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PROLOG

Remscheid – Küppelstein

Montag, 8. Oktober 2012

14:30 Uhr

Dr. Ferdinand Böker dachte an diesem herrlichen frühen Herbsttag nicht an den Tod. Durch das offene Fenster blickte er hinauf in einen Himmel, der für die hiesigen Breitengrade das eher seltene tiefe Blau des Südens trug. Für einen Moment schloss er die Augen, genoss die wohlige Wärme und überlegte, später noch einen Spaziergang zu machen. Doch zunächst wartete noch eine Menge Arbeit auf ihn. Er wollte die neuen Objekte, die am Vormittag aus Südamerika eingetroffen waren, fotografieren und katalogisieren. So bemerkte er das Auto nicht, welches langsam an seinem Anwesen vorbeifuhr und in sicherer Entfernung anhielt.

Der Fahrer schaute kurz in den Rückspiegel, schnappte sich seinen Rucksack von der Rückbank und stieg langsam aus. Alles deutete darauf hin, dass der Fremde nur bewundernd das historische Gebäude betrachten wollte, so wie es fast täglich unzählige Male geschah. Viele Wanderer machten mittlerweile vor nichts mehr halt.

Die stattliche, bergische Fabrikantenvilla lag etwas abseits auf einer Anhöhe, umgeben von Wiesen und Feldern in einer wunderschönen Landschaft und war zu Beginn des 19. Jahrhundert erbaut worden. Im Foyer der Villa standen Vitrinen, die mit ethnischen Objekten vergangener Kulturen aus Südamerika gefüllt waren. Dr. Ferdinand Böker war gerade im Begriff, einen der Schaukästen zu öffnen, als er ein Geräusch vernahm. Die schwere Haustür fiel hinter ihm ins Schloss. Er fuhr herum und erblickte eine schwarze Silhouette, die aus dem Schatten trat. Fast noch im gleichen Atemzug erkannte er das breite Messer mit sichelförmiger Klinge und senkrechtem Mittelgriff. Sofort wusste er, was es war: Ein Tumi, oder besser gesagt ein breites Ritualmesser der altperuanischen Völker.

Dr. Ferdinand Böker stieß einen Schrei aus, der jedoch verstummte, da ihm ein Lappen in den Mund gestopft wurde. Der Geschmack von Öl und Fett ließ ihn würgen. Gleichzeitig schleuderte ihn der Unbekannte gegen die Wand. Fremde Hände in Latexhandschuhen drückten ihn auf den Boden. Eine unbekannte Stimme kroch ihm über die Haut. Es war ein boshaftes Flüstern, fast schon ein Grunzen, das ihm ausmalte, was der Maskierte mit ihm anstellen würde, wenn er sich wehrte. Er versuchte es trotzdem, aber sein Gegner war stärker. Eine behandschuhte Faust traf ihn mitten ins Gesicht.

Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen und er schluckte Blut. Dann spürte er die kalte Klinge an seiner Kehle. Wieder konnte er nicht einmal mehr schreien, als das Opfermesser in ihn eindrang. Mit ein paar kräftigen Schnitten wurde der Kopf vom Rest des Körpers getrennt, und der blutige Rumpf glitt zu Boden.

Der Mann wusste genau, wonach er suchte. Gezielt griff er in die geöffneten Vitrinen und nahm sich, was er wollte. Vorsichtig packte er die Gegenstände in seinen Rucksack. Dann blickte er noch einmal auf den Toten. Die Augen des abgetrennten Kopfes starrten ihn leblos an. Er atmete tief ein, um den Geruch des Blutes in sich aufzunehmen. Dann führte er sein Werk zügig zu Ende, indem er den Kopf in östliche Richtung drehte. Vorsichtig … ganz vorsichtig …

Später würden ihm die Beamten der Remscheider Polizeiinspektion den Namen Ritualmörder geben, die Presse würde sofort darauf anspringen, und ihm würde der Name gefallen …

Remscheid – Küppelstein

18:30 Uhr

Polizeihauptmeister Günter Mäurer von der Polizeiinspektion Remscheid sah sich in der Eingangshalle der Villa um und verspürte ein flaues Gefühl in der Magengegend, so wie jedes Mal, wenn er einen Mord zu untersuchen hatte. Für die Familie Böker war hier der schlimmste Albtraum, den sich Angehörige und Freunde überhaupt ausmalen konnten, zu einer schrecklichen Wirklichkeit geworden.

Um Mäurer herum herrschte reges Treiben. Dabei handelte es sich um die gleiche Geräuschkulisse wie sonst an jedem anderen Tatort: Das Klicken einer Kamera, gedämpftes Tuscheln, das Klingeln eines Handys und das Quietschen eines Aufnahmegerätes. Die Geräusche waren ihm vertraut, der Umgang mit ihnen reine Routine, seit er vor vielen Jahren bei der Polizei angefangen hatte. Nur, dass dieses Mal das Opfer prominent war, und der Fall von Presse und Öffentlichkeit besonders verfolgt werden würde. Und Hauptmeister Mäurer wollte sich einen Überblick verschaffen, noch ehe die „hohen Tiere“ aus Wuppertal eintrafen. Eine erste Bestandsaufnahme vornehmen, nannte er sein Vorgehen. Das Polizeipräsidium in Wuppertal war als Kriminalhauptstelle zuständig für das bergische Städtedreieck: Wuppertal, Remscheid und Solingen. Daher standen die kleineren Polizeiinspektionen der Städte Remscheid und Solingen in stetigem Konkurrenzkampf mit dem großen Rivalen aus Wuppertal. Besonders die wichtigen und politisch relevanten Fälle wurden ihnen meistens aus den Händen genommen.

Nachdenklich ließ Mäurer seinen Blick umherschweifen. Im Eingangsbereich der Villa befanden sich mehrere Vitrinen mit seltsam anmutenden Objekten. Gerade war sein Partner Peter Kleinschmidt eingetroffen, der von allen nur Pitter genannt wurde. Kleinschmidt winkte ihm zu und gesellte sich zu den Kollegen von der Spurensicherung, die schon fleißig bei der Arbeit waren. Sie stellten am Tatort Fingerabdrücke und andere Spuren sicher, nahmen Blutproben und sammelten die Leichenteile ein. Daneben wurde fotografiert und vermessen. Später würden sie auch bei der Autopsie zugegen sein und abermals die Leiche fotografieren. Die Untersuchungsergebnisse würden zuerst auf seinem Schreibtisch landen, doch wenn er nicht schnell genug eine erfolgreiche Ermittlungsarbeit vorweisen konnte, würden sich die Kollegen aus Wuppertal einschalten und ihm den Fall aus den Händen nehmen. Das mochte er von allem am wenigsten. Also galt es, eine Mordkommission zu bilden und zu ermitteln, was das Zeug hielt. Mäurer wusste auch, dass sein Vorgesetzter kurz vor der Pensionierung stand und nun alles, was zwei Beine hatte, zum Tatort schicken würde. Das war durchaus verständlich, wollte er doch der Öffentlichkeit die Lösung eines letzten großen Falles präsentieren, ehe er sich vom Acker machte. Dazu kam noch die Tatsache, dass ein Mord, begangen auf solch grauenhafte Art und Weise, nun einmal keine Nebensache für eine ansonsten friedliche Kleinstadt war, in der vorwiegend Arbeiterfamilien lebten und eine Mordstatistik so gut wie überhaupt nicht existierte.

Peter Kleinschmidt alias Pitter kam zu ihm herüber.

„Bei dem Toten handelt es sich um Dr. Ferdinand Böker, sagt dir der Name etwas?“

Günter Mäurer nickte nachdenklich.

„Ich habe über ihn in der Zeitung gelesen. Er ist Kunstsammler und eine weit über das Bergische Land hinaus bekannte Persönlichkeit. Dieser verdammte Mord wird ganz schön für Aufsehen sorgen. Eine scheußliche Geschichte! Abgeschlachtet wie ein Tier hat man ihn. Seine Tochter, die ihn gefunden hat, steht unter einem schweren Schock.“

Er zog Pitter in eine ruhigere Ecke, um den Kollegen von der Spurensicherung nicht im Wege zu stehen. Dann sprach er weiter.

„Die Arme ist kaum ansprechbar. Der Arzt hat ihr schon etwas zur Beruhigung gegeben.“

„Vielleicht sollten wir die Polizeipsychologin …?“

„Daran habe ich auch schon gedacht. Das können wir in jedem Fall noch nachholen. Wenigstens ist sie im Moment nicht alleine. Ihr Freund ist bei ihr. Auch wenn ich nicht so recht weiß, was ich von ihm halten soll.“

„Das tut doch gar nichts zur Sache. Hauptsache, jemand ist bei ihr. Den eigenen Vater ermordet und geköpft aufzufinden. Stell dir das bloß einmal vor. Glaubst du an einen Raubmord?“ Pitter besah sich die große Menge an Blut, die das Opfer verloren hatte, als es so grausam geköpft worden war.

„Kann ich mir schlecht vorstellen, so, wie man Dr. Böker zugerichtet hat.“

„Was dann?“

Jetzt schaute Günter Mäurer direkt auf die blutige Masse, die gerade von den Kollegen der Spusi von allen Seiten fotografiert wurde. Seine Miene verdunkelte sich.

„Auf jeden Fall keine Gelegenheitstat. Wir sollten zuerst sein engeres Umfeld unter die Lupe nehmen. Vielleicht stoßen wir dort auf etwas …?“

„Das wäre aber ein bisschen zu schön, um wahr zu sein. Ich meine, wenn wir den Kerl bald dingfest machen könnten, weil er zum Bekanntenkreis der Familie Böker gehört.“

Mäurer nickte in Gedanken versunken und spürte, wie Pitter ihn am Arm berührte. Gleichzeitig beugte er sich vor und fragte: „Wie geht es eigentlich deiner Heidrun?“

Sofort war er da, der Kloß im Hals, als Mäurer an seine Frau erinnert wurde. Vor einiger Zeit hatten die Ärzte bei Heidrun die Parkinson-Krankheit diagnostiziert. Seitdem hatte sie sich zwar aufgerafft und noch weitere Ärzte konsultiert, allerdings nur mit sehr bescheidenem Erfolg. Und nun machten sich die ersten Anzeichen von Resignation bei ihr bemerkbar. Dazu verschlechterte sich ihr Zustand stetig.

„Also, was ist mit dir selbst?“, fragte Pitter weiter. „Wie lange hältst du noch so tapfer durch?“

„Keine Ahnung“, brachte Günter Mäurer heraus, doch sein kurzes Stocken verriet, wie es wirklich in ihm aussah. „Ich tue eben, was ich kann!“

Zum Glück hakte Pitter nicht weiter nach, sondern drückte stattdessen noch einmal mitfühlend den Arm seines langjährigen Partners. Mäurer verdrängte die Gedanken an seine kranke Ehefrau zunächst genauso wie alle Vermutungen, die sich ihm beim Anblick des toten Böker aufdrängen wollten. Trotzdem hatte ihn der erste, direkte Blick auf das Opfer wie ein brutaler Schlag getroffen. Dr. Ferdinand Böker war mit einem gekonnten Hieb getötet und danach geköpft worden. Alles deutete darauf hin, dass sich der Mörder im Handhaben der Tatwaffe bestens ausgekannt haben musste.

Mäurer warf seinem Partner einen kurzen Blick zu. „Hat man die Tatwaffe bereits gefunden?“

Der legte seine Stirn in Falten. „Bisher noch nicht, Günter. Muss aber ein außergewöhnlich scharfes Messer oder so etwas Ähnliches gewesen sein …“

„Das sehe ich genauso. Was wissen wir über die Tochter des Toten?“

„Leider nichts, was uns wirklich weiterhilft. Sie hat die Leiche nicht angerührt. Kam aus der Eifel, um ihren Vater zu besuchen, betrat das Haus, sah die Bescherung und begann zu schreien. Seither hat sie sich noch nicht wieder gefangen. Die Haushälterin, die zur Tatzeit ebenfalls außer Haus war, hat die völlig hysterische Sophie Böker vorgefunden und dann sofort die Polizei und den Freund der Dame verständigt.“

„Und die Haushälterin? Ist die bereits überprüft worden?“

Pitter nickte bestätigend. „Das haben wir sofort erledigt. So unvorstellbar sich es auch anhört, aber bei den meisten Morden findet man die Täter in der eigenen Familie wieder. Aber ich glaube nicht, dass es eine Frau war. Ich meine, es gehört verdammt viel Kraft dazu, einem erwachsenen Menschen den Kopf vom Rumpf abzuschneiden.“

„Du glaubst also auch an die alte Weisheit, die besagt, dass Frauen eher mit Gift morden?“

„Oder morden lassen. Weiß man’s?“

Langsam beschlich die beiden eine böse Vorahnung. Das hier war das Werk eines unbekannten Verrückten, der möglicherweise schon einmal getötet hatte und der mit großer Wahrscheinlichkeit wieder töten würde …

„Wir sollten den Computer dazu befragen. Wir haben ein Ritualmesser und ein geköpftes Opfer. Falls es Parallelen zu anderen Fällen gibt, spuckt er vielleicht etwas aus.“

„Mm … keine schlechte Idee. Da können wir gleich im ganzen Bundesgebiet nachschauen. Vielleicht hat das Schwein schon vorher irgendwo anders zugeschlagen. Was sagt die Spusi zum Tathergang?“

„Die Untersuchungen sind noch voll im Gange, Günter. Es sieht aber nicht so aus, als sei der Kerl durch das Fenster ins Haus eingedrungen. Das Glas ist heil und am Rahmen sind bisher keine fremden Spuren gefunden worden. Aber die Spusi will sich noch einmal die komplette Fensterreihe vornehmen.“

„Sicher ist sicher! Gibt es irgendwelche Fußabdrücke vor dem Haus?“ Mäurer stellte seine Fragen jetzt automatisch.

„Nein, nichts. Es hat allerdings lange Zeit nicht geregnet. Da draußen ist alles knochentrocken. Nur ein Schutzgitter ist fein säuberlich durchgeschnitten worden.“

Kommissar Mäurer legte eine Hand in seinen Nacken.

„Was hat das bloß alles zu bedeuten? Sag es mir bitte, Pitter.“

Sein Partner zuckte mit den Schultern.

„Scheiße, ich weiß es doch auch nicht. Nur, dass der Typ ein verrücktes, krankes Schwein ist, dem man bei lebendigem Leib die Haut abziehen sollte …“

Günter Mäurer sah seinen Kollegen an. Dann sagte er mit zusammengebissenen Zähnen: „Und genau das werden wir auch tun. Wenn wir ihn doch bloß schon hätten …“

Eifel-Wahn

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