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JULIA MORETTI

HAMBURG, DEUTSCHLAND, SEPTEMBER 2016

Julia Moretti hatte sich genervt in ihr Büro zurückgezogen. Sie wollte einen Moment alleine sein, um sich wieder zu beruhigen und die weitere Vorgehensweise zu überdenken. Obwohl sie und ihr Team unter enormen Zeitdruck standen, konnten sie sich nicht auf eine gemeinsame Headline einigen, aber so langsam lief ihnen die Zeit davon. Seit mehreren Stunden diskutierten sie nun schon über die beiden finalen Vorschläge, aber die Fronten waren verhärtet und kein Verfechter des jeweiligen Favoritentitels war bereit einzulenken. Sie goss sich ein Glas Wasser ein und holte tief Luft. Der Artikel musste heute noch raus. Sie würde wohl ein Machtwort sprechen müssen. Ihr Team in der Redaktion des Hamburger Verlags bestand aus drei Redakteurinnen und einem Redakteur, von Anfang an hatten sich zwei Parteien gebildet, mittlerweile ging es nicht mehr um den Titel, es ging nur noch ums Prinzip. Sie persönlich hatte sich bereits für eine Schlagzeile entschieden, die würde sie jetzt durchsetzen. Seit mehreren Wochen war sie schon mit der Reportage beschäftigt, eine Bestandsaufnahme über Frauen in Führungspositionen in Italien, und sie selbst hatte da viel Energie reingesteckt. Daher durfte die ganze Arbeit nicht durch eine schwache Überschrift geschmälert werden. Ihr Entschluss stand fest, der Vorschlag des reinen Frauenteams war besser für den Artikel geeignet, von Anfang an hatte sie dieser Titel neugierig gemacht. Der zweite Entwurf würde heute das Nachsehen haben.

Julia Moretti war so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen und sie bemühte sich, stets wichtige Entscheidungen gemeinsam zu erlangen. Heute waren alle Vermittlungsversuche gescheitert. Jetzt war ihr Durchsetzungsvermögen als Chefredakteurin gefordert. Die Chefin spielte sie recht selten und sie tat es ungern. Es widersprach ihrem Führungsstil und ihrer inneren Überzeugung, aber manchmal kam sie um derartige Maßnahmen nicht herum. Früher hatte sie in Situationen, die einer dringenden Entscheidung bedurften, einfach ihren Vater angerufen, der hatte immer einen Ratschlag für sie bereitgehalten. Für Personen, die Julia nicht kannten, wirkte sie auf den ersten Blick geheimnisvoll, unnahbar und auch ein wenig scheu. Ihr graziles Äußeres, ihr dunkler Teint und die glatten, schwarzen Haare verliehen ihr etwas Zerbrechliches. Doch wer sich auf diesen ersten Eindruck verließ, wurde eines Besseren belehrt. In Julia Moretti schlummerte viel Temperament, welches sie von ihrem Vater geerbt hatte, einem stolzen Italiener aus Neapel, der leider viel zu früh verstorben war. Von ihm hatte sie auch eine gehörige Portion Hartnäckigkeit mitbekommen, die sie in vielen Lebenssituationen geschickt zu nutzen wusste. Mit ihren 31 Jahren blickte sie auf eine beachtliche berufliche Laufbahn zurück. Die Position der Chefredakteurin hatte sie sich hart erkämpft. Selbst zwei große Entlassungswellen, ausgelöst durch die nicht aufzuhaltende Digitalisierung in ihrer Branche, hatte Julia souverän überstanden. Jetzt war sie da, wo sie immer hinwollte.

Erschrocken schaute sie auf die Uhr, trank mit einem Schluck den Rest des Wassers aus und ging entschlossen zurück in den Besprechungsraum. Als sie den Meetingraum betrat schaute sie in acht erwartungsvolle Augen. Jeder wusste, dass jetzt eine Entscheidung fällig war und hoffte, zu den Gewinnern zu gehören. Ohne lange zu fackeln, präsentierte sie ihren Siegertitel, eine erneut aufkommende Diskussion erstickte sie im Keim, indem sie ihren Entschluss sorgfältig begründete. Sie verabschiedete ihre Mannschaft in den Feierabend und suchte nochmals ihr Büro auf. Es war schon nach acht, hätte sie früher eingelenkt, wäre sie längst zuhause gewesen und hätte endlich mit dem Ausräumen der letzten Umzugskartons weitermachen können. Julia Moretti war erst vor drei Wochen umgezogen, in ihrer neuen schicken Altbauwohnung im Stadtteil Winterhude sah es seitdem chaotisch aus und sie befürchtete, dass dieser Zustand noch ein paar weitere Wochen andauern sollte. In der letzten Zeit war sie für ihre aktuelle Reportage viel unterwegs gewesen, darunter mehrere Tage in Italien, und sie würde lügen, wenn sie sagen würde, dass es ihr nicht gefallen hätte. Der Umzug war dabei auf der Strecke geblieben, aber das würde sich in den kommenden Wochen schon regeln. Die Redaktion stand immer an erster Stelle, gerade jetzt, nachdem sie zur Chefredakteurin befördert wurde. Sie sprach neben Englisch und Deutsch fließend Italienisch, deshalb war sie für die letzte Dokumentation geradezu prädestiniert.

Zum Glück war die Küche soweit eingerichtet, und alle Geräte funktionsbereit. Aufs Kochen hätte sie schwerlich verzichten können. Ein Geschenk, das ihr Vater ihr mit in die Wiege gelegt hatte. Für Julia Moretti war das Zubereiten von Speisen Entspannung pur. Viele ihrer Freunde beneideten sie darum. Schon als kleines Kind hatte sie stundenlang am Rockzipfel ihrer Oma gehangen, wenn sie zu Besuch in der alten Heimat ihres Vaters war, und hatte jeden Handgriff der Neapolitanerin in sich aufgesogen. Sie war von den vielen Gewürzen und Gerüchen, die den ganzen Tag durch das kleine Haus ihrer Großmutter strömten, fasziniert gewesen. Es war so vollkommen anders als in der schlichten Küche ihrer deutschen Mutter. Bis zum Tod ihrer geliebten Nonna hatte Julia sie mehrmals im Jahr besucht, selbst nachdem sich ihre Eltern hatten scheiden lassen. Nonna war und blieb für sie die Größte. Wie einen Schatz hütete sie ihre Rezepte, eine lose Blattsammlung handschriftlicher Aufzeichnungen, die unzählige Geheimnisse der italienischen Küche enthielten. Julia hatte das Vermächtnis binden lassen, nachdem ihr Nonna kurz vor ihrem Tod einen Karton mit den Erinnerungen anvertraut hatte. Sie musste ihr nahes Ende geahnt haben, anders konnte Julia es sich nicht erklären. Sie war gerade 19 geworden, als sich ihre Eltern trennten, ungern dachte sie an diese Zeit zurück. Das Verhältnis zu ihrer Mutter, welches nie besonders harmonisch war, war seitdem noch weiter abgekühlt. So wie ihre Mutter wollte sie nie werden, das hatte sie sich geschworen und sich nach der Scheidung schnell auf die Seite ihres Vaters geschlagen. Dem Scheitern der Ehe waren jahrelange Streitigkeiten vorausgegangen. Julia hatte es nie verstanden, wie sich aus augenscheinlichen Belanglosigkeiten ein handfester Krach entwickeln konnte. Fast immer hatte sie ihre Mutter als Verursacherin ausgemacht, vielleicht oft zu voreilig, wie sie sich später eingestanden hatte. Damals in jungen Jahren hatte sie die Lage etwas anders gesehen. Plötzlich war der Mann weg, der ihr immer jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatte. Ihre Mutter hingegen war viel strenger mit ihr und hatte stets auf eine gesunde Balance zwischen Geben und Nehmen geachtet.

Julias Gedanken schweiften ab, sie überlegte, wann sie zuletzt Kontakt gehabt hatten, ihr fiel das vergangene Weihnachtsfest ein. Wie schon in den Jahren zuvor hatte sie mit ihrer Mutter ein quälendes Telefonat geführt und schmerzlich gespürt, wie unüberwindbar der Riss zwischen ihnen war. Julia hatte danach stundenlang geheult, war dann zu Freunden aufgebrochen und hatte an diesem Abend viel zu viel Wein in sich hineingeschüttet. Ein paar Tage danach wurde sie von Reue geplagt, ihre Mutter hatte einfühlsam versucht, sie zu einem Treffen zu bewegen, sie immer wieder aufgefordert, reinen Tisch zu machen und sie beinahe angebettelt, sich zu versöhnen. Julia war stur geblieben wie ein Roboter, sie war selbst über ihre Gefühlskälte erschrocken gewesen, aber sie hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, ihrer Mutter einen kleinen Schritt entgegen zu kommen.

Jetzt spürte sie, wie sich ihre Laune verschlechterte, das passierte immer, wenn sie an das zerrüttete Verhältnis zwischen ihnen dachte. Warum sollte ihre Mutter sich geändert haben? Sie war schließlich Mitschuld am Tod ihres Vaters. Das stand für Julia fest. Er hatte wie ein Hund gelitten, nachdem ihn seine geliebte Eva vor die Tür gesetzt und einen Schlussstrich gezogen hatte. Trotz aller Streitigkeiten in den vergangenen Jahren kam es für ihn völlig überraschend. Von da an verschlechterte sich sein Zustand zunehmend, der einst so selbstbewusste Italiener vergrub sich immer mehr in Selbstmitleid, verlor seine Arbeit und starb drei Jahre später an den Folgen eines Autounfalls. 1,8 Promille wurden in seinem Blut gefunden, Julia vertrat bis heute die These, dass ihr Vater den Unfall selbst herbeigeführt hatte. Er war an gebrochenem Herzen gestorben, dabei blieb sie. Warum in aller Welt sollte sie einen Neuanfang mit ihrer Mutter wagen, die dieses Drama ausgelöst hatte?

Schnell schüttelte sie die Erinnerungen ab und konzentrierte sich auf den finalen Text der aktuellen Reportage. Mit ein paar Mausklicks fügte sie den Siegertitel an der richtigen Stelle ein und schickte die Word-Datei an das Lektorat, sie sollten noch einen letzten Blick darauf werfen. Dann fuhr sie ihren Rechner herunter und griff nach ihrem Handy, in einigen Büros brannte noch Licht, sie war an diesem Abend nicht die Letzte in der Redaktion. Als sie ihr Smartphone entriegelte, sprang ihr eine Telefonnummer ins Auge. Jemand hatte mehrfach versucht, sie zu erreichen. Der Vorwahl nach musste der Anruf aus dem Ausland gekommen sein, nichts Besonderes, schließlich war sie viel in Europa unterwegs. Diese Vorwahl war ihr aber unbekannt. Sie überlegte einen Moment, schmiss dann das Mobiltelefon aber in ihre große Handtasche, der unbekannte Anrufer musste warten.

Bittere Kapern

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