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2. KAPITEL

Bad Münstereifel

Montag, 06. Mai 2013

10:12 Uhr

Sophie Böker fuhr mit ihrem metallic-grünen Mini Cooper auf die Parkfläche neben ihrem Laden in Bad Münstereifel und wunderte sich, dass dort noch alles frei war. Sie hatte sich verspätet, und so war ihr Kunde höchst wahrscheinlich schon wieder heimgefahren. Mit einem halbherzigen „Verdammt“ auf den Lippen schloss sie die Ladentür auf und sauste in die hinteren Räumlichkeiten, um die Kaffeemaschine anzustellen. Danach eilte sie wieder nach draußen und öffnete die Rollläden vor den Schaufenstern. Zufrieden seufzend, kehrte sie kurz darauf in den Verkaufsraum zurück. Der war nicht mal übermäßig groß, denn so einen hätte Sophie auch gar nicht gewollt. Sie legte mehr Wert auf eine persönliche Note. Gemütlich, intim und geheimnisvoll musste er sein. Der Laden bedeutete für sie viel mehr als nur ein Ort, wo man Geschäfte tätigte. Sie sah in ihm so etwas wie ihre eigene Selbstverwirklichung.

Die Idee mit dem Antiquitätengeschäft war langsam herangewachsen, hatte sich aber dann schnell weiter entwickelt. Mit der vollen Unterstützung ihres Vaters selbstverständlich. So waren sämtliche Objekte, die ihm für seine Sammlung nicht gut genug erschienen, in ihrem Laden gelandet, und ab und zu hatte sie von ihm sogar eine wertvolle Rarität zugeschustert bekommen. So hatte sie in kürzester Zeit den Laden zum Florieren gebracht und sich in der Sammlerszene einen guten Namen erworben. Dass er ihr bereits seit Längerem ihr eigenes Geld einbrachte, erfüllte sie zusätzlich mit Stolz. Sicher, am Anfang war der Zuspruch eher bescheiden gewesen. Die meisten Besucher waren aufgrund der Popularität ihres Vaters gekommen, aber schließlich bedeutete auch jeder zufriedene Kunde die beste Reklame für ihr Geschäft. Außerdem lockte die gute Lage des Ladens, in der Altstadt von Bad Münstereifel, nicht nur aufgrund des City-Outlets an den Sommertagen ganze Touristenströme an, sondern bot ihr auch den nicht zu unterschätzenden Vorteil, diesen noch zusätzlich an vielen Sonntagnachmittagen öffnen zu können. Einzige Bedingung für diese Ausnahmeregelung war der Verkauf von Postkarten und kleineren Andenken, die sie in einem eigens dafür angefertigten Weichholzregal ausstellte. Dafür nahm sie die tägliche Anreise von knapp 50 Kilometern gerne in Kauf. Sophie wohnte in Hinterweiler, Landkreis Vulkaneifel.

Bei ihr musste man immer genügend Zeit mitbringen. Schnelle Geschäfte lagen ihr nicht. Sie mochte persönliche Kontakte und ausgiebige Gespräche bei einer guten Tasse Kaffee. Als der Laden immer besser lief, hatte sie Marita angestellt. Zuerst war ihre neue Aushilfe noch recht unerfahren gewesen, doch schon bald hatte sie sich als gute Rechnerin und fleißige Angestellte erwiesen. Sophie vertraute ihr völlig und jetzt, nach fünf Jahren Praxis, schien sie mit allen Wassern gewaschen zu sein. Bei dieser Ausführung musste sie unwillkürlich an Roger Peters denken, den sie am frühen Morgen persönlich kennengelernt hatte. Auf einmal spürte sie, wie sie traurig wurde. „Komisch, dass mir dieser Reiseschriftsteller gerade jetzt in den Sinn kommt …“ Aber dann wusste sie, was es war. Er erinnerte sie an ihren Vater, der vor sechs Monaten auf furchtbare Weise ums Leben gekommen war. Roger hatte sofort auf sie den Eindruck gemacht, als sei er eine Persönlichkeit, die sich überall behaupten konnte, genau wie ihr Vater. Er war allein durch Lateinamerika gereist und das bedeutete schon etwas. Und es waren seine Augen, die etwas ganz Spezielles an sich hatten und Geborgenheit und Sicherheit ausstrahlten. „Ja, das war es, genauso wie eine gewisse Härte und Intelligenz. Merkwürdig“, dachte sie und nagte sanft an ihrer Unterlippe. „Er geht mir einfach nicht mehr aus dem Sinn …“

Als die Türglocke läutete, erschrak sie sich zunächst, drehte sich um und schob ihre sonderbaren Gedanken zur Seite.

„Frau Böker? Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung, ich bin noch aufgehalten worden.“

„Aber das macht doch gar nichts, Heiner.“

Sie überlegte kurz, ob sie ihm erzählen sollte, dass sie sich auch verspätet hatte, ließ es aber bleiben. „Kaffee gefällig? Ich habe gerade erst frischen aufgesetzt.“

„Oh ja gerne, das ist sehr freundlich von Ihnen. Wissen Sie, ich bin heute Morgen einfach noch nicht zum Frühstücken gekommen.“ Er lächelte und entblößte dabei seine abgekauten Zahnkronen.

„Du hast gestern am Telefon ziemlich geheimnisvoll geklungen. Was ist es denn nun, was du mir unbedingt zeigen möchtest? Nimmst du eigentlich Zucker in deinen Kaffee?“

„Eigentlich sollte ich ja ablehnen, aber ich denke, ein Löffel geht schon.“ Sein Blick huschte rasch über Sophies Schuhe mit den hohen Absätzen, als diese ihre Beine elegant übereinander schlug.

„Schade, dass sie so ganz in einer anderen Liga spielt“, dachte er, besann sich aber dann auf sein eigentliches Anliegen. Rasch schlug er die mitgebrachte Decke auseinander und zeigte Sophie, was er ihr anzubieten hatte. Die Wirkung war verblüffend und wirklich sehenswert. Ihre Gesichtszüge nahmen alle nur erdenklichen Formen und Farbtöne an, bis sie schließlich zusammenzuckte und erblasste. Die „grüne“ Dame rang tatsächlich nach Atemluft, wusste sie doch sofort was es war, auch wenn sie dergleichen noch niemals zuvor in den eigenen Händen gehalten hatte: Ein frühes Gemälde von Diego Quispe Tito aus der Schule Cuzcos. So etwas fehlte selbst in der umfangreichen Sammlung ihres Vaters.

Sie zweifelte nicht an der Echtheit des Gemäldes. Bisher hatte ihr Heiner nur authentische Stücke geliefert. Respektvoll und fast schon zärtlich strich sie mit ihren Fingerspitzen über das zarte Leinen, fuhr mit äußerster Vorsicht an den barocken Konturen der Gesichter, Stoffe und Kleider jener Heiligenfiguren entlang, die der begabte Künstler bereits im frühen siebzehnten Jahrhundert in sogenannter Brokat-Technik mit feinstem Blattgold versehen hatte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich von dem freudigen Schock erholt und ihre Stimme wiedergefunden hatte.

„W…woher hast du das?“, stammelte sie. „Es ist unglaublich …, unglaublich schön!“

„Ja, das ist es! Und was meinen Sie, wie viel ist das Gemälde wert?“

Daran hatte Sophie noch keinen Gedanken verschwendet. „Ich weiß nicht genau“, stotterte sie vor sich hin. „Auf so etwas bin ich einfach nicht vorbereitet. Macht es dir etwas aus, wenn ich es gleich an mich nehme? Natürlich gegen Quittung! Und etwas Bargeld habe ich auch noch in der Kasse, das kannst du gerne als Anzahlung haben.“

Heiner ließ sich mit einer Antwort absichtlich viel Zeit und lächelte. „Ein Lächeln ist niemals vergeudet“, dachte er. Dann verlagerte er sein Gewicht auf den anderen Fuß und meinte: „Sie wissen ja, wie solch ein Geschäft normalerweise abläuft: Cash on Delivery, aber ich weiß, dass ich Ihnen vertrauen kann. Nur gehen Sie bitte nicht gleich damit hausieren. Ich muss an meine Kontakte denken und sie schützen, Sie wissen ja, wie das ist …“

Wusste sie nicht wirklich, sagte aber: „Das ist doch selbstverständlich! Vielen Dank, Heiner, dass du so entgegenkommend bist. Nach so einem Gemälde suche ich schon eine halbe Ewigkeit, ich melde mich so bald wie möglich und dann unterbreite ich dir ein großzügiges Angebot!“

„Da bin ich mir sicher“, entgegnete Heiner und verließ Sophies Antiquitätenladen. Er war mit sich und seiner Welt zufrieden.

Verlässt man die Autobahn A1 an der Ausfahrt Wermelskirchen und hält sich links, Richtung Solingen, so passiert man automatisch das imposante Bauwerk von Schloss Burg. Im weiteren Verlauf der steil abfallenden Burgtalstraße erreicht man eine Straßenkreuzung, die links hinauf in die Westhausenerstraße mündet, die sich wiederum schlängelnd in einer kurvenreichen Strecke ihren Weg nach Westhausen, Reinshagen und später nach Güldenwerth bahnt.

Sophie stürmte genauso durch die Haustür in das Foyer der Villa ihres Vaters, wie sie es am Vormittag verlassen hatte. „Marlies!“, rief sie laut in den Flur. „Ist Felix noch im Hause?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, sauste sie durch die Eingangshalle in den vordersten Salon. Dabei knickte sie fast um in ihren hohen Hacken, konnte sich aber gerade noch an dem Pfosten der Garderobe festhalten.

„Du solltest lieber langsamer gehen!“, wurde sie von Marlies gerügt, als diese sah, wie sich Sophie an die Garderobe klammerte.

„Die beiden Herren sind noch im Arbeitszimmer deines Vaters“, wollte sie noch schnell hinzufügen, aber ihre Erklärung kam zu spät. Sophie war bereits an ihr vorbei gezischt und wackelte jetzt auf das entsprechende Zimmer zu. Leise öffnete sie die Tür, nur gerade soweit, um den Kopf hindurch stecken zu können. Manche Dinge, entschied sie für sich, musste man tatsächlich langsam und vorsichtig angehen.

Eifel-Wahn

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