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Musikpädagogik als Disziplin
ОглавлениеMusikpädagogik zeigt sich insgesamt als eine Disziplin, die Aspekte, Ergebnisse und Methoden anderer Wissenschaften in ihr Denken einbezieht.
Dies liegt nahe, da diese anderen Wissenschaften sich – mit jeweils anderem fachlichen Akzent – mit dem Menschen, seinen Handlungen, Funktionen und Beweggründen, seinen Praktiken sowie deren Bedingungen und Ergebnissen befassen. Die Einbeziehung relevanter Elemente der anderen Disziplinen erfolgt zum einen hinsichtlich des Grundlagenwissens über Lern- und Lehrvorgänge, zum anderen in Bezug auf Musik und deren Kontexte. Insofern ist Musikpädagogik eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich als Disziplin in dem Maße konstituieren kann, wie sich das Interesse auf die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Aneignung von Musik durch Menschen und deren Förderung richtet.
Wie ist Musikpädagogik zur wissenschaftlichen Disziplin geworden? Der Gedanke, dass Menschen Musik lernen können, sollten, ja müssten, ist alt – vielleicht so alt wie die Menschheit, sofern man die Fähigkeit zur Selbstreflexion als eine essentielle Qualität des Menschseins und den ‚ästhetischen Überschuss‘3 nicht nur als eine anthropologische Gegebenheit, sondern als eine Folge dieser Selbstreflexion herausstellt. Überliefert sind Zeugnisse musikpädagogischen Denkens seit Jahrtausenden. Insbesondere das Gedankengut Pla-tons erfreute sich mit seiner expliziten Ausrichtung auf Erziehungsintentionen einer intensiv gepflegten Tradition. Festzuhalten ist allerdings, dass Ausgangs- und Endpunkt des auf den Umgang des Menschen mit Musik gerichteten Denkens lange Zeit primär pragmatische Aspekte waren, die alle Ebenen der Unterweisung bestimmten: Zieldimensionen waren geprägt vom gegenwärtigen und künftigen Gebrauch der Musik in der Gesellschaft für bestimmte Zwecke, und Überlegungen zu Methoden gingen nicht von Kenntnissen über Lernprozesse aus, sondern von Erfahrungen in der täglichen Praxis. Erst mit der Loslösung von einer Denkweise, die sich nur auf den Zweck des Musikunterrichts richtete und nur die Ökonomie der Methoden im Blick hatte, konnte ein wissenschaftliches Denken Raum gewinnen. Es stellte sich durch eine neuartige Weise der Erörterung des Gegenstandsbereichs der Musikpädagogik dar. Als Gegenstandsbereich wurde das gesamte musikalische Verhalten und Empfinden, der gesamte Bezug von Mensch, Gesellschaft und Musik thematisiert. Eine der ersten Einsichten bestand darin, aus der komplexen Erfassung menschlichen Handelns mit Blick auf Musik Konsequenzen konzeptioneller Art zu ziehen, statt – wie zuvor – aus einem auf Musik bezogenen allgemeinen Lehr- und Bildungsdenken heraus die herzustellenden Relationen zwischen Mensch und Musik zu bestimmen.
Die Anfänge einer solchen Neu-Orientierung sind bereits in den 1930er-Jahren zu erkennen. Ihren Ursachen nachzugehen wäre ein dankbares Anliegen, das allgemeine Entwicklungen wissenschaftstheoretischer Art – also Entwicklungen im Selbstbewusstsein wissenschaftlichen Denkens – mit zu berücksichtigen hätte. An dieser Stelle würde es zu weit führen, eine Geschichte der Wissenschaft Musikpädagogik zu erzählen. Sie ist in groben Zügen und mit zeitlicher Begrenztheit in der von Sigrid Abel-Struth 1970 herausgegebenen Veröffentlichung Materialien zur Entwicklung der Musikpädagogik als Wissenschaft nachzulesen. Daraus wird u.a. deutlich, dass die Ergebnisse der NeuOrientierung lange Zeit unter den gewohnten Theoremen verschüttet blieben. Einen wissenschaftlichen Zugriff auf Fragen der Musik im Kontext pädagogischer Bemühungen hat es zwar immer wieder gegeben – zu nennen wären Georg Schünemann, dem auch die erste geschichtliche Übersicht (Geschichte der deutschen Schulmusik) zu verdanken ist, Richard Wicke, Walter Kühn und Fritz Reuter. Ihre Arbeiten standen in engem Zusammenhang mit den hier skizzierten Problemlagen einerseits und einem durch das Voranschreiten (mu-sik)psychologischer und (musik)soziologischer Forschung beflügelten Wissen andererseits. Zu konzeptioneller Würde ist der wissenschaftliche musikpädagogische Diskurs jedoch erst seit der Mitte der 1950er-Jahre gelangt, nachdem Theodor W. Adorno in Darmstadt seine Thesen zur Kritik des Musikanten (1956, S. 62–101) geäußert hatte. Ein Selbstbewusstsein von der Notwendigkeit der Wissenschaftlichkeit dieser Bemühungen selbst – sowie die wissenschaftliche Reflexion dieser Wissenschaftlichkeit – existiert erst seit Beginn der 1970er-Jahre. Dabei zeigt sich, dass es nicht genügt, die Anstrengungen anderer Disziplinen immer wieder aufzugreifen und neu zu formulieren, auch wenn dabei das Spezifische von Musik ins Zentrum gerückt und die Förderung menschlichen Handelns mit Blick auf Musik thematisiert wird.
Allerdings steht eine musikpädagogische Wissenschaftstheorie, durch die alle Aspekte musikpädagogischen Denkens systematisch geordnet würden, noch aus. Auch jüngste Veröffentlichungen wie das Handbuch der Musikpädagogik (Dartsch et al., 2018) folgen lediglich dem Modus der Addition. Allerdings ist dieses Handbuch keine Sammlung der Einsichten anderer Disziplinen, sondern eine Zusammenstellung einzelner musikpädagogischer Teilaspekte, darin ähnlich dem älteren Kompendium der Musikpädagogik (Helms, Schneider & Weber, 1995). Im Unterschied zu diesem sind die Beiträge nach übergeordneten Gesichtspunkten geordnet. So gibt es z.B. ein Kapitel zu musikpädagogischen „Begriffen, Begründungen und Diskursen“, eines zu „Perspektiven auf Lernen“ u.a. aus psychologischer und didaktischer Sicht, eines zu Lernräumen und eines zu „Musikpädagogik als Forschungsdisziplin“.
In letzterem Zusammenhang weist Hermann J. Kaiser daraufhin, dass der Versuch, eine Theorie von Musikpädagogik als Wissenschaft zu finden, nur aussichtsreich sein könne, wenn er formal – und nicht inhaltlich – verfasst sei, weil inhaltliche Bestimmungen zum „Sein“ von Musikpädagogik diese verdinglichten. Ein solcher rein formal verfasster Zugang zu einer Theorie aber realisiere sich quasi von selbst, und zwar „in Form einer nicht begrenzten Anzahl von Diskursen, in denen ‚im gemeinsamen Sprechen über der Sachverhalt Musikpädagogik als Wissenschaft“ sich bilde (Kaiser, 2018, S. 421).
Genau auf diese Diskursivität von Musikpädagogik zielen die Bemühungen des Essener Musikpädagogen Stefan Orgass ab. Er erfasst auf wissenschaftstheoretische Weise musikpädagogisches Denken mithilfe einer vierdimensionalen reflexionslogischen „disziplinären Matrix wissenschaftlicher Musikpädagogik“ (Orgass, 2012). In ihr werden Phänomene als nichtrepräsentationale Zeichen verortet. Solche Zeichen weisen nicht von selbst über sich hinaus auf Anderes. Sie werden vielmehr als Momente der „Objektkonstitution“ (bei der Eigenschaften des klingenden Etwas beobachtet werden), der Konstitution des „Individuums“ (indem ihnen individuell relevante Bedeutsamkeit zugemessenen wird), als Momente der „Interaktion“ (in der diskursiv Bedeutungen und Bedeutsamkeiten konstituiert werden) sowie als Dimensionen der „Sinnmodifikation“ (hinsichtlich der leitenden Gesichtspunkte der Interpretation, wie sie u.a. in Interpretanten artikuliert werden) befragt (Orgass, 2019, S. 8). Aus musikpädagogischer Sicht können Phänomene unterschiedlichster Art ins Zentrum des Denkens treten – von einem einzelnen Musikstück über z.B. den Musikbegriff oder die Vorstellung von Schüler*innen bis hin zu ‚Lernen‘, ‚Bildung‘ oder ‚Musikpädagogik als Wissenschaft‘.
Eine inhaltliche Definition der wissenschaftlichen Musikpädagogik, die sie von anderen Bereichen wissenschaftlichen Denkens abgrenzt, ohne sie zum ‚Gegenstand‘ oder zu einem Mythos zu machen (Schatt, 2008a), ist denkbar, wenn man sich das einschlägige Denken als einen imaginären, topologisch fasslichen – d.h. unterscheidbaren, in sich und in seinen Umrissen aber veränderlichen – Raum des Denkens vorstellt, in dem Fragen und Antworten hinsichtlich der Verhältnisse zwischen Mensch und Musik vor dem Hintergrund der Bedingungen, Vollzüge und Ergebnisse von Lernen, Bildung und Erziehung im Modus von Wissenschaft aufeinander bezogen werden.
1Auf dieses Bundesland wird an dieser und an weiteren Stellen dieses Buches Bezug genommen, weil der Verfasser dort seine Tätigkeit als Hochschullehrer ausübte.
2 Auf deren Verhältnis zur Musikpädagogik – insbesondere zum Verhältnis zwischen Musikpädagogik und Musiksoziologie, Musikpsychologie, Musikästhetik und Ethnomusikologie – wird im nächsten Kapitel näher eingegangen.
3Darunter versteht man dasjenige, was in menschlichen Hervorbringungen über die pragmatische Funktion hinausgeht.