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Mythos

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Dabei entwickelt sich das digitale Gebaren der weltweiten Anwendergemeinde zum magisch-mythischen Verhalten der Gegenwart. Zu keiner Tages- und Nachtzeit werden die Rituale vernachlässigt. Darin bescheidet sich der Inhalt selbst in der unendlichen Verdopplung des empirisch Gegebenen. Die obligatorischen Bilder vom Sonntagsspaziergang, vom Stadionbesuch, vom Essen im Restaurant sind allesamt Teil eines Bilderkultes, über den sich die Anwender ihrer Technikgläubigkeit vergewissern. Dabei lässt sich – der Aufklärungsdialektik Adornos folgend – genau hier die folgende Ambivalenz ausmachen: Während das reale Leben über die beständige Bebilderung immer weniger rätselhaft und immer weniger geheimnisvoll wird, findet genau über diesen sinnentleerten Aktionismus die Gesellschaft in den Mythos zurück. Das mediale Handeln ist der heutige irrationale Auswuchs der durchrationalisierten Gesellschaft. Die Digitalisierung von Allem – der Erdoberfläche, des Nachthimmels, der Geburt und des Sterbens – macht ein heutiges An-der-Maschine-Vorbeiexistieren faktisch immer unmöglicher. Man kann sich ihr nicht mehr entziehen.

Im Zuge dieser Überlegungen wird der ontologisch höherstehende Apparat immer realer. Der »Endzustand, in dem es Einzelmaschinen deshalb nicht mehr geben wird, weil diese dann alle als Maschinenteile in den Schoß der einen allein seligmachenden Maschine eingegangen sein werden«, erscheint heute mit dem weltumspannenden Computernetzwerk verwirklicht. Wir befinden uns mit unseren tragbaren Konvergenzmedien überall und zu jeder Zeit im »gerät-eschatologischen Reiche der Glückseligkeit«45. Unselig derjenige, der sich ihm verweigert. Ketzerisch derjenige, der dem Gebot des Bildschirms nicht folgt. Dem »unbeschreiblichen elektronischen Gott«, den Lewis Mumford einst proklamierte, soll ohne Unterbrechung gehuldigt werden.46 Zentral hier der permanent verabreichte, vorschriftsmäßige Spaß am Gerät. Wobei sich die Fun-Rituale der Community immer weiter ausdifferenzieren. Waren es vor fünfzehn Jahren noch erste MP3-Player- und Kamerahardwares, die in Handys verbaut wurden, sind es heute die Gesichtserkennungsfunktion und kabellose Ladetechnologie, die bei der Nutzung des Geräts zu noch mehr Komfort und Unterhaltung beitragen. Bei Adorno und Horkheimer war es bereits die »fortwährende Anpassung an neue technische Bedingungen«, bei gleichzeitiger Verwirklichung eines totalitären ökonomischen Diktats. Sie sprechen von drei verschiedenen Kulten, die den Medien ihrer Zeit implizit sind: 1. dem »Kultus der Tatsache«, 2. dem »Kultus des Billigen« und 3. dem »Kultus der Prominenz«47.

Ein Blick in die Sozialen Medien unserer Zeit bestätigen jede einzelne ihrer Kulttheorien. Die unendliche Bebilderung der alltäglichen Handlungen, die über Follower, Likes und Kommentare gereiht werden, unterliegt ausnahmslos den Regeln des Aufmerksamkeitskapitalismus. Es sind, ihrer »Dialektik der Aufklärung« entsprechend, die neuen religiösen Handlungen des kulturindustriellen Zeitalters. Im Zentrum dieser Mythologie steht bei beiden der folgende Widerspruch: Der für die Befreiung des Menschen aus den Zwängen der Natur wesentliche technische Fortschritt erfährt seine totale Überhöhung in einer durchrationalisierten Industriegesellschaft. Er katapultiert sich mit seiner Technik so weit übers Ziel hinaus, dass sich mittlerweile eine ontologische Inversion des Mensch-Maschine-Verhältnisses vollzogen hat. Der Mensch ist nicht mehr das Subjekt der Geschichte, sondern die Technik. Die Allgegenwärtigkeit und Intensität der Computerisierung macht Technik mehr denn je zum neuen Mythos. Sie ist da, weil sie da ist. Sie ist Verheißung, Schicksal. Einem antiken Ritual folgend sind es nicht mehr die Gedärme der Opfertiere, die wir prognostisch lesen zu lernen haben, »sondern die der Apparate. Diese verraten uns die Welt von morgen und den Typ unserer Kindeskinder, sofern es solche noch geben wird«48. Das Endstadium der Menschheit ist laut Vertretern des Transhumanismus offiziell erreicht.

Dass der Mensch heute nicht mehr ohne Technik denkbar ist und in Zukunft immer weniger »nur« Mensch sein kann, sondern sich immer mehr in eine technologische Kreatur verwandeln wird, ist keine eigenwillige, überzogene Deutung eines sensiblen Kulturkritikers mehr. Die Antiquiertheit des Menschen ist im Zuge transhumanistischer Überlegungen weder Provokation noch Kritik, sondern vielmehr das Gegenteil: das Hochhalten einer nahenden paradiesartigen Zukunft, in der android- bzw. cyborgartige Zwitterwesen sich der Unvollkommenheiten – »des Makels« – der menschlichen Existenz entledigt haben. Es ist heute faktisch so, wie der Futurologe Anders es einst provokativ formulierte: Der Mensch ist antiquiert. Nicht er ist mehr das Maß der Dinge, sondern die ihn umgebende Technik. Auch wenn die Ideen des Transhumanismus für den Einzelnen im Alltag noch nicht wirklich ins Gewicht fallen und noch als fortschrittsromantische Verheißung aus Kalifornien einzustufen sind – die Entwicklung des literalen, tiefenaufmerksamen Menschen hin zu digitalen, hyperaufmerksam-roboterartigen Hybridwesen findet unaufhaltsam statt. Wir sehen es exemplarisch an den hoch subventionierten Bemühungen der Kultusministerien, die Schulen zu computerisieren. Insbesondere die Problematik der Auslagerung von Erkenntnis in die algorithmisierten Programme, die pausenlose Nähe zum Gerät sowie der unumstößliche Glaube an die Notwendigkeit der Entwicklung geben darüber Aufschluss.

Anders’ Übertragung des anthropologischen Initiationsritus in die Technik fand unter dem Vorzeichen des »Human Engineering« statt. Bereits damals wurden zahlreiche Experimente im Bereich der Verschränkung von Technik und Mensch durchgeführt, die Anders zum Anlass nahm, seine Umkehrung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses und die gleichzeitige Minderwertigkeit des Menschen im Angesicht der selbstgeschaffenen Technik zu untermauern. Die Aufnahme in die Gemeinschaft der Erwachsenen, also »in die Zahl derer, die ›zählen‹«, fand dabei nicht mehr nur über das Gerät statt, sondern waren bei ihm bereits die Geräte selbst. Die Versuchspersonen des »Human Engineering« waren die »Neophyten« einer neuen, sich weltweit ansiedelnden Spezies, deren Kindheit und Pubertät in der erwachsenen Anwendung des Geräts endete. Anders sah im Wunsch, sich dem Gerät so gut wie möglich anzugleichen, das »summum bonum totaler Anwendbarkeit«49. Die Initiation der neuen Lebensphase war dann geglückt, wenn der Einzelne sich der ihm natürlich innewohnenden Spontaneität und Menschlichkeit entledigt hatte, wenn er also seine Passivierung und Verdinglichung vorangetrieben hatte und so selbst zur Maschine geworden war. Anders erkannte hier die »Klimax der Dehumanisierung«50.

Insbesondere die Rolle des heutigen »Anwenders« gewinnt im Kontext der hier angestellten Bezugnahmen auf Anders’ Initiationsritus im Roboterzeitalter eine neue Qualität. Der Begriff »Anwender« verdeutlicht die strukturelle Unmöglichkeit wirklich autonomer Aktivität und Freiheit. Die verschiedenen medialen Setzungen zwingen den Einzelnen ohne Pause in verschiedene vorgegebene Anwendungsmodi, denen er nicht mehr entkommen kann.

Postdigital: Medienkritik im 21. Jahrhundert

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