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MARIA KENTARIS

AMBELÁS, PAROS, SÜDLICHE ÄGÄIS, SEPTEMBER 2016

Der Wind hatte über Nacht kräftig zugelegt und auf der weitläufigen Terrasse von Maria Kentaris einiges durcheinandergewirbelt. Mehrfach war sie vom Kläffen ihres Hundes Achilléas aufgewacht, der sein Terrain vor dem umherfliegenden Gestrüpp des angrenzenden Gartens verteidigen wollte. Nachdem auch wiederholtes Rufen den großgewachsenen Hirtenhund nicht besänftigen konnte, hatte sie ihn schließlich ins Haus geholt und war noch einmal für ein paar Stunden eingeschlafen. Die Wettervorhersage kündigte für die nächsten Tage eine weitere Zunahme des Windes an bis hin zu einem ausgewachsenen Sturm – ein erster Gruß des nahenden Herbstes nach einem langen, heißen Sommer.

Es war Ende September, als in dem kleinen Küstenort im Norden der Insel langsam wieder der Alltag einkehrte. Viele, der nur während der Sommermonate bewohnten, Häuser waren bereits winterfest vernagelt und warteten geduldig auf den nächsten Frühling. Auch in der größten Ferienanlage des Ortes unten am Meer, dem Thalassa, hatte das große Reinemachen schon begonnen. Die meisten Appartements waren geräumt, Scharen von Touristen abgereist. Nur noch ein paar letzte, verstreute Urlauber verloren sich abends in der großen zur Anlage gehörenden Taverne. Aber auch die würden in den nächsten Tagen Paros den Rücken kehren.

Der Wandel des Dorfes verlief in dieser Jahreszeit stets schleichend, ganz langsam veränderte der verträumte, liebliche Küstenort seinen Charakter und entwickelte sich hin zu einer rauen, einsamen Ansiedlung. Maria Kentaris war bestens vertraut mit diesem Rhythmus. Sie war hier aufgewachsen und nach drei Monaten hektischen Treibens freute sie sich auf die Stille des Winters, die oft nur von dem Heulen des Sturmes unterbrochen wurde, wenn der Wind von Naxos kommend über das Meer peitschte und sich in die Fassaden der verlassenen Häuser fraß. Bei ihrem morgendlichen Spaziergang mit Achilléas zählte sie in diesen Tagen die Anwesen, von denen man sich bereits verabschiedet hatte, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie viele »Xeni« – »Fremde« noch in Ambelás verweilten.

Ausnahmen gab es immer wieder, wenn vereinzelte Touristen auch einmal den ruhigen Winter auf der Insel verbringen wollten, die meisten hielten jedoch nur wenige Wochen durch. Sie mussten schnell erkennen, dass diese unwirtlichen Monate nichts mit den verträumten Urlaubseindrücken zu tun hatten, die sie aus der Sommerzeit kannten.

Das laute Gebell von Achilléas mahnte sie zum Aufstehen, bestimmt wartete er schon ungeduldig auf seinen Rundgang durch das Dorf. Eine Routine, die sich über die Jahre eingestellt hatte. Christos, ihr Mann, bereitete währenddessen immer das Frühstück vor. Seitdem ihre Tochter Stella nach Athen gezogen war, hatten sie wieder mehr Zeit füreinander. Eine anfangs ungewohnte Situation für sie beide, aber nach fast dreißig Ehejahren waren sie ein eingespieltes Team, das sich über die Zeit arrangiert hatte. Im Sommer vermieteten sie ein paar Zimmer an Touristen und betrieben auf ihrer lauschigen Terrasse eine kleine Taverne. Das stockte ihre Haushaltskasse um einiges auf, aber ihre Haupteinnahmequelle war das große Stück Land mit unzähligen Olivenbäumen, deren Früchte sie in einem Laden im nahegelegenen Náoussa verkauften.

Das Ehepaar hatte sich neben den gängigen Nutzpflanzen wie Tomaten, Zucchini und Auberginen, besonders auf die Zucht von Kapern spezialisiert. In den Anbau dieser appetitlichen Beilage war viel investiert worden, und der Erfolg gab ihnen Recht. »Kapern von Kentaris« hatten sich mittlerweile zu einem Verkaufsschlager ihres Ladens entwickelt. Das war besonders dem Einsatz von Christos zu verdanken, für den die karge Pflanze weit mehr als nur ein Geschäft war. Einer Passion gleichkommend hatte er sich in den vergangenen Jahren umfangreiches Wissen angeeignet, um aus den verstreuten, oft an geheimnisvollen Plätzen wachsenden Wildkapern eine ertragreiche Kulturpflanze zu entwickeln.

Maria huschte schnell durch das Bad und zog sich vorsichtshalber eine Jacke über, als Schutz vor dem frischen Wind und der klammen Luft, geschwängert vom Salz der aufgewühlten See.

Als sie schließlich die Küche betrat, um nach der Leine zu suchen, sprang Achilléas wild um sie herum. Ihr treuer Begleiter wich ihr kaum von der Seite. Es verband sie eine innige Freundschaft, die zwischen den beiden gewachsen war, nachdem sie den jungen Welpen vor knapp zwei Jahren aus einem Müllcontainer nahe Santa Maria geborgen und liebevoll aufgepäppelt hatte. Noch heute klang ihr das erbärmliche Winseln in den Ohren. Sie würde nie verstehen, wie Menschen zu solch einer Schandtat fähig sein konnten. Er schien es nicht vergessen zu haben, wem er sein Leben zu verdanken hatte, sein feines Gespür dafür, wenn es Maria nicht so gut ging, versetzte sie stets ins Staunen. Fremde wären erschrocken mitanzusehen, wie er dann Maria mit seinem massigen Kopf zärtlich anstupste, so lange bis er ihr ein Lachen entlocken konnte.

Der große Hund drängte nach draußen, so dass Maria Mühe hatte, den starken Rüden zurückzuhalten, Christos hielt ihr die Tür auf, bevor er sich in die Küche begab. Ein frischer Wind blies ihr sogleich stramm ins Gesicht.

Der Gebäudekomplex der Kentaris lag am Ortseingang von Ambelás und zeichnete sich durch eine kleine Kapelle aus, deren Eingang zugleich auch einen Zugang zu dem dahinterliegenden Haus bot. Maria knöpfte sich ihre Jacke zu, während sie Achilléas schläfrig hinterherstolperte, in Richtung des kleinen Hafens, so wie sie es jeden Morgen tat. Je näher sie dem Meer kamen, desto feuchter wurde die Morgenluft, ein feiner Nebel lag über der Küste, die kabbeligen Wellen trugen weiße Kragen und sprühten ihr die Gischt entgegen.

Die wenigen Boote im Hafen tanzten unruhig hin und her, im Dunstschleier der aufgehenden Sonne erschien ihr Naxos zum Greifen nah. Achilléas schwenkte nach links, er kannte den Weg und wartete darauf, dass Maria ihm die Leine abnahm. Mit einem lauten Bellen preschte er vor, so als wolle er sich für das Stück Freiheit bedanken, Maria trottete ihm behäbig auf der Küstenstraße hinterher. An ein paar verwaisten Ferienhäusern vorbeilaufend erreichte sie schließlich das Thalassa, mit seiner großzügigen Taverne und einer Ferienanlage, deren Außenterrasse direkt über dem Meer lag, beschattet durch mehrere hochgewachsene Tamarisken, unter denen man im Sommer nur schwerlich einen Platz ergattern konnte. Geschützt durch ein hellblaues Metallgeländer saß man einige Meter oberhalb der blauen See, ein äußerst beliebtes Plätzchen für ein romantisches Abendessen.

An diesem frühen Septembermorgen glich der heimelige Platz jedoch nur einer öden Betonfläche. Die während der Ferienzeit liebevoll hergerichteten Tischchen waren bereits weggeräumt und der Innenbereich der Taverne rundum mit breiten Plastikplanen abgeschottet worden. Auch die Besitzer des Thalassa schienen mit weiteren, stürmischen Tagen zu rechnen. Maria winkte stumm einer Angestellten zu, die in der Küche herumwerkelte, als sie auf die leergefegte Terrasse zusteuerte. Ihr Blick schweifte in die Ferne, ausschauhaltend nach Achilléas, der wie vom Erdboden verschluckt war. Plötzlich erschallte ein lautes Knurren, ein grimmiges, wie es nur selten vorkam. Irgendetwas musste den Hund in Auffuhr versetzt haben! Es folgte ein grollendes Bellen und Maria lauschte, um die Richtung des Gebells auszumachen. Sie hatte im Laufe der Zeit gelernt, die feinen Zwischentöne ihres Hundes zu unterscheiden und hoffte nur, dass er nicht wieder mit einer Katze im Clinch lag. Achilléas trug bei diesen Konfrontationen meist schmerzliche Blessuren davon. Das Donnern der Brandung überlagerte den aufgebrachten Rüden, er musste ganz in der Nähe sein. Fröstelnd lugte sie über das schmale Gelände nach unten, zu den beidseitig der Taverne liegenden Sandbuchten, wo die auslaufenden Wellen fast bis an die Küste reichten. Dort sah sie ihn, wie er versuchte, dem unberechenbaren Weg des Wassers auszuweichen, immer wieder nach vorne springend hin zu einem größeren Gegenstand, der sich dunkel von der aufgewühlten Brandung in der rechten Bucht abzeichnete. Maria beugte sich nach vorne, verengte ihre Augen zu schmalen Sehschlitzen, versuchte mit aller Anstrengung zu erkennen, was den Hund so in Wallung brachte. Sie erstarrte. Unweigerlich krallten sich Ihre Hände an dem feuchten Geländer fest. Da unten lag ein Mensch, an Land geworfen von der aufgebrachten See.

Bittere Kapern

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