castro 1925/1972, 28 u. 30) hinuntergestürzt zu werden. Daher das Interesse der vorliegenden Arbeit an der Frage, wie die Installierung des in der ›doctrine classique‹ repräsentierten Wertehimmels als verbindliches – und daher viele verbindendes – Bezugssystem die Logik der kulturellen Kämpfe bestimmt. Bourdieu hat dafür den Sinn geschärft: Dass das Feld der kulturellen Produktion stets als ein »Ort von Kämpfen« zu begreifen ist, der keine endgültigen Grenzverläufe kennt, auch nicht in Gestalt der ›Autonomie‹, die als historisch bestimmte Form zu fassen ist, in der diese Kämpfe ausgetragen werden (Bourdieu 1997, 57).

Zwischen den Antagonisten existieren keine chinesischen Mauern. Im Handgemenge sind sie oft nicht deutlich zu unterscheiden. Das Feld selbst und die in ihm akkreditierten Maßstäbe stehen immer wieder neu zur Disposition. Das wird exemplarisch an den Einschnitten und Umbrüchen deutlich, die – wie die Querelle du Cid – blitzartig die Szene beleuchten. Die Rekonstruktion der Perspektive »von unten« ist dabei ein schwieriges Unterfangen. Da die subalternen Klassen kaum Dokumente hinterlassen haben, die für eine auf literarische Formen angewiesene Geschichtsschreibung verwertbar sind, dominiert wie selbstverständlich der Blick vom Standpunkt der gelehrten Kultur. Selbst ein Lope de Vega, der Verfasser hunderter von Stücken im Geist und Geschmack des »vulgo«, scheint sich dort, wo er über Theater theoretisch handelt, in einen »poeta doctus« (Ingenschay 1988, 213) zu verwandeln, der seine eigene Produktion an den Wertetafeln der humanistischen Tradition misst und sie als »escritos bárbaros« verdammt (Arte nuevo).

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