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(4) Die Hattie-Studie: Orientierung im bildungspolitischen Dschungel

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Seit 2009 erregt das Werk des Neuseeländers John Hattie weltweit großes Aufsehen in der Bildungsdiskussion. Dazu titelt Martin Spiewak in DIE ZEIT: „Ein neuer Name geht um in der Pädagogik. Man liest Aufsätze und hört ihn in Vorträgen. Einige der wichtigsten deutschen Schulforscher kommen ohne ihn nicht mehr aus. Und schon bald, das sei prophezeit, werden es alle sein. Vom 'Hattie-Faktor' und vom 'Hattie-Ranking' ist die Rede. Und man fragt: 'Was steht bei Hattie dazu?'“40

John Hatties Werk

John Hattie ist Bildungsforscher und Professor an der Universität von Melbourne. Sein Buch „Visible Learning“, das man sinngemäß etwa mit „Sichtbare Lernprozesse“ übersetzen könnte, hat die pädagogische Welt elektrisiert. Denn das Werk hat den Anspruch, die wichtigste Frage aller Bildungsforschung umfassend zu beantworten: Was ist guter und effektiver Unterricht?41

Gerade hinsichtlich pädagogischer Fragen wird eine Untersuchung nur dann wirklich ernst genommen, wenn sie den Anspruch von Wissenschaftlichkeit zweifelsfrei erfüllt. Offensichtlich ist dies John Hattie überzeugend gelungen, ja er wird mittlerweile als internationale Größe in Bildungsfragen verehrt. In der Bildungsbeilage der englischen Times wird er als „wohl einflussreichster Bildungswissenschaftler der Welt“ bezeichnet, andere stellen seine Forschungsergebnisse in Visible Learning mit den Untersuchungen von „Pisa“ auf eine Stufe, ja selbst in kritischen Artikeln zu Bildungsthemen wird gefragt: „Hat John Hattie tatsächlich den Heiligen Gral der Schulforschung gefunden?“42 Was hat Hattie gemacht, dass er solch ein Aufsehen in der Bildungsforschung erregen konnte? Dazu nochmals Martin Spiewak in DIE ZEIT:

„John Hattie tat, was vor ihm noch niemand versucht hatte: sämtliche englischsprachigen Studien weltweit zum Lernerfolg zu sichten, zu gewichten und zu einer großen Synthese der empirischen Unterrichtforschung zusammenzuführen. Mehr als 800 Metaanalysen wertete er dafür aus, also jene Art von Untersuchungen, die verschiedene Studien zu einem Thema zusammenfassen, sei es zu Hausaufgaben oder Förderunterricht, zum Vokabellernen, zur Elternarbeit oder zum Sitzenbleiben.

Aus diesen Metaanalysen erstellte er mit dem Handwerkszeug des Statistikers eine Megaanalyse, in der mehr als 50.000 Einzeluntersuchungen mit 250 Millionen beteiligten Schülern eingeflossen sind. Für die verschiedenen Unterrichtsmethoden und Lernbedingungen errechnete Hattie dann einen Erfolgsfaktor, Effektstärke genannt. Anderthalb Jahrzehnte benötigte der Forscher für seine Fleißarbeit. Am Ende erstellte Hattie eine Art Bestenliste der wirkungsvollsten pädagogischen Programme.“43

Um seinem Werk eine notwendige Systematik zu geben, ordnete Hattie seine Forschungsergebnisse sechs Bereichen – sogenannten „Domänen“ – zu: Lernende, Elternhaus, Schule, Lehrperson, Curricula (Lehrpläne der einzelnen Fächer), Unterrichten. Diese Bereiche sind wiederum in verschiedene „Einflussfaktoren“ unterteilt, insgesamt 138, die Hattie jeweils mit der oben genannten „Effektstärke“ bewertete und auf diese Weise ein Ranking der (Einfluss)Faktoren erstellen konnte. Sie geben einen wirklich interessanten Hinweis darauf, welche von ihnen für sich genommen das Lernen hemmen und welche es fördern. Dazu gleich mehr. Doch zunächst sollen einige solcher typischen Einflussfaktoren auf die Bildung genannt werden, die Hattie gefunden hat:

 Kreativität, Schülerpersönlichkeit, Motivation oder Konzentration, Ausdauer und Engagement der Kinder (Domäne „Lernende“);

 Familienstruktur, Sozioökonomischer Status, Fernsehen oder Elternunterstützung beim Lernen (Domäne „Elternhaus“);

 Schulleitung, Schulgröße, Inklusive Beschulung oder Klassenzusammenhalt (Domäne „Schule“);

 Fachkompetenz, Lehrerbildung, Klarheit der Lehrperson oder Lehrer-Schüler-Beziehung (Domäne „Lehrperson“);

 Leseförderung, Werte- und Moralerziehung, Vokabel- und Wortschatzförderung oder Outdoor-/Erlebnispädagogik (Domäne „Curricula“);

 Ziele, Lerntechniken, Freiarbeit, Individualisierung, Feedback, Forschendes Lernen oder Problemlösen (Domäne „Unterrichten“).

Die beiden Herausgeber der deutschsprachigen Übersetzung von Visible Learning („Lernen sichtbar machen“), Wolfgang Beywl und Klaus Zierer, erklären die „Effektstärke“, die das zentrale statistische Vergleichsmaß schlechthin in Hatties Werk ist, so: „Diese bezeichnet die Intensität des Zusammenhangs zwischen dem jeweiligen Faktor und den Lernleistungen oder Outcomes der Lernenden.“44

Die beiden Bildungsforscher versuchen in der Einleitung ihrer Übersetzung von Hatties Buch ins Deutsche die ganze Aufregung über Hattie zu versachlichen und den Autor („Messias der Bildungsforschung“) und sein Werk („Der Heilige Gral der Bildung“) von überhöhten Vergleichen zu befreien. Gleichzeitig warnen sie vor einer vorschnellen und oberflächlichen Interpretation der Ergebnisse der Hattie-Studie in der deutschsprachigen Bildungsdiskussion. Die Gefahr liegt vor allem darin, von Hatties „Rangliste der Faktoren“ unmittelbar auf zu ergreifende

(Reform)Maßnahmen zu schließen.45

Die Effektstärken in Hatties Vergleichstabelle der 138 Einflussfaktoren auf den Lernerfolg („Outcomes“) der Schüler reichen von 1,44 bei der „Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus“ der Schüler (1. Platz) bis zu – 0,34 beim Thema „Schulwechsel“ (138. Platz). Von den 138 Faktoren, in manchen Medien auch „Hattie-Faktoren“ genannt, haben 133 eine leicht bis stark positive Effektstärke, wobei aber lediglich zwei Faktoren über dem Wert von 1,0 liegen; nur fünf haben einen explizit negativen Effekt. 131 Einflussfaktoren und damit die große Mehrheit von ihnen weisen somit eine Effektstärke von 0,0 bis 1,0 auf.46

Erstaunliche Ergebnisse der Hattie-Studie

Lieber Leser, es lohnt, sich mit der Hattie-Studie genauer zu beschäftigen, um sich von dem ganzen gegenwärtigen Hype um Schulreformen nicht verrückt machen zu lassen und um mehr Klarheit in bildungspolitischen Fragen zu bekommen. Dafür kann die Studie tatsächlich aufschlussreiche Informationen liefern. In meinem Buch möchte ich jedoch nur drei Aspekte daraus etwas näher betrachten:

 Welcher Einflussfaktor hat die größte Effektstärke?

 Welche Einflussfaktoren haben eine eher geringe Effektstärke?

 Welche Bedeutung hat der Lehrer für den Lernerfolg seiner Schüler?

Der Einflussfaktor mit der größten Effektstärke:

Die Hattie-Studie stellt fest, dass die Lernenden sehr gute Kenntnisse bezüglich der Einschätzung ihrer eigenen Leistung und ihrer Erfolgschancen haben. Dazu erläutert Hattie näher: „Auf der einen Seite zeigt dies ein bemerkenswert hohes Maß an Vorhersagbarkeit bezüglich der Leistungen in der Klasse ... Auf der anderen Seite können diese Erfolgserwartungen (die manchmal niedriger sind als das, was Lernende tatsächlich erreichen könnten) auch zu einem Hindernis für manche Lernende werden, da diese dann möglicherweise nur noch das Maß an Leistung zeigen, das ihrer eigenen Erwartung an ihre Leistungsfähigkeit entspricht.“47 Dass die systematische Selbsteinschätzung der Schüler, was sie fachlich können, in Hatties Rankingliste die höchste aller untersuchten Effektstärken bekam, sollte uns Pädagogen zu denken geben.

Dazu passt auch der Einflussfaktor „Feedback“ (Platz 10 der Rangliste) auf ein erfolgreiches Lerngeschehen. Denn es ist am wirkungsvollsten, wenn es nicht nur vom Lehrer an die Schüler, sondern umgekehrt von den Schülern an den sie unterrichtenden Lehrer gegeben wird.48 Wir Pädagogen sollten also der Rückmeldung unserer Schüler in Zukunft viel Aufmerksamkeit widmen und neben unserer eigenen auch ihrer Einschätzung bezüglich des Unterrichtsgeschehens mehr vertrauen. Außerdem sollte die Persönlichkeitsentwicklung unserer Schüler stets im Mittelpunkt stehen, die das Selbstbewusstsein im Allgemeinen und eine solche Fähigkeit zur Selbsteinschätzung im Besonderen fördern kann.

Einflussfaktoren mit eher geringer Effektstärke:

Die größte Sprengkraft von Hatties Studie liegt aber in einer Reihe anderer Erkenntnisse. Dazu nochmals Martin Spiewak in DIE ZEIT:

„Denn diese stehen geradezu quer zur bildungspolitischen Debatte in vielen Ländern. 'Wir diskutieren leidenschaftlich über äußere Strukturen von Schule und Unterricht', kritisiert Hattie. 'Sie rangieren aber ganz unten in der Tabelle und sind, was das Lernen angeht, unwichtig.'

So hat die finanzielle Ausstattung einer Schule nur wenig Einfluss auf den Wissensgewinn ihrer Schüler. Ähnlich verhält es sich mit der Reduzierung der Klassengröße, der Lieblingslösung der Lehrerschaft für Probleme jeder Art. Kleine Klassen kosten zwar viel Geld, bleiben in puncto Lernerfolg aber weitgehend ertraglos. Auf Hatties Ranking landet die Klassengröße auf Platz 106 ...

Das dürfte sparbewusste Politiker erfreuen. Wenn sie jedoch Hattie genau lesen, muss ihnen anders werden. Denn der Forscher erklärt ihr Handeln für weitgehend wirkungslos. Von außen nämlich, das legt die von ihm angeführte Empirie nahe, lassen sich bessere Lernergebnisse nicht organisieren; ganz sicher nicht in ein oder zwei Legislaturperioden. Solange Bildungspolitik nur die Oberfläche von Schule erreicht, nicht aber die Tiefenstruktur verändert – also den konkreten Unterricht –, geht sie ins Leere.“49

Bleibt noch nachzutragen, dass in Hatties Rangliste „Förderklassen für Hochbegabte“ Platz 87, die in Mode gekommene „Inklusive Beschulung“ Platz 92, die vielbeschworene „Individualisierung“ (jeder Schüler hat sein eigenes Lerntempo) nur Platz 100, „Umfassende Unterrichtsreformen“ Platz 105, das „Co-Teaching“ (zwei Lehrer in einer Klasse) Platz 111, „Webbasiertes Lernen“ (Nutzung des Internets) Platz 112, das Unterrichten in „Jahrgangsübergreifenden Klassen“ lediglich Platz 131, sowie „Freiarbeit“ Platz 132 einnehmen, um nur einige Einflussfaktoren auf den Unterrichtserfolg zu erwähnen. Dabei ist bei den beiden letztgenannten Faktoren zu sagen, dass sie mit einer „Effektstärke“ von nur 0,04 dem Lernerfolg zwar gerade noch nicht schaden, aber praktisch überhaupt keinen positiven Effekt mehr haben.50 Erwähnenswert ist noch, dass selbst der computergestützte Unterricht, auf den so viele Bildungsreformer größten Wert legen und in dem sie „den“ Unterricht der Zukunft sehen, nur Platz 71 auf der Skala der 138 Einflussfaktoren hat.

Die Bedeutung des Lehrers für den Lernerfolg seiner Schüler:

Sehr interessant ist, was die Hattie-Studie mit ihrem ganzen „Datengebirge“ bezüglich der Rolle des Lehrers für einen erfolgreichen und effektiven Unterricht zu Tage gefördert hat. Hatties zentrale Botschaft: „Was Schüler lernen, bestimmt der einzelne Pädagoge. Alle anderen Einflussfaktoren – die materiellen Rahmenbedingungen, die Schulformen oder spezielle Lehrmethoden – sind dagegen zweitrangig. Auf den guten Lehrer kommt es also an.“51 Nun könnte man einwenden: Das ist doch ein alter Hut, das weiß doch jeder, das klingt doch banal. Doch offensichtlich läuft diese Binsenweisheit heute an vielen Bildungspolitikern und Kultusbehörden vorbei, die meinen, laufend etwas Neues, Anderes, vermeintlich Besseres oder Tolleres präsentieren zu müssen. Dies geht oft zu Lasten der Lehrer, die ihre professionelle und qualifizierte Arbeit machen wollen und der Schüler, die sich nicht selten als Versuchskaninchen vorkommen müssen. Martin Spiewak spricht mir aus der Seele, wenn er dazu bemerkt:

„Warum glaubt die Politik noch immer, Lernergebnisse mit Strukturreformen verbessern zu können? Wieso blüht gerade in der deutschen Schuldebatte ein Methodenglaube? Und wie kommt es, dass ausgerechnet Pädagogen ihre Bedeutung kleinreden? … Hatties Forschungsergebnisse dementieren solche Einflusslosigkeit (der Lehrer, Anmerkung d. A.). Gleichzeitig widerspricht er allen Ansinnen, den Lehrer im Unterricht zu marginalisieren. Für Hattie darf ein Lehrer kein bloßer Lernbegleiter sein, kein Architekt von Lernumgebungen. Will er etwas erreichen, muss ein Lehrer sich vielmehr als Regisseur verstehen, als 'activator', der seine Klasse im Griff und jeden Einzelnen stets im Blick hat.“52

Die Hattie-Studie liefert hierzu ein klares Bild, was den Einfluss des Lehrers auf den Lernerfolg bei seinen Schülern betrifft: In der Hattie-Rangliste nehmen die „Klassenführung“ immerhin Platz 42, die „Direkte Instruktion“ Platz 26, die „Lehrer-Schüler-Beziehung“ Platz 11 (!) und die „Klarheit der Lehrperson“ sogar Platz 8 (!) ein.

Die „Direkte Instruktion“ darf jedoch nicht mit dem Lehrermonolog des häufig kritisierten herkömmlichen „Frontalunterrichts“ verwechselt werden. Hattie versteht darunter vielmehr die leitende und steuernde Rolle eines guten Lehrers, der über ein breites Repertoire von Unterrichtsstilen und Methoden verfügt, die er je nach Klasse einsetzt, ausprobiert, überprüft und wieder verwirft, wenn sie nicht zur Klasse passen.

Dazu gehört auch eine stringente Klassenführung. „Ein guter Lehrer darf keine Zeit mit unwichtigen Dingen verschwenden, und er muss rasch erkennen, wann er auf eine Störung mit Strenge und wann er mit Humor reagiert. Noch höher auf der Hattie-Skala rangiert die 'teacher clarity', dass Schüler also verstehen, was der Lehrer von ihnen will. Beide Erfolgsbedingungen für einen gelungenen Unterricht werden stark unterschätzt.“53

Schließlich kommt Hattie nach Auswertung vieler Untersuchungen bezüglich des Verhältnisses zwischen Lehrern und Schülern zu folgendem Ergebnis: „Die Wirkfähigkeit der positiven Lehrer-Schüler-Beziehung ist entscheidend dafür, dass Lernen stattfinden kann. Zu dieser Beziehung gehört, dass den Lernenden gezeigt wird, dass den Lehrpersonen ihr Lernen als Schülerinnen bzw. Schüler wichtig ist ... Dann werden die Kräfte zur Entwicklung eines wärmeren sozio-emotionalen Klimas im Klassenzimmer, das fördernde Bemühen und damit das Engagement für alle Lernenden aktiviert.“54

Damit soll aber nun der kühle Blick des Statistikers Hattie auch wieder verlassen werden. Immerhin kann er dazu beitragen, dass in der gegenwärtigen Bildungsdebatte die „Kirche im Dorf“, das heißt der Lehrer im Klassenzimmer gelassen und die Struktur- und Methodenreformen wieder dahin gestellt werden, wo sie hingehören: an die Peripherie des Unterrichts. Die Hattie-Studie, die nur die Einflussfaktoren auf die reine Wissensvermittlung untersucht hat, macht bereits klar, dass das Entscheidende im Unterricht über die Beziehung zwischen dem Lehrer und seinen Schülern geschieht.

Noch wichtiger ist diese Beziehungsebene jedoch, wenn es um die Entwicklung der Persönlichkeit der Schüler, um ihre Charakterbildung und Werteerziehung geht – gerade und vor allem in der Pubertät. Dazu sagt die Hattie-Studie nichts explizit. Vor dem Hintergrund dieser Aufgabe darf die Klassenstärke nicht zu groß sein, die bezüglich der reinen Wissensvermittlung nach Hattie noch keine so wichtige Rolle spielt. Damit beide Ziele – Wissensvermittlung und Begleitung bei der Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen – erreicht werden können, wird eine starke und gefestigte Lehrerpersönlichkeit vorausgesetzt. Dass sich diese aber auch erst selbst entwickeln und dann immer weiter entfalten und im Alltag des Klassenzimmers bewähren muss, soll im folgenden Kapitel am Beispiel des eigenen Werdegangs als Pädagoge exemplarisch aufgezeigt werden.

Schule – quo vadis?

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