Читать книгу Einführung in die Musikpädagogik - Peter W. Schatt - Страница 36
Weitere Bezugsdisziplinen
ОглавлениеBei der Thematisierung der Hörwahrnehmung konnte Abel-Struth seiner zeit lediglich auf die Psychologie zurückgreifen. Seit geraumer Zeit werden die einschlägigen Prozesse auch von der Neuro- bzw. Hirnphysiologie erforscht. Sie zeigten u.a., welche Hirnregionen in welcher Weise bei welchen musikalischen Handlungen aktiv sind und welche neuronalen Prozesse sich dabei mit welchen Konsequenzen ereignen (Altenmüller, 2018, S. 43–69). Sie gaben damit wichtige Hinweise darauf, wie man Musikunterricht entsprechend strukturieren kann, um Lernmöglichkeiten zu schaffen und Musik-Lernen zu optimieren. Diese Grundlagen wurden in Deutschland für die Musikpädagogik seit den 1990er-Jahren insbesondere von Wilfried Gruhn in zahlreichen Veröffentlichungen fruchtbar gemacht (u.a. Gruhn, 1998,2003, zuletzt 2018).
Indem Lernvorgänge im praktischen Umgang mit Musik untersucht werden, wendet sich die Aufmerksamkeit den Handlungsvollzügen zu, deren Reflexion in Bezug auf Lehren und Lernen nicht genuin ein Anliegen der Musikpädagogik ist – Musikpädagogik kann und sollte aber, insbesondere im unterrichtlichen Vollzug, die Erkenntnisse dieser Disziplinen nutzen. Abel-Struth interessierte sich im Zusammenhang mit Fragen nach dem audiomotorischen Lernbeginn besonders für Bewegungserziehung mit Musik: Die Nähe zum Sport und zum Tanz – und damit auch zu Sport- und Tanzpädagogik, Rhythmik und Bewegungserziehung – ist unübersehbar.
Indem sie sich der „Aneignung musikalischer Einstellungen als Lernvorgang“ (Abel-Struth, 1985, S. 16) zuwendet und im Zusammenhang damit musikalische Präferenzen und ihre Bedeutung für Musik-Lernen darstellt (ebd., S. 246–249), wird bei Abel-Struth noch einmal die Musiksoziologie berührt, und die Musikwissenschaft wird tangiert, wenn es unter dem Aspekt „Lernvorgang Musikrezeption“ um die Erfassung musikalischer Ausdruckscharaktere, um höranalytische Fähigkeiten im Zusammenhang mit komplexer Musik und um die Möglichkeiten der Veränderung musikalischen Urteils geht. Wie nämlich musikalische Urteile entstehen und begründet werden, untersucht nicht nur die Musik-Soziologie, sondern auch die Musikästhetik.
Was bei Abel-Struth noch ein Nebenaspekt der musikalischen Intelligenz war, nämlich Funktionen der Sprache in musikalischen Lernvorgängen, hat inzwischen an Relevanz für das Nachdenken über nicht nur die Grundlagen des Musik-Denkens, sondern auch der Prinzipien für die Gestaltung von Musikunterricht gewonnen. Die Frage nämlich, ob und in wieweit bei musikalischen Praktiken sprachliche Faktoren beteiligt sind oder ob es so etwas wie einen rein musikalischen Mit- oder Nachvollzug des klingenden Phänomens gibt, wird seit geraumer Zeit intensiv diskutiert, dient doch die Antwort zur Begründung von bestimmten Unterrichtsweisen: Sie entscheidet, ob und in welchem Maße im Musikunterricht nur musiziert werden oder auch nachgedacht und über die Ergebnisse dieses Nachdenkens gesprochen werden und in welcher Weise dieses Sprechen erfolgen soll. Mit der Thematisierung dieser Frage werden neben Erkenntnis- bzw. Wissenstheorie auch Linguistik und Sprachphilosophie berührt. Die Dissertation Martina Krauses über Bedeutung und Bedeutsamkeit ist eine solche interdisziplinär verankerte, fachübergreifende, aber im Kern musikpädagogische Arbeit (Krause, 2008). Insbesondere über unterrichtliche Implikationen der Modalitäten sprachlicher Kommunikation hat Jürgen Oberschmidt in seiner Dissertation mit dem Titel Mit Metaphern Wissen schaffen nachgedacht (Oberschmidt, 2011).
Drei weitere vom musikpädagogischen Denken berührte Wissenschaften sind noch zu nennen: Wenn es – wie bei Abel-Struth im ersten Abschnitt des Kapitels über Musikunterricht – um den bildungspolitischen Rahmen des Schulwesens geht, stehen Fragen der Politologie im Raum. Mit dem Überblick über Lehren für die Erteilung von Musikunterricht wendet Abel-Struth sich weniger der Gegenwart als vielmehr der Vergangenheit zu, deren Kontexten sich die Geschichtswissenschaft widmet.
Mit all diesen Themen wird die – vielleicht nach der Philosophie – engste Verwandtschaft mit zwei Wissenschaften berührt, die sich verwandten Fragestellungen widmen, nur nicht mit musikspezifischem Schwerpunkt: die Bil-dungs- bzw. Erziehungswissenschaft sowie die Kulturwissenschaft. Während in diesen Wissenschaften das Allgemeine, was auch Musikpädagogik betrifft, als solches verhandelt wird, befassen sich drei andere Wissenschaften mit besonderen Inhalten, die auch Gegenstand musikpädagogischer Fragestellungen sein können: die Genderforschung, die Musiktherapie und die Musikermedizin. Unlängst wurden einige Fragen des Wissenstransfers zwischen den Disziplinen im Handbuch Musikpädagogik sachkundig und aufschlussreich erörtert (Dartsch, Knigge, Niessen, Platz & Stöger, 2018, Kapitel 2.4).
Auf die Vernetzung musikpädagogischen Denkens mit anderen Disziplinen hatte schon zehn Jahre vor Erscheinen des Grundrisses Hermann Rauhe hingewiesen. Seine Ausführungen Zur Funktion der Analyse in der Musikpädagogik (Rauhe, 1974) machen deutlich, dass musikpädagogisches Denken sich des Wissens und der Methoden anderer Disziplinen zu vergewissern hat und Wechselbeziehungen zwischen Einzelmomenten nach Maßgabe eigener Interessen und Anliegen differenzieren muss. Als Grundlage musikpädagogischen Denkens stellte er die „interdisziplinäre Korrespondenzanalyse“ heraus (ebd., S. 550). Allerdings gibt Rauhe keine Auskunft über eine Spezifik des musikpädagogischen Zugangs zu den Phänomenen oder Problemen des menschlichen Umgangs mit Musik. So bleibt beispielsweise offen, was der Musikpädagogik am Objekt-Subjekt-Bezug zu analysieren bleibe, wenn die Rezeptionsforschung ihre Arbeit getan hat. Vor allem beantwortet Rauhe nicht die zentrale Frage, wo der Ort des ‚Inter‘ zu suchen sei. Auch wenn es heißt, Musikpädagogik sei „als Wissenschaft aufzufassen, die sich mit den verschiedenen Existenzebenen, Codierungsbereichen und Metastufen ästhetischer und pädagogischer Kommunikation befaßt“ (ebd., S. 563), bleibt der Verdacht, Musikpädagogik sei eine Disziplin zwischen den Stühlen der anderen, ‚richtigen‘ Wissenschaften – z.B. der Musik- und der Kommunikationswissenschaft –, ein eklektisches Sammelsurium zu einzelnen Aspekten musikbezogenen Handelns und seiner Ergebnisse. Die Frage, ob es neben der Interdisziplinarität eine eigene Disziplinarität gebe und worin sie bestehe, hat als erste Abel-Struth im positiven Sinne beantwortet: Das spezifisch Musikpädagogische artikuliert sich in ihren Ausführungen zufolge eben darin, dass immer von der pädagogischen Aufgabenstellung her nach den Faktoren der Bereiche Musik-Lernen, MusikLehren und Musikunterricht gefragt wird. Was bei Rauhe als Additivum in der Kopula „und“ erscheint – er formulierte als Aufgabe der Musikpädagogik die „Analyse des Objekt-Subjekt Bezugs und seiner didaktischen Beeinflussungsbedingungen, – möglichkeiten, – ziele“ (Rauhe, 1974, S. 565) – ist bei AbelStruth eine integrierte Denk-Voraussetzung.
Diese Integration fehlt in einer anderen wichtigen musikpädagogischen Veröffentlichung, dem Handbuch der Musikpädagogik (Schmidt & Richter, 1986). Die Publikation war auf fünf Bände angelegt; nur der erste und der vierte erschienen in der ursprünglich vorgesehenen Form. Im ersten Band -Geschichte der Musikpädagogik – sollte „die ideelle und praktische Realität von Musikpädagogik gewissermaßen in konzentrischen Bewegungen eingekreist werden“ (ebd., S. 7). Dies geschieht in Form von lebhaften und anschaulichen Erzählungen, die unterschiedliche Aspekte anderer Wissenschaften fruchtbar machen, jedoch unverbunden nebeneinander stehen: So treten z.B. historische und anthropologische Perspektiven der Musikerziehung im Rahmen des Versuchs einer Neugewichtung neben Fragen nach dem Zusammenhang zwischen politischer Struktur und Musikunterricht, und neben sozialpsychologischen Problemen des Musikunterrichts wird die Ausbildung der Unterrichtenden thematisiert. Der vierte Band berührt mit den Themen „Wahrnehmung und Gedächtnis“, „Entwicklung musikalischer Fähigkeiten“, „soziale Determinanten des Musikgeschmacks“, „Urteile und Vorurteile“, „Motivation und Bewertungsformen“ Fragen der Musikpsychologie und -soziologie, macht diese aber nicht z.B. für Theorien musikalischer Bildung oder der Implikationen musikalischen Materials für Lernen und Lehren fruchtbar. Damit wird das Versprechen, mit diesem Band Ergebnisse musikpädagogischer Grundlagenforschung zu präsentieren (ebd., S. 8), quasi nur am Rande eingelöst. An die Stelle des zweiten und dritten Bandes, die Ergebnisse von Musikunterrichtsforschung („wie Musikunterricht nun stattfindet“ (ebd.)) bzw. das „Selbst- und Fremdverständnis“ (ebd.) Jugendlicher am Beispiel der Jugendkulturen und ihrer Musik hätten darstellen sollen, traten zwei Bände zur Instrumentalpädagogik, so zwar der Bandbreite des Faches Musikpädagogik, nicht aber deren interdisziplinären Verankerung gerecht werdend.