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(1) Bildungsreformen: Schule – quo vadis?

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Der österreichische Philosoph und Kulturkritiker Konrad Paul Liessmann hat mit seinem Buch „Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift“4 viel Aufsehen erregt. Er wendet sich leidenschaftlich und in sehr plakativer und zum Teil sarkastischer Weise gegen den durch den Pisa-Schock ausgelösten und von ihm so betrachteten „Bildungsreform-Wahn“. Schon der Text auf dem Bucheinband lässt erahnen, wohin seine Kritik zielt: „Niemand weiß mehr, was Bildung bedeutet, aber alle fordern ihre Reform. Ein regelrechter Markt hat sich etabliert, auf dem Bildungsforscher und -experten, Agenturen, Testinstitute, Lobbys und nicht zuletzt Bildungspolitiker aller Fraktionen ihr Wesen und Unwesen treiben.“5

Kritische Thesen zur Bildungsreform

Nachfolgend sollen einige seiner Gedanken in Form von zehn kritischen Thesen an der gegenwärtigen Bildungspolitik wiedergegeben werden:6

1. These

Öffentliche Schulen sind heute zu Laboratorien von Bildungsforschern und Erziehungswissenschaftlern mutiert. Sie entwerfen eine „schöne neue Schulwelt“ über die Köpfe von Lehrern und Schülern hinweg. Zusätzlich werden viele ungelöste gesellschaftliche und soziale Probleme auf die Schulen abgewälzt, was zu deren völligen Überforderung führt. (vgl. S. 23).

„Der Gedanke, dass Schulen auch Schutzräume darstellen können, die sich bewusst auf wesentliche Fragen konzentrieren und sich gegenüber den Zumutungen einer hysterisierenden Öffentlichkeit auch abschotten können, ist uns sehr, sehr fremd geworden.“ (S. 24).

2. These

Der vergleichende Pisa-Test, der ja vorgibt, den Bildungsstand eines Landes „objektiv“ ermitteln zu können, wird von immer mehr Experten als zu fehlerhaft kritisiert. Dennoch halten bisher alle Länder und die Verantwortlichen in den Kultusbehörden daran fest wie an einem Evangelium. „Pisa misst also in erster Linie den Glauben von Bildungspolitikern und Bildungsjournalisten an fragwürdige Statistiken. Pisa ist längst zu einer säkularen Religion geworden, die nur mehr Rechtgläubige und Ketzer kennt.“ (S. 13).

Die angeblichen „Bildungskatastrophen“, von denen in den Medien immer wieder reißerisch berichtet wird, werden durch Pisa erst künstlich erzeugt, um danach die Notwendigkeit von Reformen fordern zu können. Dahinter stecken aber Interessen, die mit der eigentlichen Bildung gar nichts zu tun haben: nur wettbewerbsorientierte Wirtschaftskreise; die empirische Bildungsforschung, die ja gerade durch permanente Reformen erst an Bedeutung gewinnt; die Sehnsucht von Bildungspolitikern nach Ranglisten im Bildungsvergleich, in denen sie dann nach Spitzenplätzen gieren können (vgl. S. 17).

3. These

Eine wesentliche Schuld an der überall empfundenen „Bildungspanik“ hat die empirische Bildungsforschung selbst. Denn an ihren angeblichen Fähigkeiten, objektive und substanzielle Aussagen über den Bildungsstand eines Landes machen zu können, wird bereitwillig und naiv geglaubt. Auf deren Testergebnisse wird dann mit hektischen Aktivitäten von Seiten der Bildungspolitik reagiert – etwa dass die Fachlehrpläne zum x-ten Male „entrümpelt“ werden. „In Summe ergibt sich das Bild eines haltlosen Aktivismus, der eine überbordende, kontrollierende, evaluierende, steuernde und anlassbezogene Bürokratie schafft, die Bildungsprozesse in der Regel eher sabotieren denn befördern.“ (S. 19).

Der Bildungsbereich ist zu einem internationalen Kampfplatz mutiert. Dabei gibt die OECD7 den Takt an, nach dem sich dann die Bildungspolitiker der Länder bereitwillig richten: „Hier geht es um wirtschaftsnahe Ausbildung, um Schulung zur Anpassungsfähigkeit, um internationale Vergleichbarkeit, um ein effizientes Verhältnis zwischen Ausgaben und Ergebnissen, und es geht immer noch um die leidige Akademikerquote...“ (S. 19 f.)

Bei den Pisa-Vergleichstests handelt es sich nur um ein großangelegtes Täuschungsmanöver, das für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht viel bringt, sondern höchstens die diffuse Sehnsucht befriedigen kann, in einer OECD-Statistik ein paar Plätze gut gemacht zu haben. (vgl. S. 21).

4. These

Bei dem heutigen pädagogischen Ansatz ist nicht mehr das Wissen als solches, sondern nur noch die Anwendungskompetenz von Wissen wichtig. Dies ist aber ein fundamentaler Irrtum: „Pisa verstärkt dabei jene verhängnisvollen Tendenzen in der Didaktik, die zwischen Fähigkeiten und Kenntnissen nicht mehr unterscheiden und am Ende eines Lernprozesses immer eine Kompetenz zur Lösung einer lebensweltlich orientierten Aufgabe sehen wollen.“ (S. 14 f.).

Das „… zu glauben, dass diese Problemlösungskompetenzen unabhängig von Wissen erworben werden können, ist aber ebenso ein Irrtum wie die Annahme, dass auf ein Wissen, das nicht zu einer unmittelbaren Handlungsorientierung führt, immer und überall verzichtet werden könne.“ (S. 15).

5. These

Die Schlagworte aktueller Bildungspolitik wie etwa „Kompetenzorientierung“ oder „Wettbewerbsvorteil“ signalisieren einen gravierenden Bruch mit den Idealen klassischer Bildungskonzeptionen, die das Wissen selbst noch hochschätzten. Die Atmosphäre und der Geist an den Stätten der Bildung haben sich entscheidend verändert. (S. 28).

Bildung wird heute nur noch unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Verwertbarkeit gesehen. Eine Hingabe an die Bildung als Wert an sich geht immer mehr verloren. „Kein Wunder, dass sich gerade im Bereich der Bildung die Entrümpler, Kürzer, Entsorger, Ballastabwerfer nur so tummeln. In der Katastrophen-, Test- und Dauerreformrhetorik zeigt sich die Praxis der Unbildung in ihrer hysterisierten Gestalt.“ (S. 28).

Bildungseinrichtungen wie Schulen brauchen daher weniger statt immer mehr Reformen, sie benötigen „... Entschleunigung, nicht Hektik, Besonnenheit, nicht Tempo, Stabilität, nicht permanenten Wandel, Sicherheit, nicht medialen und politischen Dauerbeschuss.“ (S. 29).

6. These

„Kompetenzorientierung“ lautet heute das Zauberwort in der Bildungspolitik, das alles Bisherige hinfällig werden lässt. An Stelle von totem Wissen sollen nun nur noch brauchbare Fähigkeiten erworben und nichts Unnützes mehr gelernt werden. So soll der kompetent gewordene Mensch der Zukunft entstehen, der sich in jeder Situation die wichtigsten Informationen beschaffen und angemessene Entscheidungen treffen kann. „Der Nimbus internationaler Tests wie Pisa rührt auch daher, dass damit Kompetenzen angeblich genau vermessen und deshalb auch verglichen werden können.“ (vgl. S. 45 und S. 46).

Das derzeit überall gerühmte „Kompetenzkonzept“ wurde ursprünglich in der Wirtschaft entwickelt und dann auf die Pädagogik übertragen. Man spricht etwa von Selbstkompetenz, Sachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozialkompetenz, Handlungskompetenz und Systemkompetenz. (vgl. S. 46).

Der Kompetenzbegriff hat sich mittlerweile zu „dem“ Universalbegriff in der Bildungspolitik schlechthin entwickelt, der alles andere – auch Schlüsselqualifikationen und Sachkenntnis – in sich aufnimmt. Wohin diese Entwicklung gehen kann, zeigt zum Beispiel der umstrittene Entwurf „Lehrplan 21“ in der Schweiz, der 4000 (!) Kompetenzen aufweisen kann. (vgl. S. 49).

7. These

Diese Umstellung von Bildung und Fachwissen auf nur noch Kompetenzen ist „eine Praxis der Unbildung, die vor gar nichts mehr zurückschreckt.“ (S. 51). Denn dieses Kompetenz-Konzept erwies sich in der Praxis als verheerend, nachdem es „... in die Hände von Fachdidaktikern, empirischen Bildungsforschern, Schulreformern und ministeriellen Bürokraten gelangt...“ war. (S. 47).

Mit der ausschließlichen Kompetenzorientierung wurden nämlich gleich zwei Gesichtspunkte mit festgelegt: Alle Kompetenzen müssen ausschließlich dem Lösen von Problemen dienen; und alles Problemlösen muss erfolgreich umgesetzt, genützt und auf konkrete Situationen angewandt werden können. Die Folge: Alles, was in der Schule in Zukunft gelernt wird, muss anwendungsorientiert und mit dem Nachweis der Nützlichkeit versehen sein. (vgl. S. 47 f.).

Wir sind heute zu feige geworden, in geistigen Inhalten einen Wert an sich zu sehen – jenseits aller aktuellen Bedürfnisse. Das eigentliche Wissen wird aus den Lehrplänen geworfen. Dafür vermitteln und testen wird dann (inhalts)leere Kompetenzen, die wir für besonders praxis- und lebensnah halten – die Praxis der Unbildung in ihrer hypertrophen Gestalt. Der reinen Kompetenz-Ideologie wird alles andere geopfert. (vgl. S. 56 f. und S. 59).

8. These

Die Entwicklung ist schon so weit gediehen, dass konstatiert werden muss: „Uns fehlt mittlerweile jede Vorstellung davon, dass es geistige Inhalte geben könnte, die Wert und Interesse in und für sich selber haben und deshalb der entscheidende Stoff, die entscheidende Nahrung für die Entwicklung eines jungen Menschen sein müssen. Wissen heute ist ergebnisorientiert und anlassbezogen, es soll sich entweder an den Bedürfnissen der jungen Menschen, an den Wünschen der Arbeitgeber oder an den Herausforderungen der Zukunft, die niemand kennt, orientieren.“ (S. 56)

Dagegen muss gefordert werden, dass wieder offen über den Bildungskanon debattiert wird. Es sollte eine Lust auch an einer zweckfreien Betätigung des Geistes geben, denn nur so kann wieder Wissen entstehen, das zugleich notwendig und befreiend ist. Die Bildungsplaner sollten doch darauf vertrauen, dass all die Kompetenzen auch dann erreicht werden können, wenn die ganze Bildung nicht schon von vorneherein nur noch zweckgebunden ist. (vgl. S. 59 f).

9. These

Durch die Kompetenzorientierung werden nun die operationalisierbaren Fähigkeiten und nicht mehr fachspezifische Kenntnisse als zentrale Ziele von Lernprozessen proklamiert. Die Fächer und Disziplinen, die es immer gegeben hat in der Schule und an der Universität, unterliegen nicht zuletzt deshalb „... aktuell einem rasanten Prozess der Verflüchtigung, der nicht nur altgewohnte und liebgewordene Vorstellungen zerstört, sondern auch die Frage nach den Ordnungen des Wissens völlig neu stellt.“ (S. 61).

Dabei ist es doch so, dass sich die Neugierde der Schüler immer auf etwas, auf einen Gegenstand, also auf ein Fach richtet, nie jedoch auf eine Kompetenz. Eine bloße Kompetenz kann keine Begeisterung vermitteln – weder bei Schülern noch bei Lehrern. (vgl. S. 76 f.).

Um dies an einem Beispiel klar zu machen: Ein Text selbst sollte doch Inhalt und Ziel des Unterrichts sein, aber dies „... ist der kompetenzorientierten Bildungskonzeption fremd geworden. In der Fächerdämmerung, die sich über unsere Schulen … senkt, verschwindet so ein essentielles Moment europäischer Bildung: der Hunger nach Erkenntnis, der Wille zur Welt, die Konzentration auf eine Sache, die Neugier auf alles Mögliche und nicht nur auf das, was heute oder morgen nützen kann. Die neue Disziplinlosigkeit führt zu einer Verwahrlosung des Denkens und einer Abwertung des Wissens, die nur im Interesse jener sein kann, die kein Interesse an gebildeten Menschen haben, da die Dummheit zu den Fundamenten ihres Geschäftsmodells zählt.“ (S. 76).

10. These

Nur wenn die Fächer als solche erhalten bleiben, bleibt auch echte Bildung erhalten, die diesen Namen noch verdient. Fachwissen durch Kompetenzen zu ersetzen bedeutet somit einen gravierenden Verlust von Bildung. (vgl. S. 77).

Bildungssysteme, die rein ökonomisch und kompetenzorientiert ausgerichtet sind, werden eine heftige geistige Krise erleben. Denn die Konsequenzen sind mittelfristig das Verschwinden der „Humanities“ – der geisteswissenschaftlichen und musischen Fächer. Es geht nur noch um die einseitige Orientierung von Schule und Studium an den Zielen wirtschaftlicher Verwertbarkeit, um ein Konzept von Bildung also, das eine berufsorientierte Ausbildung mit dem Schwerpunkt in den naturwissenschaftlichen Fächern und in Wirtschaft hat. (vgl. S. 168 f.).

„Das Handeln und Denken der Gegenwart orientiert sich an einem einzigen Parameter: dem Wirtschaftswachstum. Daran wird nicht nur der Erfolg von Gesellschaften gemessen, danach richten sich auch die Investitionen im Bildungsbereich … Das Wirtschaftswachstum beschreibt allerdings nur einen Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung. Andere Dimensionen werden davon weder erfasst noch folgen sie gleichsam naturwüchsig aus der ökonomischen Prosperität: Gesundheit, Glücksfähigkeit, Gerechtigkeitschancen, Ausweitung demokratischer Rechte, Möglichkeiten der Partizipation und Verantwortung, Gleichberechtigung von Individuen ...“ (S. 169). Dies ist dann die „allgegenwärtige Praxis der Unbildung“. (vgl. S. 181).

Anmerkungen aus Sicht eines praktizierenden Pädagogen

Soweit in knappen Thesen die wichtigsten Aussagen von Herrn Liessmann über die gegenwärtigen Reformen im Bildungsbereich. Wie wirken diese Ansätze aus Sicht eines altgedienten Pädagogen? Nachfolgend ebenfalls zehn Anmerkungen:

1.

Die Stimme von Herrn Liessmann war in der Bildungsdiskussion notwendig und für mich persönlich ist sie erfrischend. Sie will aufrütteln und anregen. Sehr zutreffend finde ich die Erkenntnis, dass Schulen immer mehr Gefahr laufen, zu Versuchslaboratorien von gesellschaftlichen Gruppierungen gemacht zu werden, die gar nichts mit der Schule zu tun haben. Die Bildungsexperimente werden tatsächlich und oftmals unnötig auf dem Rücken von Schülern und Lehrern ausgetragen.

2.

Es ist fatal, wenn (Fach)Wissen immer mehr durch bloße Kompetenzfähigkeiten ersetzt wird. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Beides ist gleichermaßen notwendig: fundierte Fachkenntnisse und ihre Anwendungskompetenzen. Beide Prinzipien dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wenn man sich etwa mit der fast ausschließlichen Orientierung an Kompetenzen nur noch auf ein Prinzip versteift, ist dies wie bei einer Monokultur. Irgendwann ist der (Bildungs)Boden ausgelaugt und leer. Mit reinen Kompetenzen als Ziel von schulischer Bildung lügt man sich zudem selbst in die Tasche. Kein Wunder, dass von den Universitäten immer mehr Klagen über das mangelnde fachliche Wissen von Abiturienten kommen.

3.

Die Ausrichtung der Fachlehrpläne auf Kompetenzen, Nützlichkeit und wirtschaftliche Verwertbarkeit tut aus Lehrersicht richtig weh. Denn Jugendliche in ihrer Entwicklung sollten auch in Zukunft die Möglichkeit haben, an einem Ort der Bildung mit der Schönheit und dem Mysterium von Allgemeinwissen, mit geisteswissenschaftlichen, literarischen, musischen und ethischen Themen in Berührung zu kommen, ohne sofort die Nützlichkeit im Blick zu haben.

4.

Herr Liessmann ist Philosoph, kein Lehrer. Er kann es sich leisten, wie ein Adler hoch in den Lüften, das heißt über dem Alltag von Schule, Bildung, Lehren und Lernen zu schweben und mit scharfem Blick zu erkennen, dass in der heutigen Bildungspolitik etwas grundsätzlich schief läuft. Er kann also durchaus zum Nachdenken anregen.

5.

Herr Liessmann sagt aber nichts über den Schulalltag selbst und über die konkrete Situation von Schülern und Lehrern. Dazu kann er auch nicht viel sagen. Als Pädagoge interessieren mich jedoch noch andere Fragen als die von Herrn Liessmann, die in der Schule nicht minder wichtig sind: Wie kann Unterricht in unserer hektischen Zeit gelingen? Wie kann ich als Lehrer im Zeitalter von Medienkonsum und Digitalisierung Schüler für meine Fächer weiterhin begeistern? Wie kann ich in meinen Klassen eine gute Beziehung zu den Schülern herstellen? Wodurch entsteht eine gute Arbeitsatmosphäre, so dass die Schüler bereit sind, neues Wissen aufzunehmen?

6.

Schüler sind in erster Linie Menschen, nicht Lernmaschinen. Darum dürfen sie niemals zu bloßen (Nutz)Objekten der Bildungspolitik werden. Sie sind Menschen in ihrer Entwicklung in bisweilen fundamentalen Umbruchssituationen, die vor allem die Pubertät mit sich bringt. Dies im Blick zu haben, muss auch in Zeiten einer beschleunigten Bildungsreformtätigkeit immer höchste Priorität haben.

7.

Bei all den Reformen im Bildungsbereich müssen stets zwei Bildungsziele gleichzeitig im Mittelpunkt stehen: die Wissens- und Kompetenzvermittlung auf der einen und die Persönlichkeits-, Charakter- und Wertebildung auf der anderen Seite. Beide Ziele dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, keines der beiden darf zugunsten des anderen vernachlässigt werden. Und schon gar nicht dürfen diese Ziele auf dem „Altartisch“ forscher „Reformer“ geopfert werden, die etwa nur wirtschaftliche Interessen verfolgen.

8.

Das „Kerngeschäft“ des Lehrers – das Unterrichten von Klassen und die individuelle Förderung einzelner Schüler – muss immer im Zentrum von Schule und Unterricht bleiben. Daher sollten Lehrer für die wissenschaftlichen Erfordernisse der heutigen Zeit und für eine „Pädagogik des Herzens“ gleichermaßen ausgebildet werden. Die Lehrerbildung kann sich nicht in technischen Neuerungen, im Einüben und Anwenden immer neuer Kommunikationsmittel oder in der Umsetzung zu vieler bürokratischer Vorschriften erschöpfen.

9.

Für einen guten Unterricht sind Mitgefühl und Empathiefähigkeit des Lehrers ebenso wichtig wie seine Fach- und Methodenkenntnisse. Diese „weichen“ Qualitäten können aber schwerlich in Pisa-Statistiken erfasst oder in externen Evaluationen gemessen werden. Wie denn auch? Daher verbreitet sich in der ganzen Hysterie von Bildungsreformen heute immer mehr die irrige Meinung, dass nur noch Wissensbildung und Kompetenzvermittlung die vorherrschenden und entscheidenden Aufgaben des Lehrers seien.

10.

Zum Schluss ein persönliches Bekenntnis: Ich habe es mir – je länger ich unterrichte, desto mehr – auf die Fahnen geschrieben, mein Herz für die Bedürfnisse und die emotionale Situation der Schüler zu öffnen, deren Entwicklung bisweilen von schweren Umbrüchen geprägt ist und die davon hin- und hergeworfen werden können. Immer mehr Schüler kommen aus zerrissenen Familien und sind davon bisweilen schwer belastet. Das kann mir als Lehrer nicht gleichgültig sein.

Ich habe festgestellt, dass die Schüler zu fachlicher Höchstleistung bereit sind, wenn sie vom Lehrer wahr- und ernstgenommen und in ihrer Entwicklung auf dem Weg zu jungen Persönlichkeiten bestätigt und gewürdigt werden. Neugierde am Fach und Beziehung zum Lehrer gehören für die meisten Schüler untrennbar zusammen, zumindest in Unter- und Mittelstufenklassen.

Darum möchte sich dieses Buch genau mit diesem fundamental wichtigen emotionalen Aspekt des Unterrichts – mit der Beziehungsebene zwischen Schülern und Lehrer – beschäftigen, der heute völlig in den Hintergrund zu geraten droht. Das wäre aber fatal und Schüler wie Lehrer haben dies nicht verdient.

Der Mehrwert der schulischen Bildung

Bevor ich mich der veränderten Rolle des Lehrers in der heutigen Bildungsdiskussion zuwende, soll zunächst noch kurz der Politikwissenschaftler Christian Grünwald zu Wort kommen. In seinem Beitrag mit dem Titel „Total vermessen“ in der Süddeutschen Zeitung weist er auf die Grenzen einer völligen Ökonomisierung von immer mehr Bereichen unseres Lebens hin, die auch vor dem Bildungssektors nicht Halt macht: „... der Trend zur Ökonomisierung scheint unaufhaltsam zu sein. Märkte sind effizienzgeprägt, ihre Mittel sind Standardisierung und Normierung. Was bei Produktion und Handel zu Kostenreduktion und vergleichbarer Qualität führt, ist auch im Bildungssektor präsent: G-8-Gymnasien, Pisa, Bologna, vom Schulkind bis zum Postgraduate wird verglichen, harmonisiert, effizienter gemacht.“8

Im gesellschaftlichen Mainstream wird heute alles wirtschaftlichem Denken und ökonomischer Effizienz unterworfen, also auch die Bildung, wovon ja dieses erste Kapitel handeln soll. Der Glaube an ein permanentes Wirtschaftswachstum ist zu einer neuen weltumspannenden „kapitalistischen Religion“ geworden, an die viele blind und naiv glauben. Ihre Transportmittel sind die Globalisierung und die Digitalisierung.

Herrn Grünwald geht es bei seinen Überlegungen in erster Linie ganz grundsätzlich um den Wirtschaftsstandort Deutschland, der sich immer mehr von einem Industriestaat zu einem wissensbasierten Dienstleistungsland entwickelt hat, wenn er überraschend folgende Kernfrage stellt: „Ist Ökonomisierung noch gut für die Wirtschaft?“9 Denn Wissensgesellschaften sind vor allem auf den „Schlüsselrohstoff“ für Innovationen angewiesen: auf immer neue Ideen. Ideen aber verlangen Kreativität – in Forschung, Verwaltung, im Management und vor allem in der Bildung. Daher fordert er: „Statt kürzerer Bildungswege mit verschulten Abschlüssen sollte das freie Denken, das Sich-Ausprobieren an Schulen und Hochschulen wieder gefördert werden – anstelle eines Systems, das aller Individualisierung zum Trotz vermehrt Gleichförmigkeit produziert. Standardisierung fördert eindimensionales, lineares Denken und tötet Kreativität.“10

Es tut gut, im ganzen Orchester von aufgeregten Stimmen zur Bildungspolitik auch solch eine wie die von Herrn Grünwald zu hören, der weiterdenkt und aufzeigt, wohin eine Dominanz ökonomischen Denkens führen kann, vor allem wenn es auf externe Gebiete wie den Bildungsbereich ausgedehnt wird: auf eine geistige Verarmung. Doch nun zur Situation des Lehrers in der heutigen Bildungsdiskussion: Was hat sich geändert, was aber müssen auch in Zukunft bleibende und essentielle Aufgaben des Lehrers sein?

Schule – quo vadis?

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