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Scham und Verdinglichung

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Nicht nur die online stehende, optimierte Fotogalerie des Anderen kann einem heute ein Gefühl der Minderwertigkeit geben, sondern auch die eigene. Kein Anwender, der nicht seinem Online-Dating-Profilbild hinterherhechelte, kein Selbständiger, der nicht der zur Schau gestellten Schokoladenseite seines XING-Accounts im echten Leben zu entsprechen suchte. Gerade hier sind heute die Prädikate des Subjektiven und Objektiven ausgetauscht. Nicht mehr das reale – situationsbedingte – Wirken, sondern die beständige online stehende Perfektion gilt als Richtmaß der Selbstoptimierung. Letztere gilt für viele als objektive Quelle der Sinngebung und wird so zum neuen Ideenhimmel. Die »platonoide Serienexistenz« im Internet wird zur neuen Matrize. Um am Ende einer reklameartigen Version des eigenen Selbst zu entsprechen, wird perfektioniert. Dem Einzelnen wird so unter anderem die Energie für so etwas Verrücktes wie gesellschaftliche Veränderung geraubt. Es ist nicht mehr die Perfektion suggerierende Reklame im Fernsehen, sondern das internalisierte Prinzip der Reklame im digitalen Umgang miteinander. Letzterer wird bekanntlich so offen es geht gestaltet. General Eisenhowers Äußerung, mit der er vor der damaligen amerikanischen Fernsehnation gestand, nichts zu verbergen zu haben (»I have nothing to hide«), muss als klassisches Dokument eines Lebensmodus verstanden werden, der heute, mit dem Ende der Privatsphäre (nach Zuckerberg), seinen absoluten Höhepunkt erfährt.

Schamlosigkeit wird gegenwärtig nicht nur via FaceTime und WhatsApp als Tugend missverstanden. Die Behauptung, wer nichts zu verbergen habe, habe auch nichts zu befürchten, gilt gerade heute noch als beliebtes Argument gegen jegliche kritische Überlegung bezüglich der neuen Lebensform der Transparenz. Die heutige Exhibitionsbereitschaft unter dem sanften Terror der bunten digitalen Glitzerwelt muss als ebenso konstitutiv erkannt werden wie das Ende der Privatsphäre. Erik Erikson erkannte in ihr bereits die ungewollte Exponiertheit als zentrales Element. »Wer sich schämt, glaubt sich exponiert und beobachtet, ist unsicher und befangen. Man fühlt sich den Blicken der Welt höchst unvorbereitet ausgeliefert.«24 Im Zeitalter der Lebensführung im »Always-on«-Modus samt GPS-Tracking wirkt die Theorie von Erikson wie ein emotionales Leitmotiv der heutigen Gesellschaft. »Die reine Scham« – auch Jean-Paul Sartre machte in dem schmerzvollen Affekt eine Art emotionales Paradigma seiner Zeit aus – »ist nicht das Gefühl, dieser oder jener tadelnswerte Gegenstand zu sein; sondern überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt, mich in jenem degradierten, abhängigen und starr gewordenen Gegenstand, der ich für Andere geworden bin, wieder zu erkennen.«25 Bekanntlich waren die Anderen bei ihm die Hölle. Heute trägt jeder eine kleine Vergegenständlichungsmaschine mit sich herum, die ihn zur beständigen »offenen« Objektivierung seiner selbst und »der anderen« zwingt. Der smart vernetzte Mensch muss sich mit seinem Smartphone in der Hand schämen. Er kann nicht anders. Die totale Digitalisierung bedingt die totale Scham via totaler Verdinglichung. Ungewohnt konkret erklärt Adorno sein Verständnis von Verdinglichung anhand eines beiläufigen Gesprächs während seiner Zeit im kalifornischen Exil: »Was ich mit verdinglichtem Bewusstsein meine, kann ich, ohne umständliche philosophische Erwägung, am einfachsten mit einem amerikanischen Erlebnis illustrieren. Unter den vielfach wechselnden Mitarbeitern, die im Princeton Project an mir vorüberzogen, befand sich eine junge Dame. Nach ein paar Tagen fasste sie Vertrauen zu mir und fragte mit vollendeter Liebenswürdigkeit: ›Dr. Adorno, would you mind a personal question?‹ Ich sagte: ›It depends on the question, but just go ahead‹ und sie fuhr fort: ›Please tell me, are you an extrovert or an introvert?‹ Es war als dächte sie bereits als lebendiges Wesen nach dem Modell der Cafeteria-Fragen aus Questionnaires«26.

Verdinglichtes Bewusstsein erscheint hier als Übernahme von vorgegebenen Kategorien und die unreflektierte Subsumtion der Mitmenschen und der eigenen Person unter diese. Kommunikation degeneriert unversehens zum Austausch von leeren Formeln (aus den Questionnaires), die keine tiefere Auseinandersetzung mit sich und den anderen zulassen. Adornos Überlegungen lassen sich erschreckend einfach mit einer Gegenwart abgleichen, in der computerisierte Verdinglichung zur Conditio sine qua non menschlicher Existenz geworden ist. Denn sind die heutigen Sozialen Medien – allen voran Instagram mit der Hashtag-Sortierung – denn irgendetwas anderes als eine gigantische Verdinglichungsmaschinerie? Kommt ein Profil bei einem der bekannten Anbieter nicht einem umfassenden Vergegenständlichungsprojekt gleich? Während Hegel mit der Verdinglichung noch eine gewissermaßen »neutrale« Objektivierung des Geistes bei der Arbeit und im Kunstwerk benannte, so spricht Lukács 1923 bereits vom »im Kapitalismus aufgewachsenen Menschen mit verdinglichtem Bewusstsein«27, bei dem die Warenform zur Herrschaftsform der gesamten Gesellschaft wird. Der menschlichen Tätigkeit und dem bestimmten gesellschaftlichen Verhältnis der Menschen selbst, wie Marx es formulierte, entspricht »die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen«28. Sind die Freundschafts- und Followerideologien der großen Plattformen nicht eben genau das? Phantasmagorische Formen der Verhältnisse von Dingen? Die verrechneten Bilder, die innerliche Unberührtheit, die gleichgeschaltete Struktur – der Mensch wird, ohne dass er es merkt, zum Objekt der digitalen Verdinglichung. Und was sich dabei gleichzeitig festigt, sind die unerbittlichen Prinzipien des Daten- und Aufmerksamkeitskapitalismus.

Axel Honneth nimmt hinsichtlich der heutigen Ideologie der Selbstoptimierung eine interessante Einteilung vor: »Die Subjekte sind im Warentausch wechselseitig dazu angehalten, (a) die vorfindlichen Gegenstände nur noch als potentiell verwertbare ›Dinge‹ wahrzunehmen, (b) ihr Gegenüber nur noch als ›Objekt‹ einer ertragreichen Transaktion anzusehen und schließlich (c) ihr eigenes Vermögen nur noch als zusätzliche ›Ressource‹ bei der Kalkulation von Verwertungschancen zu betrachten«29. Statt einer aktiven Partizipation am Geschehen der Welt nimmt das Subjekt »die Gewohnheit eines bloß beobachtenden Verhaltens« an, »in dessen Perspektive die natürliche Umwelt, die soziale Mitwelt und die eigenen Persönlichkeitspotentiale nur noch teilnahmslos und affektneutral wie etwas Dingliches erfasst werden«30. Der Influencer auf Instagram kann in diesem Zusammenhang als schillerndes Exempel affektneutraler Verdinglichung angeführt werden. Günther Anders prognostizierte in den Nachkriegsjahren das emotionale Klima im Industriezeitalter: die Beschämung. Bereits damals schämt sich der Mensch, »geworden, statt gemacht zu sein, der Tatsache also, im Unterschied zu den tadellosen und bis ins Letzte durchkalkulierten Produkten, sein Dasein dem blinden unkalkulierten, dem höchst altertümlichen Prozess der Zeugung und der Geburt zu verdanken. Seine Schande besteht also im ›natum esse‹, in seiner niedrigen Geburt.«

Der Mensch erscheint heute in Anbetracht der mittlerweile offen affirmierten Subordination vor der Technik in seiner vegetativen Unbeholfenheit erst wirklich zurückgeworfen auf eine niedere Lebensform. Er kann nicht anders. Was Anders vor über einem halben Jahrhundert mit der »Prometheischen Scham« zum Inhalt seiner Philosophie machte, ist in der heutigen, hochvernetzten Gesellschaft ein stets präsentes, virulentes Thema. Die nackte Scham vor dem selbsterschaffenen Gerät, dem perfekten und kalten Apparat im Angesicht der eigenen, makelbehafteten Kreatürlichkeit. »Wer bin ich schon?«, fragt sich der Prometheus heute wie damals. Nur ist er heute noch viel mehr »der Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks«31. Und dieses Bild des überforderten und im Grunde unwissenden »Hofzwergs« passt wunderbar zu den vielen »Usern«, die keiner Programmiersprache mächtig sind und keinen Schaltkreis je selbst gelötet, geschweige denn einen Chip montiert oder eine kabellose Funktion verstanden haben. Man könnte die Liste der unreflektierten technischen Zusammenhänge, die den Einzelnen wie die Gesellschaft heute so grundlegend durchwalten, beliebig erweitern. Schamkonflikte sind heute allgegenwärtig und schier übermächtig.32 Das hat einen einfachen Grund: Schamgrenzen werden aufgrund der Nähe und konsistenten Nutzung der Kommunikationsapparate logischerweise viel schneller und einfacher überschritten als noch vor der digitalen Wende. Gleichzeitig wird der Schamaffekt selbst zu einer Art blindem Fleck der Reflexion. Denn »es gehört zur Kultur der Moderne, dass sie Scham in besonderem Maß verbirgt und Schamlosigkeit suggeriert«33. Der Mensch tritt heute also die Flucht nach vorne an. Doch wovor?

In der »Dialektik der Aufklärung«, ganz hinten im Anhang versteckt, befindet sich ein kurzer Aufsatz mit dem Titel »Zur Genese der Dummheit«. Hier beschreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die menschliche Intelligenz als »Fühlhorn der Schnecke«. Dieses Fühlhorn bewegt sich im freien Muskelspiel, solange es sich nicht »vor dem Hindernis sogleich in die schützende Hut des Körpers« zurückziehen muss. Den filigranen inneren Impuls des Erfühlen-Wollens auslebend, ist aber die äußerste Sensibilität, die »dem tastenden Gesicht« innewohnt, nur aktiv, solange sie nicht immerzu verletzt wird. Der schroffen und unwirtlichen Welt ausgesetzt, die das Fühlhorn immer wieder zu einem reflexhaften Rückzug zwingt, um für den Moment in der schützenden Hut des Körpers zu verweilen, wagt es »nur zaghaft wieder sich hervor«, um die Umwelt zu erfühlen. Findet das nicht mehr statt, ist die Rückbildung bzw. »die Verkümmerung der Organe«34 vorprogrammiert. Der Mut zur emotionalen Neugier und schließlich das sich Herauswagen aus dem geschützten Körper in die Außenwelt sind somit gewissermaßen die Bedingung der Möglichkeit von Menschsein selbst. Bedingung ist aber auch die schützende Hut des Schneckenhauses. Der Mensch braucht Schutz vor dem Andrängen der Außenwelt. Er braucht einen Rückzugsort, an dem er sich von den Blicken der anderen erholen kann. Dieser ist im Lebensmodus der Transparenz aber leider immer schwieriger zu finden. Es ist, als ob sich das schützende Schneckenhaus im Säurebad der Digitalisierung auflösen würde und der Einzelne immer entblößter vor den Augen der anderen sein beschämend kreatürliches Dasein fristen müsste. Hier ist die exponierte Seele des Einzelnen nicht nur den Blicken der anderen Anwender ausgeliefert. Sie ist auch vom kalten Lärm und den grellen Bildschirmen umstellt.

Die Flucht nach vorne ist eine Flucht vor der beständigen Objektivierung in den Augen der Anderen. Sie ist auch eine Flucht vor der perfekten Kälte der Apparate in die optimierten Bilder. Die makellosen Apparate selbst funktionieren auch noch ohne Maschinenlärm. Kein Ölgeruch tritt aus ihnen aus. Keine einrastenden Schalter oder Hebel sind an ihnen zu bedienen. Alles kommt sanft, intuitiv bedienbar und geschmeidig daher. Hier wird die Lage kompliziert. Die uns umgebenden Maschinen haben ein glattes, freundlich-serviles Antlitz und sind doch Maschinen. Blitzschnell rechnende Maschinen, die die Maschinisten (und wir sind heute alle Maschinisten) nicht mehr verstehen können. Denn wir sind langsam, schneckenhaft langsam in unserer Entwicklung, in unserem Fühlen. In unserer »fleischlichen Tölpelhaftigkeit« und »kreatürlichen Ungenauigkeit« schämen wir uns nicht nur im selbstoptimierten Umgang voreinander, sondern »vor den Augen der perfekten Apparaturen«35 selbst.

Postdigital: Medienkritik im 21. Jahrhundert

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