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Einleitung

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Wenn ich das Referendariat mit einbeziehe, dann bin ich jetzt, da ich dieses Buch schreibe, seit 34 Jahren ohne Unterbrechung als Lehrer an staatlichen Gymnasien in Bayern tätig. Und wenn man will, könnte man dies so ausdrücken: Seit 34 Jahren bin ich „an der pädagogischen Front“ im Einsatz. Im Rückblick auf diese lange Zeit kann ich sagen: Ich bin noch immer gerne Lehrer und habe die meiste Zeit auch gerne unterrichtet. Das pädagogische Feuer, das man unbedingt braucht, um heute vor großen Klassen bestehen zu können und nicht frustriert zu werden, lodert noch immer in mir.

In Deutschland sind die weiterführenden staatlichen Schulen „Mainstream-Schulen“, da die meisten Eltern ihre Kinder in genau diese Schularten schicken. Ich persönlich halte unser gegenwärtiges Schulsystem trotz der sehr aufgeregten bildungspolitischen und gesellschaftlichen Dauer-Diskussion auch im internationalen Vergleich grundsätzlich für geeignet, den Kindern und Jugendlichen das Wissen zu vermitteln, das sie für die Erfordernisse unserer heutigen Bildungsgesellschaft in einer globalisierten Welt benötigen.

Ich selbst würde mich einerseits als „konservativen Lehrer“ in einem wörtlichen Sinne bezeichnen, der das, was sich beim jahrzehntelangen Unterrichten bewährt hat, erhalten und weitergeben will. Ich bin etwas skeptisch, wenn in immer kürzerer Taktung wieder eine „neue pädagogische Sau“ durchs „Schul-Dorf“ getrieben wird, von der es heißt, sie würde alle Schulprobleme schnell beseitigen oder „die“ Lösung für einen exzellenten Unterricht bringen. Im Rückblick betrachtet gab es aber drei entscheidende Entwicklungen, die mich zwangen, meinen Standpunkt als Lehrer in seinen Grundlagen neu zu überdenken. So gesehen halte ich mich persönlich auch für einen fortschrittlichen, suchenden und „progressiven Pädagogen“.

Die erste dieser Entwicklungen wurde in mir zu einer Zeit ausgelöst, in der am Gymnasium bildungspolitisch gesehen noch relative Ruhe herrschte. Denn vor 20 Jahren wurde mir in einer Lehrerkonferenz schlagartig bewusst, dass ich motivationslos und krank werden könnte, wenn ich nicht sofort etwas für mich selbst unternehmen und meine Lehrerpersönlichkeit entscheidend weiterentwickeln würde. Und so begann ich 1995 mit der ersten meiner drei Zusatzausbildungen, die sich dann über 15 Jahre hinweg erstreckt haben:

 zum Lehrer für Gruppendynamik nach der Methode der „Themenzentrierten Interaktion“ (TZI) nach Ruth Cohn;

 zum Supervisor an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München, einem Institut, das nach dem Standard der Deutschen Gesellschaft für Supervision (DGSV) ausbildet;

 und zum Initiations-Mentor in der Tradition der nordamerikanischen „School of Lost Borders“.2

Diese drei Weiterbildungen haben mich ziemlich verändert – als Mensch und als Lehrerpersönlichkeit. Ja, sie haben mir erst die Augen dafür geöffnet, was in der Schule und beim Unterrichten möglich und für die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler nötig ist. Dafür bin ich auch aus heutiger Sicht noch sehr dankbar. Denn dadurch wurde mein Unterricht viel lebendiger, meine Beziehung zu den Schülern intensiver und, davon bin ich überzeugt, meine Effektivität als Lehrer größer.

Und dann platzte 2001 mit dem sogenannten Pisa-Schock eine bildungspolitische Bombe in das herkömmliche, etwas behagliche und betuliche deutsche Schulsystem, die alles veränderte. Danach war nichts mehr, wie es einmal war. Dies war die zweite wesentliche Entwicklung, die ich als Lehrer erlebte und die diesmal von außen kam. Dazu hieß es unter der Überschrift „Der heilsame Schock“ in ZEIT ONLINE vom 2. Dezember 2011:

„Vor zehn Jahren, am 4. Dezember 2001, schockte die erste Pisa-Studie die deutsche Öffentlichkeit. Denn die Leistungen unserer Schüler im Lesen, in der Mathematik und den Naturwissenschaften erwiesen sich im internationalen Vergleich als unterdurchschnittlich. Noch schlimmer: Jeder vierte 15-Jährige konnte nicht richtig lesen und schreiben.“3

Die Folge dieser Pisa-Studie, die das deutsche Bildungssystem im Allgemeinen und das Gymnasium im Besonderen eher schlecht wegkommen ließ, war, dass mehrere westliche Bundesländer bald darauf und überstürzt das verkürzte, achtjährige Gymnasium einführten, das in den ostdeutschen Ländern bereits die Regel war. Ein entscheidendes Argument zur Verkürzung der Schulzeit bei einer gleichzeitigen Beibehaltung des Abiturniveaus war auch der Druck aus der Wirtschaft. Deutsche Uni-Absolventen sollten in Zukunft, so wie in vielen Vergleichsländern, schon früher, das heißt schon Anfang zwanzig, für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen können.

Infolge dieser Reformen wurden in den einzelnen Bundesländern zudem moderne Unterrichtsmethoden eingeführt, eine neue, vergleichende Aufgabenkultur entwickelt und neue Leitungs- und Führungsmodelle erprobt, so wie sie in Unternehmen üblich sind. Diese gymnasialen Reformen wurden aufgrund des Pisa-Schocks in vielen Bundesländern in der Regel von oben her, das heißt von den zuständigen Kultusministerien, durchgesetzt. Deutschland sollte als Bildungsland, als Land der Ingenieure, der Hochleistungstechnologie und einer modernen Dienstleistungsgesellschaft, fit gemacht werden für eine globalisierte Welt im dritten Jahrtausend. So wurde etwa in Bayern 2003 von der damaligen Landesregierung ganz unerwartet und überstürzt das verkürzte G-8-Gymnasium beschlossen und das bisherige Kurssystem mit Grund- und Leistungskursen aufgelöst.

Diese schnellen Reformen von oben vor allem in den westlichen Bundesländern brachten natürlich große Unruhe bei Lehrern und Schülern, sowie bei großen Teilen der Elternschaft mit sich. Im Stadtstaat Hamburg zerbrach an der Gymnasial-Reform die Landesregierung einer Koalition aus CDU und Alternativer Liste, in Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen wurde das alte G-9-Gymnasium wahlweise wieder eingeführt. Auch das Bayerische Kultusministerium kommt seither nicht mehr ganz zur Ruhe und ringt noch immer um geeignete Nachbesserungen im G-8-Gymnasium.

Die dritte Entwicklung, mit der ich mich als Lehrer auseinandersetzen musste und muss, würde ich als die „digitale Revolution“ bezeichnen, die natürlich auch vor den Schulen nicht halt machen kann und darf. Sie verändert den Schulalltag im Allgemeinen und die Mediennutzung und die damit zusammenhängenden Unterrichtsmethoden im Besonderen permanent mit hoher Geschwindigkeit. Diese Revolution setzte fast zeitgleich mit dem Pisa-Schock ein. Als Beispiele können dazu unter anderem der vermehrte Internet-Einsatz im Unterricht oder die Möglichkeit eines „Internet-Portals“ für die Lehrerkommunikation angeführt werden. Natürlich müssen sich auch wir „alten“ Lehrer diesen digitalen und medialen Herausforderungen stellen. Als ein sehr deutliches Symbol für diese fundamentalen Veränderungen könnten die interaktiven Tafeln, „Whiteboards“ genannt, gelten, die die bisherigen, seit Jahrhunderten bewährten Kreidetafeln ein für alle Mal ablösen.

Dennoch scheint mir in dem ganzen „Hype“ aus gesellschaftlicher Dauerdiskussion um die richtige Struktur des Gymnasiums, neuer technokratischer Schulverwaltungs-Reformen, sowie der durch die digitale Revolution verursachte permanente Veränderungsprozess in den Kommunikationsmitteln, Medien und Unterrichtsmethoden das Entscheidende von Schule und Unterricht immer mehr in den Hintergrund zu geraten: eine Pädagogik des Herzens, die diesen Namen auch verdient.

Ich trauere dem „alten Gymnasium“, das bis zum Hereinbrechen des Pisa-Schocks 2001 in westlichen Bundesländern existierte, nicht nach. Ich selbst habe mich ja schon zu einer Zeit, als noch alles beim Alten zu bleiben schien, durch meine langjährigen Fortbildungen auf den Weg zur Entwicklung meiner eigenen Lehrerpersönlichkeit gemacht. Dennoch beschleicht mich jetzt immer mehr der Verdacht, dass oftmals von oben her verordnete Strukturreformen und eine permanente technisch-digitale Veränderung schon als „die“ eigentliche Schulentwicklung selbst angesehen wird – eine große Illusion, wie ich meine!

Ja, man kann für viel Geld immer neue Informatikräume einrichten und diese mit der jeweils modernsten Generation von Computern bestücken, man kann DVDs auf interaktiven Tafeln abspielen oder You-Tube-Filme sofort ins Klassenzimmer holen. Dies ist toll und dies ist sofort messbar. Auch eine veränderte Schulleitungs-Struktur – ob notwendig und sinnvoll oder nicht –, ist sofort „sichtbar“. Aber ist dies alles wirklich „das“ entscheidende Moment für einen lebendigen und substanziellen Unterricht? Und werden die Ansprüche an eine moderne Pädagogik schon dadurch erfüllt, dass vor jedem Schüler ein Computer steht und sich in jedem Klassenzimmer nun ein interaktives Whiteboard befindet?

Ich glaube vielmehr, dass die eigentliche Pädagogik, die natürlich nicht so leicht sichtbar und messbar gemacht werden kann, immer mehr in den Hintergrund gerät. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie überflüssig geworden wäre. Denn Jugendliche können in der Regel nur dann gut arbeiten und ordentliche Leistungen erzielen, wenn sie in einer fruchtbaren und lebendigen Beziehung zum jeweiligen Lehrer stehen. Der Slogan „Erziehung durch Beziehung“ hat seine Gültigkeit keineswegs verloren. Im Gegenteil, er ist aktueller denn je. Wenn dieser Grundsatz im großen Getöse der neuesten Medienentwicklung und im von Kritikern so bezeichneten „Schulreformwahn“, den der Pisa-Schock ausgelöst hat, übersehen wird, läuft etwas total schief an der Schule – vor allem am Gymnasium. Hier liegt im Moment viel im Argen und hier muss gegengesteuert werden.

Besonders das Gymnasium, in das Schüler als Kinder eintreten und das sie acht oder neun Jahre später als bereits Volljährige wieder verlassen, muss immer zwei grundlegende Hauptziele im Auge haben: die fachliche Bildung und die Persönlichkeitsentwicklung, die Hochschulreife und die Charakterbildung, die geistige, wissenschaftliche Herausforderung und die Vermittlung von emotionalen und sozialen Kompetenzen gleichermaßen. Gerade diese zweite Ebene von Persönlichkeitsentwicklung zur Selbständigkeit und Selbstverantwortung, von Charakterbildung und Impulsen zum Erwachsenwerden ist angesichts des digitalen und technokratischen Reformdrucks, sowie der gesellschaftlichen Dauerdiskussion um die richtige Schulstruktur vollkommen in den Hintergrund geraten. Ich möchte diese heute kaum mehr beachtete Ebene mit dem Begriff „Pädagogik des Herzens“ umschreiben.

Eine Herzens-Pädagogik lässt sich aber auch mit einer Schar von externen Evaluatoren, die ein Gymnasium auf Herz und Nieren prüfen wollen, nur ansatzweise oder gar nicht erfassen. Auch vom grünen Tisch einer Kultusbehörde aus kann diese Ebene, zu der vor allem die Beziehung zwischen Lehrer und Schülern gehört, schwerlich erreicht werden. Meine drei Zusatzausbildungen, die alle die pädagogische Praxis im Klassenzimmer selbst im Blick hatten, haben mir aber genau für diese zweite, eher nicht messbare Ebene den Blick geschärft. Wenn diese im Alltag von Unterricht und Schule jedoch fehlt, geht das Herz der pädagogischen Arbeit verloren. Folgenden Fragen möchte ich daher in diesem Buch besonders nachgehen:

 Was brauchen Jugendliche, besonders Jungen, wirklich, um ihre Persönlichkeit gut entfalten und zugleich ordentliche Lernerfolge erzielen zu können?

 Wie können unsere Schüler von uns Lehrern in der bisweilen schwierigen Zeit ihrer Pubertät adäquat begleitet und zum Erwachsenwerden hingeführt werden? Denn wenn sie mit dem Abitur die Schule verlassen, sind sie volljährig und damit rechtlich gesehen Erwachsene.

 Wie kann eine Schulart wie das Gymnasium den Spagat bewältigen, sich den immer neuesten medialen und strukturellen Entwicklungen zu öffnen, um die geforderte Wissensvermittlung zu bewerkstelligen, und zugleich dem Anspruch gerecht werden, weiterhin ein Ort der Menschlichkeit, sowie der Persönlichkeits-, Charakter- und Wertebildung für die Schüler zu bleiben?

 Wie kann ich mich als einzelner Lehrer in der ganzen Umbruchssituation und in dem heutigen „Hochgeschwindigkeits-Schulalltag“ behaupten und zugleich meinen Schülern Orientierung geben und ihnen Vorbild sein? Wie kann ich also in meinem Unterricht eine gelassene Atmosphäre schaffen und eine „Pädagogik des Herzens“ verwirklichen?

Diese Fragen sollen in den nachfolgenden Kapiteln näher entfaltet, diskutiert und schließlich beantwortet werden. Es sollen zudem neue und konstruktive Wege gleichsam als notwendiges Korrektiv zur gegenwärtigen aufgeregten Bildungs- und Schulentwicklung aufgezeigt werden. Damit dies möglich wird, sollen im ersten Kapitel zunächst plakativ und griffig einige wesentliche Phänomene beschrieben werden, mit denen sich Schule, Schüler, Lehrer und Schulleitungen gegenwärtig auseinandersetzen müssen.

Schule – quo vadis?

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