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Оглавление1. KAPITEL
Remscheid – Küppelstein
Montag, 06. Mai 2013
07:55 Uhr
Die Morgendämmerung war schon längst hereingebrochen. Jenes seltsame, beinahe mystische Vorspiel des Tages, wenn es für kurze Zeit irgendwie hell und dunkel zugleich ist. In wenigen Augenblicken würde die aufgehende Sonne den noch dunklen Himmel durchbrechen und in eine glühende Feuerbrunst verwandeln. Dann würden die Schatten der Nacht endgültig verschwinden, und das Gezwitscher der Vögel die Umgebung erfüllen.
Roger Peters liebte diesen Moment wie keinen anderen und beobachtete das sich langsam verändernde Licht am Horizont, noch ehe es zu einem rötlich-gelben Streifen heranwuchs. Und heute war ein ganz besonderer Tag. Nach vielen, langen Monaten in der Eifel war er erstmals wieder in seine Heimatstadt Remscheid zurückgekehrt und stand nun am Fuße einer breiten Steintreppe, die zum ersten Stockwerk einer großen Villa hinaufführte. Beeindruckt ließ er seinen Blick an den massiven Säulen, den glitzernden Steinskulpturen und der blitzblank geputzten Fensterfront entlanggleiten. Im Ganzen gab es zwei Stockwerke. Hier und da drang gedämpftes Licht durch die geschlossenen Vorhänge nach draußen. Aus einem der Schornsteine des Walmdachs stieg Rauch auf. Das schieferbedeckte Gebäude strahlte eine wohlhabende Würde aus. „Alter Adel und der damit verbundene Stolz“, dachte Roger Peters, während er seinen Blick noch einmal über die altehrwürdige Fassade schweifen ließ. Dann ließ er den Messingklopfer gegen das schwere Holzportal fallen. Das Echo des dumpfen Schlages hallte gespenstisch durch die frühe Morgenstille. Gegen ein seltsames Gefühl ankämpfend, blickte er noch einmal zum Himmel hinauf, um sich des einmaligen Farbenspiels zu vergewissern. Auf einmal öffnete sich hinter ihm ein Türflügel und eine Dame in weißer Dienstbotenmontur stand vor ihm. Völlig unberührt nahm sie ihn in Augenschein. Sie war etwa Ende dreißig, schlank, blond und hochgewachsen.
„Ist doch eigentlich wie in einem Film“, schoss es ihm durch den Kopf und er musste über sich selber lachen.
„Guten Morgen, mein Herr“, begrüßte ihn die schlanke Dame höflich, aber bestimmt und wich wie ein Türsteher nicht von der Stelle. „Wen darf ich melden?“
„Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen schönen guten Morgen. Mein Name ist Roger Peters. Ich glaube, Frau Böker erwartet mich bereits …“
„Aha, Sie müssen der Reiseschriftsteller sein“, stellte sie offenbar unbeeindruckt fest, musterte ihn weiterhin misstrauisch, machte jedoch keine Anstalten, den Weg freizugeben.
„Soviel ich weiß, werden Sie erst in den frühen Nachmittagsstunden erwartet?“
„Das mag wohl richtig sein, aber ich bin halt schon früher gekommen …“ Dabei lächelte er verschmitzt, schob die Dame sanft beiseite und betrat das geräumige Foyer.
„Wenn Sie so freundlich wären und Frau Böker darüber informieren würden, dass ich bereits eingetroffen bin …“ Er machte Anstalten sie wegzuschicken, doch die Haushälterin reagierte nicht sofort, sondern schloss zuerst in aller Ruhe die Tür von innen ab, beobachtete den seltsamen Besucher mit strenger Miene, deutete dann auf einen der zierlichen Plüsch-Sessel und meinte: „Wenn Sie bitte hier warten wollen. Ich werde sehen, ob Sophie Sie jetzt schon empfangen möchte.“
„Danke, sehr freundlich“, erwiderte Roger geistesabwesend. Er hatte vor der gegenüberliegenden Wand eine Vitrine mit alten Keramiken entdeckt. Die Hausdame huschte lautlos davon und Roger studierte das erste Tongefäß und wandte sich dann dem nächsten zu. „Ein zoomorphisches Bügelgefäß in Gestalt eines Tieres, durchaus bemerkenswert“, dachte er und schlenderte durch das Foyer wie durch eine Galerie. Überall standen Vitrinen herum, die ethnologische Objekte enthielten. Er machte Halt vor etwas, das wie ein beheiztes Aquarium aussah und bei näherem Betrachten auch gar nichts anderes war. Nur dass dieses Aquarium eine Sammlung von äußerst wertvollen Grabtüchern enthielt, die in der Tat beheizt und vor Luftfeuchtigkeit geschützt werden mussten.
„Das Haus hier scheint mir ein wahres Museum zu sein“, dachte er noch, während er die kostbaren Paracas-Tücher näher betrachtete. Seiner Ansicht nach sollten solche Kunstschätze der Öffentlichkeit zugängig gemacht werden, damit möglichst viele Menschen sie ansehen und sich an den Hinterlassenschaften vergangener Hochkulturen erfreuen konnten.
„Ob hier überhaupt jemand wohnt?“, fragte er sich unwillkürlich und berührte mit seinen Fingern vorsichtig die geschliffene Oberfläche des Glaskastens.
Der Klang gedämpfter Stimmen riss ihn aus seinen Beobachtungen. Er drehte sich um und lauschte unvermittelt dem Geflüster.
„Und du denkst, er ist wirklich ein Experte auf dem Gebiet präkolumbischer Kulturen?“, fragte eine leise Männerstimme.
„Aber sicher doch, mein Schatz. Oder glaubst du, ich würde ihn sonst an all diese schönen Dinge heranlassen, die du hier siehst?“, antwortete eine Frauenstimme.
Kein Kommentar.
„Mitnichten“, sagte dieselbe weibliche Stimme. „Und außerdem gefällt mir seine Art zu leben. Ich denke, von seinen Erlebnissen in Südamerika können wir beide eine Menge lernen.“
„Na ja, aber er ist doch nur so etwas wie ein Hobbyarchäologe mit gewissen Instinkten, nicht wahr? Ich meine, so richtig studiert hat er ja wohl nicht, oder?“
„Sagen wir, er besitzt gewisse Erfahrung und am besten, wir lassen ihn erst einmal anfangen. Ein Experte für ethnische Kunst ist er allemal.“
„Na prima, dann hast du ja genau den Richtigen gefunden. Vielleicht findest du durch ihn auch endgültig wieder in die Spur zurück. Die grausame Geschichte mit deinem Vater muss einfach raus aus deinem Kopf!“
Roger hörte ein weibliches Seufzen, etwas klirrte, Flüssigkeit wurde in ein Glas geschüttet. Anscheinend genehmigte sich die Hausherrin einen Drink. Etwas wurde abgestellt. Das Gespräch ging weiter.
„Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich ihn überhaupt als unterhaltsam empfinden werde …“, sagte die weibliche Stimme mit einem zweifelnden Unterton.
„Sicher hat er fettiges Haar, streng nach hinten gekämmt und eine lange spitze Nase, auf der eine altmodische Hornbrille mit dicken Gläsern sitzt. Dazu trägt er wahrscheinlich einen dieser fürchterlich ausgebeulten Cordanzüge und solide Schnürschuhe mit abgelaufener Gummisohle. So sehen doch die meisten Gelehrten heutzutage aus! Dazu bin ich mir ziemlich sicher, dass er schon weit über fünfzig ist …“
„Zweiundvierzig!“
Mit einem ploppenden Geräusch fuhren die beiden Gesprächspartner in einer simultanen Bewegung zusammen und erstarrten.
„Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Böker“, sagte Roger Peters fröhlich. Er trat aus dem Flur, ging einen Schritt auf die beiden zu und streckte der Dame des Hauses seine Hand entgegen. Sophie schüttelte sie mit ihrer rechten, sagte aber zunächst kein Wort. Stattdessen stellte sie mit der linken Hand ihr Glas ab. Eine gewisse Unruhe hatte sie erfasst, die sie sich gar nicht erklären konnte.
„Also, ja dann … ich …“, stammelte sie dann doch und warf dem unerwarteten Besucher einen verlegenen Blick zu, besann sich jedoch schnell eines Besseren und schenkte ihm prompt ein strahlendes Lächeln.
„Jetzt weiß ich wirklich nicht, ob ich mich entschuldigen oder schämen soll!“, sagte sie verlegen.
„Ach was, machen Sie sich bloß keinen Kopf“, antwortete Roger scherzend und wandte sich an ihren männlichen Begleiter.
„Und Sie müssen Felix Wagner sein, nicht wahr? Wir haben in den vergangenen Wochen mehrfach miteinander telefoniert. Freut mich sehr, Sie nun auch persönlich kennenzulernen.“
Sophie hatte sich anscheinend gefangen. Jedenfalls antwortete sie an seiner Stelle: „Die Freude ist ganz auf unserer Seite, Herr Peters, auch wenn Sie eigentlich ein wenig zu früh dran sind. Aber nehmen Sie doch Platz. Dürfen wir Ihnen etwas anbieten?“
„Danke, gern. Ich würde mich durchaus mit einer Tasse Kaffee zufrieden geben“, antwortete Roger, setzte sich in einen der bequemen Plüschsessel und grinste verschmitzt. Sophie gab Felix ein Zeichen und ließ sich ihrerseits in einen anderen Sessel fallen, zündete sich eine Zigarette an und fixierte ihren frühen Besucher aus tiefgrünen Augen. Die Pupillen waren allerdings beileibe nicht das einzig Grüne an ihr. In diesem Augenblick konnte sich Roger tatsächlich niemanden mehr grünfarben vorstellen als Sophie Böker, die ihm jetzt direkt gegenüber saß. Sie hatte ihre lindgrüne Strickjacke abgestreift, trug aber darunter eine passende Bluse im gleichen Farbton, sowie eine enge, blaugrüne Dreiviertelhose. Dem Ganzen hatte sie noch ein paar weitere, farblich übereinstimmende Details hinzugefügt: Pumps mit hohen Keilabsätzen und Knöchelschnallen in dunkel-grün, Ohrringe mit grünen und türkisfarbenen Glaseinsätzen, die an Scherben einer gebrochenen Flasche erinnerten, sowie einen dick aufgetragenen, metallic-grünen Lidschatten.
„Was für eine Kombination“, dachte Roger, während sein Blick im Erdgeschoss des Hauses umherschweifte. Hinter der Eingangshalle mit den Vitrinen befand sich ein großer, rechteckiger Raum mit eleganter Holzvertäfelung, einer Hausbar und einem aufwendig verarbeiteten Kamin aus geschmiedetem Eisen und rustikalen Backsteinziegeln an der Wandseite. Darüber hing ein großer, antiker Spiegel mit der Aufschrift einer schottischen Whiskeybrauerei. Zum Schluss ließen dicke Perserteppiche auf einem blank gebohnerten Holzparkett diesen Raum irgendwie an den Salon eines alten, englischen Pubs erinnern. „Zu muffig“, beurteilte Roger Peters spontan die steife Eleganz, die aber wiederum ausgezeichnet zu den antiken Ausgrabungsgegenständen in der Eingangshalle passte.
„Herr Peters, bitte bedienen Sie sich.“
Sophie lenkte seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf sich, indem sie auf die blitzblank geputzte Dröppelminna zeigte, wie man die Kranenkanne im Bergischen nannte, welche die Hausangestellte in der Zwischenzeit gebracht hatte. Ihre Blicke, in denen sich unverhohlene Neugier spiegelte, trafen sich, ruhten für einen Augenblick aufeinander, ehe sich Roger fast schon aus purer Verlegenheit auf den verzierten Silberlöffel in seiner Kaffeetasse konzentrierte. Ohne zu überlegen, hatte er schon die dritte Ladung Zucker hineingegeben.
Nachdem die Hausangestellte das Foyer verlassen hatte, nahm die Unterhaltung zwischen Sophie und Roger erst so richtig Fahrt auf.
„Vielleicht sollten wir vorab kurz das Geschäftliche besprechen?“, meinte sie.
„Selbstverständlich“, stimmte er zu, trank zunächst seinen Kaffee aus und stellte die Tasse dann auf das zierliche Tischchen neben sich.
„Bevorzugen Sie eine starre Arbeitsregelung, also eine festgelegte Stundenzahl pro Tag, oder möchten Sie das Ganze lieber individuell gestalten?“
„Individuell?“, wiederholte Sophie verblüfft und warf ihrem Freund, der in der Zwischenzeit zurückgekommen war und sich jetzt ebenfalls an der Dröppelminna bediente, einen fragenden Blick zu.
„Sie wissen doch sicher, was ich meine?“, fügte Roger hinzu. „Ohne ein festes Schema sozusagen. Ich für mich selbst arbeite auch schon mal gern bei Nacht.“
„Ah, jetzt verstehe ich.“ Sophie nickte amüsiert. Dieser Roger Peters entsprach eindeutig nicht ihrer bisherigen Vorstellung von einem Gelehrten.
„Ich würde vorschlagen, wir nehmen es so, wie es kommt. Verschaffen Sie sich erst einmal einen allgemeinen Überblick, und dann sage ich Ihnen schon, worauf Sie sich als Erstes konzentrieren sollen.“
Roger musterte die „grüne“ Sophie für einen Augenblick, während sich ihr Freund ein zweites Mal aus der Dröppelminna bediente.
„Nicht unattraktiv für ihr Alter“, stellte Roger fest. In jüngeren Jahren musste sie sogar eine wirkliche Schönheit gewesen sein. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem strengen Zopf zusammengebunden. Ein exquisites Gesicht, fein geschnitten, mit hohen Wangenknochen. Man konnte fast annehmen, sie hätte mexikanisches Blut in sich. Sinnlich geschwungene Lippen, was ihm auf Anhieb gefiel. Ihre Kleidung war offensichtlich teuer und zu auffällig.
„Sei’s drum“, dachte er.
„Herr Wagner hat mir am Telefon erzählt, dass Sie etwas Hilfe gebrauchen könnten, Frau Böker?“
„Hilfe?“ Sophie rollte mit den Augen und räusperte sich. Dann schenkte sie ihm ein weiteres Lächeln.
„Na ja, so könnte man das wohl auch nennen. Die Vitrinen, die Bibliothek und der ganze Dachboden sind vollgepackt mit Kisten und Kartons. Ich werde das Haus verkaufen, deshalb muss alles in meinen Laden und soll nach Möglichkeit noch vorher erfasst und aufgelistet werden.“
„Na wenn das so ist … Wäre da nicht ein Möbelpacker der geeignetere Mann für Sie?“
„Die meisten Möbel bleiben hier und werden zusammen mit dem Haus verkauft. Nur ein paar Erinnerungsstücke, an denen mein Herz hängt, nehme ich mit.“
„Ich verstehe. Darf ich fragen, wie Sie ausgerechnet auf mich gekommen sind?“
„Sagen wir mal so, weil Ihnen in der Eifel ein gewisser Ruf vorauseilt. Unter anderem sollen Sie sich mit ethnischen Kunstgegenständen bestens auskennen. Ich habe ein paar Ihrer Berichte gelesen. Wirklich gute Arbeit, das muss man Ihnen lassen.“
„Die Archäologie ist halt zu einem Steckenpferd von mir geworden, besonders nach den vielen Jahren, die ich in Südamerika verbracht habe. Wenn es also um präkolumbische Objekte geht, dann bin ich mir sicher, dass wir gut zusammenarbeiten werden. Ehrlich gesagt, ich kann es kaum erwarten anzufangen. Die Sammlung Ihres Vaters gilt schließlich als eine der umfangreichsten auf der ganzen Welt. Oh, Pardon!“ Roger bemerkte seinen Fehler sofort. Er hätte sie nicht auf ihren Vater ansprechen dürfen. Schnell wechselte er das Thema und wandte sich an Herrn Wagner, der bisher überhaupt noch nicht zu Wort gekommen war.
„Also, ich nehme an, ich muss mich vor allem bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie mich für diese Tätigkeit vorgeschlagen haben, nicht wahr?“
„Nun, Sie, äh … ich habe mich natürlich über Sie erkundigt, nachdem Sophie und ich übereingekommen sind, in diesem Fall keinen offiziellen Weg zu gehen. Dafür ist die Sammlung ihres Vaters einfach zu bekannt, verstehen Sie?“
Bei dem Versuch, jenen Roger Peters, mit dem er öfters telefoniert und dessen Leumund er vorab sorgfältig überprüft hatte, mit diesem lockeren Gesellen in Verbindung zu bringen, der jetzt so entspannt vor ihm saß, geriet er unwillkürlich ins Stottern.
„Sie sagten, Sie haben viele Jahre in Lateinamerika verbracht?“
„Das ist richtig. Hauptsächlich in Kolumbien, Ecuador und Peru. Dabei hatte ich das Glück, namenhafte Archäologen auf ihre Grabungs-Expeditionen begleiten zu dürfen. Aber das ist Ihnen ja bereits alles bekannt.“
„Sicher, das ist es. Außerdem habe ich die Reiseberichte und Ihren ersten Roman gelesen. Gar nicht übel.“
„Vielen Dank für die Blumen, Herr Wagner“, erwiderte Roger.
„Kein Glück gehabt mit einem großen Verlag?“, wollte Felix plötzlich wissen. Für den Bruchteil einer Sekunde und für seinen Gesprächspartner kaum wahrnehmbar, verengten sich Rogers Augen.
„Leider noch nicht“, entgegnete er wahrheitsgemäß. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber Sophie kam ihm zuvor.
„Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich Sie allein lassen muss. Ausgerechnet jetzt, wo Sie doch gerade erst angekommen sind, aber ich muss auf einen Sprung in mein Geschäft. Ich habe einen Kunden, mit dem ich mich heute Vormittag treffen wollte, denn Sie, mein lieber Herr Peters, habe ich eigentlich erst am späten Nachmittag erwartet.“
Sie warf einen gehetzten Blick auf ihre Armbanduhr. „Großer Gott, ich bin bereits überfällig.“
„Machen Sie sich um mich bloß keine Sorgen“, sagte Roger mit verständnisvoller Miene und entschied für sich selbst: „Soll sie doch ruhig in ihren Laden gehen, dann kann ich mich hier einstweilen weiter umsehen.“
„Fein. Bis es dunkel wird, bin ich wieder zurück“, erwiderte Sophie, nahm ihre grüne Strickjacke von der Sessellehne und stöckelte auf die schwere Holztür zu, nur um abrupt vor ihr stehen zu bleiben, sich umzudrehen und etwas von ihren Autoschlüsseln zu faseln. „Die Frau ist wirklich eine Show.“
„Wo bin ich nur mit meinen Gedanken?“, sagte sie, ließ einen Seufzer hören, als sie den Schlüsselbund auf einem der kleinen Beistelltischchen entdeckte, schüttelte amüsiert den Kopf, sodass ihr langer Zopf gegen ihre leicht gebräunte Wange schlug und meinte: „Wenn ich in Eile bin, dann geht erst recht alles schief. Am besten, Sie meiden das Dachgeschoss für heute. Das Chaos dort oben könnte Sie so sehr verschrecken, dass Sie mir auf der Stelle davonlaufen, noch bevor Sie so richtig angefangen haben. Also dann, bis später …“
Als die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel, schnalzte Felix mit der Zunge. „Man soll gar nicht meinen, was sie für eine Energie besitzt. Aber sehen Sie sich hier im Haus erst einmal in aller Ruhe um, Herr Peters. Ich habe ebenfalls zu tun und lasse Sie jetzt für einen Moment allein. Später bin ich dann wieder bei Ihnen. Sollten Sie in der Zwischenzeit etwas benötigen, so klingeln Sie einfach nach Marlies, unserer Hausangestellten. Sie ist im Übrigen so etwas wie die gute Seele des Hauses.“
„Geht klar, Herr Wagner, dann bis später. Ihre gute Seele habe ich bereits kennengelernt.“
Fünfzehn Minuten später inspizierte Roger die verschiedenen Räumlichkeiten und registrierte fast automatisch die Lage und Form der einzelnen Zimmer. Gleichzeitig nahm der Schriftsteller in ihnen die besondere Atmosphäre wahr. Umgeben von Gerüchen nach Altertum und Staub betrachtete er die größte private Sammlung ethnischer Kulturobjekte, die er je gesehen hatte. Eine beleuchtete Vitrine nach der anderen nahm er in Augenschein und während er sich die Ausstellungsstücke genauer anschaute, musste er immer wieder gegen eine leise Verbitterung ankämpfen, die unwillkürlich in ihm aufstieg. Die gezeigten Objekte zeigten eine Qualität, die ihm in seinen Jahren als Ausgräber niemals untergekommen war. Gewiss, es waren lohnende und an Herausforderungen keineswegs arme Jahre gewesen. Er hatte in der Welt herumreisen und sich mit ganz unterschiedlichen, faszinierenden Kulturen beschäftigen können. Einige der von ihm ausgegrabenen Fundstücke waren jetzt in Museen rund um den Globus zu sehen, doch keines davon war mit den hier gezeigten Objekten auch nur im Geringsten vergleichbar.
„Und wenn ich vielleicht nur ein bisschen mehr Ausdauer gehabt hätte …?“, fragte er sich, verscheuchte jedoch rasch diesen Gedanken. Mit dieser Art von Leben war es nun endgültig vorbei. Zumindest für die nähere Zukunft. Man sollte ja nie etwas wirklich ausschließen. Er würde sich damit begnügen müssen, diese großartigen Zeugnisse der Vergangenheit mit dem unbeteiligten Blick eines dankbaren Besuchers zu bewundern.
Im Flur stand eine wunderschöne alte Standuhr. Die war ihm beim ersten flüchtigen Durchsehen überhaupt nicht aufgefallen. Roger blickte auf seine Armbanduhr, danach auf das Uhrwerk der Standuhr. Die Zeiten stimmten genauestens überein.
Auf seinem Erkundungsrundgang durch das untere Stockwerk stieß er in einem Hinterzimmer auf ein altes Steinway-Klavier. Sofort blieb er stehen und streichelte über das glänzende Mahagoni-Holz des Flügels. Verglichen mit dieser Kostbarkeit hier besaß der alte Kasten, der bei ihm zu Hause stand, nur noch Schrottwert. Achselzuckend wandte er sich ab, um sich den nächsten Raum anzuschauen. Das Arbeitszimmer.
Angelockt von einem Duftgemisch aus vermodertem Papier und abgestandenem Leder betrachtete er die Anhäufung von vergilbten Papieren, Dokumenten und verstaubten Aktenordnern. Mit Sicherheit war alles bereits durchgesehen und dann völlig ohne Konzept einfach irgendwo abgelegt worden. Er setzte sich auf einen verstaubten Bürostuhl und versuchte sich an einer raschen Bestandsaufnahme. „Konzeptlos“ war hier wirklich noch untertrieben. „Ein völliges Durcheinander“ wäre der richtigere Ausdruck gewesen. Was zum Teufel hatte er sich vorgestellt?
„Da kommt eine Menge Arbeit auf mich zu“, dachte er und vielleicht hätte es ihm sogar Spaß gemacht, wenn er Buchhalter und dies der einzige Grund für seine Anwesenheit gewesen wäre. Er ließ den Blick über die lange Regalwand gleiten, ehe er geistesabwesend irgendeinen Ordner herausnahm.
„Im Moment kann ich hier nicht viel tun“, überlegte er, ehe er sich mit dem Dokument in der Hand in einen dunkelgrünen Ledersessel fallen ließ, der hinter einem schweren Eichentisch stand.