Читать книгу Grundriss Schopenhauer - Peter Welsen - Страница 13

Metaphysik der Sitten

Оглавление

Ähnlich wie im dritten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung geht es Schopenhauer auch im vierten darum, auf welche Weise sich die nach seiner Auffassung als negativ zu bewertende empirische Wirklichkeit überwinden läßt. Allerdings ist der Weg, den er nun beschreibt, kein ästhetischer, sondern ein ethischer – und damit das menschliche Handeln betreffender. Aus diesem Grund stuft der Philosoph das vierte Buch des Werks als das entscheidende ein: »Der letzte Theil unserer Betrachtung kündigt sich als der ernsteste an, da er die Handlungen der Menschen betrifft, den Gegenstand, der Jeden unmittelbar angeht, Niemanden fremd oder gleichgültig seyn kann« (W I 343).

Während im ersten und dritten Buch die Vorstellung im Vordergrund steht, ist es im zweiten und vierten der Wille. Soll dieser in ethischer Hinsicht, also in seiner Beziehung auf das menschliche Handeln, untersucht werden, so stellt sich für Schopenhauer die naheliegende Frage, wie sich der Mensch in seinem Handeln zum Willen verhält. Dabei bestehen zwei Möglichkeiten: Er kann den Willen bejahen, oder er kann ihn verneinen, und zwar im Lichte der Erkenntnis, die er von ihm gewonnen hat. Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer den Menschen als eine Objektivation des Willens betrachtet, so daß seine Erkenntnis des Willens einer Selbsterkenntnis des letzteren gleichkommt, so läßt sich nachvollziehen, warum in der Überschrift des vierten Buchs geschrieben steht: »Bei erreichter Selbsterkenntniß Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben.« (W I 341)

Freilich äußert sich Schopenhauer nicht allein in seinem Hauptwerk zur Ethik bzw. Metaphysik der Sitten, sondern er geht auch in seinen beiden Preisschriften Ueber die Freiheit des menschlichen Willens sowie Ueber die Grundlage der Moral auf wesentliche Aspekte seiner Ethik ein. Dabei fällt auf, daß er dort den metaphysischen Kontext des Hauptwerks ebenso wie das soteriologische Grundanliegen seines Ansatzes weitgehend ausklammert. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß er sich in den Preisschriften an ein Publikum wendet, das nicht mit Die Welt als Wille und Vorstellung vertraut ist.

Inhaltlich geht es Schopenhauer in der ersten Preisschrift darum, in welcher Hinsicht der Mensch als frei gelten kann. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang im wesentlichen zwischen drei Arten von Freiheit: der physischen Freiheit (Handlungsfreiheit), der intellektuellen Freiheit sowie der moralischen Freiheit (Willensfreiheit). Die physische Freiheit besteht – nach seiner Auffassung – lediglich darin, daß einer Handlung kein äußeres Hindernis entgegensteht. Sie ist gegeben, wenn ein Lebewesen »nur aus seinem Willen handelt, […] wobei keine Rücksicht darauf genommen wird, was etwan auf seinen Willen selbst Einfluß haben mag.« (E 44) Schopenhauer stellt zu Recht fest, daß dieser Begriff der Freiheit »keinem Zweifel oder Kontrovers unterworfen ist« (ebd.).

Die intellektuelle Freiheit läuft nach Schopenhauer auf eine angemessene Kenntnis der Umstände hinaus, unter denen eine Handlung ausgeführt wird. Erst wenn ein Mensch über diese Kenntnis verfügt, kann er »sich seiner Natur, d. h. dem individuellen Charakter des Menschen gemäß, entscheiden, also ungehindert, nach seinem selbsteigenen Wesen sich äußern: dann ist der Mensch intellektuell frei, d. h. seine Handlungen sind das reine Resultat der Reaktion seines Willens auf Motive« (E 139). Sind hingegen die Umstände einer Handlung nicht oder nicht hinreichend bekannt, so kann der Mangel an Wissen den Handelnden daran hindern, das zu tun, was er eigentlich tun will. Darüber hinaus legt Schopenhauer dar, daß die intellektuelle Freiheit – etwa durch Affekte oder Rausch – vermindert werden kann. Dabei führe eine Beeinträchtigung der intellektuellen Freiheit zu einer entsprechenden Modifikation der juridischen und moralischen Zurechenbarkeit.

Die moralische Freiheit wäre laut Schopenhauer genau dann gegeben, wenn jemand in der Lage wäre, eine beliebige von mehreren möglichen Handlungen durchzuführen. Damit entspricht der Begriff der moralischen Freiheit jenem des liberum arbitrium indifferentiae: »Dieser Begriff ist übrigens der einzige deutlich bestimmte, feste und entschiedene von Dem, was Willensfreiheit genannt wird; daher man sich von ihm nicht entfernen kann, ohne in schwankende, nebelichte Erklärungen […] zu gerathen« (E 49).

Wendet man sich dem Begriff der moralischen Freiheit zu, so stößt man darauf, daß sich Schopenhauer bei seiner Klärung im wesentlichen an Kant orientiert. Dies bedeutet insbesondere, daß er Kants Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich übernimmt und die Auffassung vertritt, der Bereich der Erscheinung bzw. der empirischen Wirklichkeit sei dem Kausalitätsprinzip und damit der Notwendigkeit unterworfen, während im Bereich des Dinges an sich Freiheit herrsche. Allerdings geht Schopenhauer insofern über Kant hinaus, als er das Ding an sich nicht etwa als unerkennbar einstuft, sondern als den Willen deutet. Vor diesem Hintergrund kann er feststellen: »[D]as Zusammenbestehn dieser Nothwendigkeit mit der Freiheit des Willens an sich, d. h. außer der Erscheinung, hat zuerst Kant, dessen Verdienst hier besonders groß ist, nachgewiesen« (W I 364; vgl. a. W I 612, W II 203 sowie E 122 f. u. 214 f.). Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Handlungen des Menschen in der empirischen Wirklichkeit, das Sein desselben hingegen im Willen ansiedelt, ist ohne weiteres nachvollziehbar, daß er dem esse die Freiheit und dem operari die Notwendigkeit zuschreibt (vgl. E 137 f.). Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den genannten Bereichen spricht Schopenhauer gelegentlich auch von »empirischer Nothwendigkeit« und »transscenden taler Freiheit« (E 137).

Schopenhauer begründet die empirische Notwendigkeit mit Hilfe des Satzes vom zureichenden Grunde bzw. des Kausalitätsprinzips, das eine seiner vier Formen darstellt. Dieser Satz gilt, wie er betont, lediglich für den Bereich der Vorstellung, nicht aber für jenen des Dinges an sich. In der Fassung von Wolff lautet er: »Nihil est sine ratione cur potius sit, quam non sit.« (G 17) Entscheidend ist nun, daß Schopenhauer unter Notwendigkeit die Abhängigkeit von einem zureichenden Grund versteht: »Nothwendigkeit hat keinen andern wahren und deutlichen Sinn, als den der Unausbleiblichkeit der Folge, wenn der Grund gesetzt ist.« (G 170) Die für die empirische Notwendigkeit einschlägige Form des Satzes vom zureichenden Grunde ist das Kausalitätsprinzip bzw. der Satz vom zureichenden Grunde des Werdens.40 Schopenhauer bezeichnet es gelegentlich auch als »Gesetz der Kausalität« (G 49 u. E 97) oder – etwas mißverständlich – als »Kausalitätsgesetz« (E 139). Er formuliert es wie folgt: »Wenn ein neuer Zustand eines oder mehrerer realer Objekte eintritt; so muß ihm ein anderer vorhergegangen seyn, auf welchen der neue regelmäßig, d. h. allemal, so oft der erstere daist, folgt. Ein solches Folgen heißt ein Erfolgen und der erstere Zustand die Ursache, der zweite die Wirkung.« (G 49) Mit anderen Worten, das Kausalitätsprinzip beinhaltet, daß alle Ereignisse durch ihre Ursachen bestimmt sind und damit notwendig geschehen. Ähnlich wie Kant ist Schopenhauer der Auffassung, daß sich dieses Prinzip durch apriorische Gültigkeit auszeichnet, und er unternimmt – in der Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde – ebenfalls den Versuch, sie entsprechend zu begründen.41 Sollte das Kausalitätsprinzip tatsächlich a priori gelten, so wären auch menschliche Handlungen kausal determiniert, und dies würde bedeuten, daß sie der Notwendigkeit unterworfen wären. Es gäbe dann in der empirischen Wirklichkeit keine moralische, sondern allenfalls physische Freiheit. Der Mensch könnte zwar tun, was er will, sofern er nicht auf ein äußeres Hindernis stieße, aber er könnte nicht frei darüber entscheiden, sich so oder so zu verhalten.

Vielmehr hebt Schopenhauer hervor, daß eine Handlung durch zwei Faktoren, ihr Motiv sowie den Charakter, auf den es trifft, determiniert ist: »Die Nothwendigkeit, mit der […] die Motive, wie alle Ursachen überhaupt, wirken, ist keine voraussetzungslose. Jetzt haben wir ihre Voraussetzung […] kennen gelernt: es ist der angeborene, individuelle Charakter. Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs. Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich.« (E 95; vgl. a. W I 158 sowie W II 203 u. 375)42

Vor dem Hintergrund seines Determinismus ist es keineswegs überraschend, daß Schopenhauer – insbesondere in seiner Preisschrift Ueber die Grundlage der Moral – das Ansinnen, eine präskriptive Ethik zu entwickeln, als verfehlt zurückweist und für eine deskriptive Ethik eintritt, wie er sie in dieser Abhandlung tatsächlich entwickelt. So erblickt er die Aufgabe der Ethik nicht etwa darin, Normen aufzustellen oder zu begründen, sondern darin, das menschliche Handeln zu beschreiben und die moralischen Kriterien, nach denen es beurteilt wird, einsichtig zu machen: »Ich setze hingegen der Ethik den Zweck, die in moralischer Hinsicht höchst verschiedene Handlungsweise der Menschen zu deuten, zu erklären und auf ihren letzten Grund zurückzuführen.« (E 234 f.)

Geht man der Frage nach, warum Schopenhauer der präskriptiven Ethik eine Absage erteilt, so resultiert diese aus der deterministischen Position, die er vertritt. Nach seiner Auffassung sind menschliche Handlungen – wie alle Ereignisse in der Natur – kausalen Gesetzen unterworfen und geschehen daher notwendig: »Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs. Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich.« (E 95) Dabei hält Schopenhauer den Charakter des Menschen – und damit auch seine Tugenden und Laster – für angeboren und unveränderlich (vgl. E 89 ff.). Unter diesen Voraussetzungen kann der Mensch nicht anders handeln, als er tatsächlich handelt. Daher erscheint es – in moralischer Hinsicht – wenig sinnvoll, die Befolgung von Normen von ihm zu verlangen. So kann Schopenhauer die folgenden – rhetorisch gemeinten – Fragen stellen: »Wer sagt euch, daß es Gesetze giebt, denen unser Handeln sich unterwerfen soll? Wer sagt euch, daß geschehen soll, was nie geschieht? – Was berechtigt euch, dies vorweg anzunehmen und demnächst eine Ethik in legislatorisch-imperativer Form, als die allein mögliche, uns sofort aufzudringen?« (E 160)

Trotz seiner Kritik an der präskriptiven Ethik räumt Schopenhauer ein, daß es – in anderer als moralischer Hinsicht – durchaus sinnvoll sein kann, dem Menschen ein bestimmtes Handeln vorzuschreiben. Allerdings weist er diese Aufgabe nicht der Ethik, sondern der Gesetzgebung zu. Dabei hebt Schopenhauer hervor, daß ein enger Zusammenhang zwischen den Normen und den Sanktionen besteht, mit denen sie verbunden sind: »Jedes Soll hat allen Sinn und Bedeutung schlechterdings nur in Beziehung auf angedrohte Strafe, oder verheißene Belohnung.« (E 162 f.) Schopenhauer meint damit, daß Normen erst durch entsprechende Sanktionen ihre praktische Wirksamkeit entfalten. Mehr noch, er zielt darauf ab, daß sie sich nicht etwa an freie Wesen richten, sondern lediglich ein Mittel darstellen, menschliches Verhalten zu steuern (vgl. a. E 142). So erweisen sie sich weniger als moralisches Phänomen denn als soziales.

Ähnlich wie Kant ist Schopenhauer davon überzeugt, daß sich der moralische Wert einer Handlung nicht bloß nach äußeren Kriterien, sondern auch nach der Einstellung bemißt, die ihr zugrunde liegt. Es geht ihm ganz wesentlich darum, welche Einstellung oder welches Motiv zur Handlung führt. Dabei vertritt Schopenhauer einen altruistischen Ansatz, das heißt, er betrachtet altruistische Handlungen als moralisch gut und egoistische als moralisch schlecht. Nach seiner Auffassung »schließen Egoismus und moralischer Werth einer Handlung einander schlechthin aus« (E 245). Während eine altruistische Handlung im Interesse des Anderen steht, dient eine egoistische Handlung dem eigenen: »Jede Handlung, deren letzter Zweck das Wohl und Wehe des Handelnden selbst ist, ist eine egoistische.« (ebd.) Demnach scheint es Schopenhauer zu genügen, daß eine Handlung aus Eigeninteresse erfolgt, um sie als egoistisch einzustufen. Anderseits zielt der Grundsatz, in welchem der Egoismus nach Schopenhauer zum Ausdruck kommt, durchaus auch darauf ab, daß egoistische Handlungen nicht bloß das Eigeninteresse befördern, sondern überdies dem Interesse des Anderen abträglich sind, wie das in folgendem Motto zum Ausdruck kommt: »Neminem juva, imo omnes, si forte conducit, laede.« (E 199)

Zwar erblickt Schopenhauer im Egoismus keineswegs die alleinige Triebfeder menschlichen Handelns, aber er ist davon überzeugt, daß sich der Mensch in den meisten Fällen von egoistischen Motiven leiten läßt. So erklärt er, daß der Egoismus »die erste und hauptsächlichste, wiewohl nicht die einzige Macht [ist], welche die moralische Triebfeder zu bekämpfen hat« (E 238) und daß »egoistische Zwecke die einzigen sind, auf welche man mit Sicherheit rechnen kann.« (W II 629) Die beiden anderen Triebfedern menschlichen Handelns, die Schopenhauer in Erwägung zieht, sind die Bosheit sowie das Mitleid. So stellt er fest: »Es giebt überhaupt nur drei Grund-Triebfedern der menschlichen Handlungen: und allein durch Erregung derselben wirken alle irgend möglichen Motive. Sie sind: a) Egoismus; der das eigene Wohl will (ist gränzenlos). b) Bosheit; die das fremde Wehe will (geht bis zur äußersten Grausamkeit). c) Mitleid; welches das fremde Wohl will (geht bis zum Edelmuth und zur Großmuth).« (E 249) Es liegt auf der Hand, daß Schopenhauer nur Handlungen, die aus dem Mitleid entspringen, als moralisch gut betrachten kann. Sie entsprechen folgender Maxime: »Neminem laede; imo omnes, quantum potes, juva.« (E 251) Die beiden Teile der Maxime verweisen – nach Schopenhauer – auf die beiden Kardinaltugenden der Gerechtigkeit und der Menschenliebe.

Die Gerechtigkeit bietet sich insofern als die »erste und recht eigentliche Kardinaltugend« (E 238) dar, als jemand, der gerecht handelt, die Bejahung des eigenen Willens angesichts des Andern auf einer ersten Stufe zurücknimmt. Dies geschieht dadurch, daß man darauf verzichtet, »dem Andern ein Leiden zu verursachen, also […] selbst Ursache fremder Schmerzen zu werden« (E 252). Damit entspricht die Gerechtigkeit dem Grundsatz neminem laede (vgl. E 253 u. 270). Schopenhauer betrachtet die Gerechtigkeit insofern als negativ, als sie lediglich darin besteht, daß man einem anderen Individuum keinen Schaden zufügt, nicht aber darin, daß man ihm darüber hinaus noch Hilfe zukommen läßt. Er spricht gelegentlich von »freier« oder »freiwilliger Gerechtigkeit« (E 231, 242 u. 248), um zu betonen, daß eine Handlung nur dann wirklich gerecht ist, wenn ihr kein egoistisches Motiv zugrunde liegt.

Während sich die Gerechtigkeit auf die Vermeidung fremden Leides beschränkt und sich in dieser Hinsicht lediglich als negativ erweist, geht die Menschenliebe einen Schritt weiter. Sie besteht darin, daß dem Anderen darüber hinaus Hilfe geleistet wird: »Der zweite Grad, in welchem […] das fremde Leiden an sich selbst und als solches unmittelbar mein Motiv wird, sondert sich von dem ersten deutlich ab, durch den positiven Charakter der daraus hervorgehenden Handlungen; indem alsdann das Mitleid nicht bloß mich abhält, den Andern zu verletzen, sondern sogar mich antreibt, ihm zu helfen.« (E 266)

Beide Kardinaltugenden setzen eine »Durchschauung des principii individuationis« (W I 492; vgl. a. W I 461 u. 468 f.) voraus, wie sie im Mitleid vorliegt. Dieses bildet nach Schopenhauer das Fundament bzw. die Grundlage der Moral. Im Gegensatz zu Kants kategorischem Imperativ handelt es sich dabei um kein formales, sondern um ein materiales Prinzip, dem eine metaphysische Einsicht zugrunde liegt. Angesichts der Tatsache, daß diese Einsicht intuitiv und nicht etwa diskursiv gewonnen wird, kann Schopenhauer das Mitleid als Gefühl einstufen. Freilich liegt im Mitleid keineswegs nur eine affektive oder emotionale Regung vor. Entscheidend ist, daß es darüber hinaus eine kognitive Komponente aufweist. Diese besteht im »Durchschauen des principii individuationis« (W I 469), mit anderen Worten, im Mitleid wird dem Menschen klar, daß er vom Anderen nicht durch eine radikale Kluft getrennt ist, sondern daß er – ebenso wie dieser – Erscheinung eines und desselben Willens als Ding an sich bzw. metaphysischen Willens ist. Daher kann sich der Mensch mit dem Anderen identifizieren, und zwar insbesondere, wenn dieser leidet. Schopenhauer betont, daß die Identifikation mit dem Anderen den Unterschied zwischen beiden Individuen nicht etwa aufhebt, sondern daß er lediglich »auf irgend eine Weise« oder »in einem gewissen Grade« (E 248) in den Hintergrund tritt: »[E]s bleibt uns gerade jeden Augenblick klar und gegenwärtig, daß Er der Leidende ist, nicht wir: und geradezu in seiner Person, nicht in unserer, fühlen wir das Leiden, zu unserer Betrübniß. Wir leiden mit ihm, also in ihm: wir fühlen seinen Schmerz als den seinen und haben nicht die Einbildung, daß es der unserige sei« (E 251).

Schopenhauer ist der Auffassung, daß die Identifizierung mit dem Anderen als einem Leidenden die einzige Triebfeder moralisch guten Handelns darstellt. Genauer gesagt motiviert das Mitleid den Handelnden dazu, die Bejahung seines eigenen Willens zurückzunehmen, um entweder dem Anderen kein Unrecht anzutun oder ihm sogar Hilfe zuteil werden zu lassen. Damit erweist sich das Mitleid als die »wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe« (E 248), ja als die »alleinige Quelle uneigennütziger Handlungen und deshalb als die wahre Basis der Moralität« (E 285).

Das Mitleid bietet sich nach Schopenhauer insofern als das »große Mysterium der Ethik, ihr Urphänomen« (E 248) dar, als es sich als Fundament bzw. Grundlage der Ethik erweist, das »zwar Alles unter ihm Begriffene und aus ihm Folgende erklärt, selbst aber unerklärt bleibt und als ein Räthsel vorliegt.« (E 301) Eine Aufklärung dieses Urphänomens kann nach Schopenhauer allein die Metaphysik leisten. Die entscheidende metaphysische Voraussetzung des Mitleids erblickt er im Gegensatz zwischen der empirischen Wirklichkeit in ihrer Vielheit und dem Willen als Ding an sich in seiner Einheit.

Zwar erklärt Schopenhauer auch im vierten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung, er wolle keine präskriptive Ethik errichten, doch tritt dort eine Tendenz, die sich auch in den Preisschriften bemerkbar macht, besonders deutlich zutage. Es handelt sich darum, daß sich Schopenhauer über den Wert bestimmter Handlungen und Zustände äußert bzw. ihnen einen positiven oder negativen Wert zuschreibt und auf diese Weise einen Ansatz vertritt, der sich keineswegs als rein deskriptiv, sondern vielmehr als axiologisch darbietet.43 Besonders deutlich wird diese Tendenz dadurch, daß Schopenhauer nicht einfach nur die genuin moralische Qualität menschlichen Handelns untersucht, sondern dieses unter dem Aspekt der Emanzipation des Menschen von der Negativität der empirischen Wirklichkeit betrachtet und in diesem Zusammenhang geradezu vom »Heil« (W I 491 u. 495) bzw. der »Erlösung« (ebd.) des Menschen spricht. Ob der Mensch diesen Zustand erreicht oder verfehlt, hängt ganz entscheidend davon ab, wie er sich zu seinem Willen verhält. Dabei steht er vor zwei Möglichkeiten, die Schopenhauer in der Überschrift des vierten Buches seines Hauptwerkes nennt: »Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben« (W I 341).

Daß sich Schopenhauer mit der Frage der Erlösung beschäftigt, hat nicht zuletzt damit zu tun, daß er die empirische Wirklichkeit im Rahmen seiner pessimistischen Weltanschauung äußerst negativ bewertet. Nach seiner Auffassung »läßt die Welt sich nicht aus sich selbst rechtfertigen« (W II 678). Sie bietet sich vielmehr als etwas dar, was nicht sein sollte (vgl. W II 198 u. 677 f.) bzw. dessen Nichtsein seinem Dasein vorzuziehen wäre (vgl. W II 675). Mehr noch, Schopenhauer ist überzeugt, daß die Welt – und damit auch der Mensch – aus einer Schuld resultiert (vgl. W II 198). Dabei argumentiert er, daß die Wirklichkeit unter dieser Voraussetzung das Werk eines Willens sein müsse, der nicht mit Erkenntnis begabt sei: »[D]enn nur ein blinder, kein sehender Wille konnte sich selbst in die Lage versetzen, in der wir uns erblicken. Ein sehender Wille würde vielmehr bald den Ueberschlag gemacht haben, daß das Geschäft die Kosten nicht deckt« (W II 678; vgl. a. W II 667). Um den Pessimismus zu begründen, ist es – laut Schopenhauer – nicht etwa erforderlich, die positiven und die negativen Aspekte der Wirklichkeit gegeneinander aufzurechnen. Allein schon der Umstand, daß es überhaupt Übel gebe, lasse den Pessimismus angemessen erscheinen: »Im Grunde aber ist es ganz überflüssig, zu streiten, ob des Guten oder des Uebeln mehr auf der Welt sei: denn schon das bloße Daseyn des Uebels entscheidet die Sache; da dasselbe nie durch das daneben oder danach vorhandene Gute getilgt, mithin auch nicht ausgeglichen werden kann« (W II 674).

Abgesehen davon, daß Schopenhauer den Willen als erkenntnislos, mit sich selbst widerstreitend und ziellos beschreibt, hebt er hervor, daß sich das menschliche Leben insofern als negativ erweist, als es vom Leiden und der Langeweile bewegt wird, die beide zusammen dessen »letzte Bestandtheile sind« (W I 390). Den Grund des Leidens erblickt Schopenhauer in einem Mangel, der – aufgrund eines entsprechenden Wollens – als Bedürfnis erfahren wird. So stellt er fest: »Man sah ein, daß die Entbehrung, das Leiden, nicht unmittelbar und nothwendig hervorgieng aus dem Nicht-haben; sondern erst aus dem Haben-wollen und doch nicht haben; daß also dieses Haben-wollen die nothwendige Bedingung ist, unter der allein das Nicht-haben zur Entbehrung wird, und den Schmerz erzeugt.« (W I 129) Während das Leiden demnach einer Hemmung des Willens gleichkommt, bringt ihre Aufhebung den entgegengesetzten, angenehmen Zustand mit sich: »Wir nennen dann seine Hemmung durch ein Hindernis, welches sich zwischen ihn und sein einstweiliges Ziel stellt, Leiden; hingegen sein Erreichen des Ziels Befriedigung, Wohlseyn, Glück.« (W I 387) Dabei betont Schopenhauer, daß das Leiden – als der ursprüngliche, unmittelbar erlebte Zustand – positiv, das Glück hingegen – als bloße Aufhebung desselben – negativ sei (vgl. W II 673).

Die Langeweile hingegen tritt ein, wenn der Schmerz aufgehoben ist und sich nicht gleich eine neue Begierde oder ein neuer Wunsch meldet: »Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfniß wieder ein: wo nicht, so folgt Oede, Leere, Langeweile« (W I 392). Ähnlich wie den Schmerz empfindet der Mensch auch die Langeweile als leidvoll. Sie ist »nichts weniger, als ein gering zu achtendes Uebel« (ebd.), und der Kampf gegen sie erweist sich als »eben so quälend […] wie gegen die Noth.« (ebd.)

Nun könnte man fragen, ob die Befriedigung eines Bedürfnisses – im Gegensatz zu dem, was Schopenhauer lehrt – nicht einfach nur als negativer Zustand im Sinne der bloßen Aufhebung eines Schmerzes, sondern als positiver Zustand eingeschätzt werden könnte, der für sich selbst genommen wertvoll ist. Freilich weist Schopenhauer diese Möglichkeit zurück. So stellt er fest: »Daß hinter der Noth sogleich die Langeweile liegt, […] ist eine Folge davon, daß das Leben keinen wahren ächten Gehalt hat, sondern bloß durch Bedürfniß und Illusion in Bewegung erhalten wird: sobald aber diese stockt, tritt die gänzliche Kahlheit und Leere des Daseyns zu Tage.« (P II 311) Und umgekehrt steht für ihn fest: »Wenn nämlich das Leben, in dem Verlangen nach welchem unser Wesen und Daseyn besteht, einen positiven Werth und realen Gehalt in sich selbst hätte; so könnte es gar keine Langeweile geben: sondern das bloße Daseyn, an sich selbst, müßte uns erfüllen und befriedigen.« (ebd.)

Vergegenwärtigt man sich, daß das Leiden aus einer Hemmung des Willens resultiert, so leuchtet ein, daß die Möglichkeit einer Überwindung der Dialektik von Schmerz und Langeweile davon abhängt, ob der Wille ein »Streben ohne Ziel und Ende« (W I 402) bleibt oder aber zum Stillstand kommen oder aber aufgehoben werden kann. Damit stellt sich die Frage, ob der Wille bejaht oder verneint wird.

Die Bejahung des Willens besteht nach Schopenhauer darin, daß der Leib, in welchem sich der Wille objektiviert, bejaht wird bzw. seine Bedürfnisse befriedigt werden. Sie zielt sowohl auf die »Erhaltung des Individuums« als auch – erst recht – auf die »Fortpflanzung des Geschlechts« (W I 408 ff.) ab. Mehr noch, Schopenhauer erblickt im Geschlechtstrieb den »Kern des Willens zum Leben« (W II 601) und in seiner Befriedigung die »entschiedenste Bejahung des Willens zum Leben« (W I 410; vgl. a. W I 412 u. W II 666). So gelten Schopenhauer die Genitalien als der »eigentliche Brennpunkt des Willens« (W I 412) und der Geschlechtsakt als »dessen Kern, als dessen größte Koncentration« (P II 343). Dadurch werde neues Leben in die Welt gesetzt und neues Leiden hervorgebracht. Schopenhauer betont: »Mit jener Bejahung über den eigenen Leib hinaus, und bis zur Darstellung eines neuen, ist auch Leiden und Tod, als zur Erscheinung des Lebens gehörig, aufs Neue mitbejaht und die […] Möglichkeit der Erlösung diesmal für fruchtlos erklärt.« (W I 410)

Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Negativität der empirischen Wirklichkeit auf die Bejahung des Willens zurückführt, ist nachvollziehbar, daß er, um zur Erlösung zu gelangen, auf die Verneinung desselben setzt: »Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken.« (W I 491)44 Dabei unterscheidet er zwischen einer Verneinung des Willens im engeren und im weiteren Sinne. Letztere liegt bereits mit der ästhetischen Kontemplation oder dem tugendhaften Handeln vor, erstere hingegen mit der Resignation, die Schopenhauer mit der »Erlösung« (W I 204) bzw. dem »Heil« (W II 715) gleichsetzt. Handelt ein Mensch tugendhaft, so bedeutet dies, daß er seinen eigenen Willen zurücknimmt und dem Anderen entweder – im Sinne der Gerechtigkeit – nicht schadet oder – im Sinne der Menschenliebe – sogar hilft. Dabei ist die Tugend kein Selbstzweck, sondern ein Weg, der zur Verneinung des Willens im engeren Sinne – also zur Resignation – führt. Diese ist »das letzte Ziel, ja, das innerste Wesen aller Tugend und Heiligkeit« (W I 204; vgl. a. W II 709 u. 712 ff.). Die ästhetische Kontemplation hingegen kann insofern als Form der Verneinung des Willens gelten, als sie eine Erkenntnis beinhaltet, die nicht durch den Willen getrübt wird. Dabei gelingt es der Erkenntnis, »frei von allen Zwecken des Wollens rein für sich [zu] bestehn […], als bloßer klarer Spiegel der Welt« (W I 204). Allerdings werde der Wille in der ästhetischen Kontemplation nicht auf Dauer, sondern nur »für den Augenblick« (W I 482) außer Kraft gesetzt.

Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß die Verneinung des Willens von einer Erkenntnis ausgeht, die ihrerseits als Quietiv auf diesen wirkt: »[D]ie Verneinung des Willens zum Leben […] zeigt sich, wenn auf jene Erkenntniß das Wollen endet, indem sodann nicht mehr die erkannten einzelnen Erscheinungen als Motive des Wollens wirken, sondern die ganze, durch Auffassung der Ideen erwachsene Erkenntniß des Wesens der Welt, die den Willen spiegelt, zum Quietiv des Willens wird und so der Wille frei sich selbst aufhebt.« (W I 359) Dabei beschreibt Schopenhauer die fragliche Erkenntnis recht unterschiedlich. Bald ist von der Durchschauung des principii individuationis (vgl. W I 469 f.), bald von der Erfassung der Ideen (vgl. W I 295) die Rede. Entscheidend ist, daß in beiden Fällen eine Erkenntnis vorliegt, die darauf hinausläuft, daß sowohl den empirischen Dingen als auch den Ideen ein und derselbe Wille als Ding an sich zugrunde liegt. Mit anderen Worten, es geht Schopenhauer darum, daß »das principium individuationis durchschaut, die Ideen, ja das Wesen der Dinge an sich, als der selbe Wille in Allem, unmittelbar erkannt wird, und aus dieser Erkenntniß ein allgemeines Quietiv des Wollens hervorgeht« (W I 498).

Während die Erkenntnis der Ideen bei der ästhetischen Kontemplation im Vordergrund steht, gilt dies für die Durchschauung des principii individuationis eher in Hinblick auf das Mitleid, das – nach Schopenhauer – darin besteht, daß sich der leidende Andere dem Betrachter unmittelbar als Erscheinung desselben Willens als Ding an sich darbietet, in dem auch er selbst gründet. Daher kommt Schopenhauer zum Ergebnis, daß die Erfahrung des Leidens eine wesentliche Voraussetzung für die Verneinung des Willens ist. Er macht geltend, daß neben dem fremden, im Mitleid erfaßten Leiden auch das eigene Leiden dazu führen kann, daß der Wille verneint wird: »Der Unterschied, den wir als zwei Wege dargestellt haben, ist, ob das bloß und rein erkannte Leiden, durch freie Aneignung desselben, mittelst Durchschauung des principii individuationis, oder ob das unmittelbar selbst empfundene Leiden jene Erkenntniß hervorruft.« (W I 491) Schopenhauer betrachtet die zweite Möglichkeit als die häufigere (vgl. W I 485), schreibt ihr aber die geringere Dignität zu. Das schlägt sich darin nieder, daß er sie als den »zweite[n] Weg (δευτεροζ πλουζ)« (W I 485) bezeichnet.

Zwar wird der Wille bereits im tugendhaften Handeln und in der ästhetischen Kontemplation verneint, aber die »eigentliche[] Verneinung des Willens« (W I 478) liegt nach Schopenhauer erst mit der Askese vor. Diese ist die »vorsätzliche Brechung des Willens, durch Versagung des Angenehmen und Aufsuchen des Unangenehmen, die selbstgewählte büßende Lebensart und Selbstkasteiung, zur anhaltenden Mortifikation des Willens.« (W I 484 f.) Obgleich der Wille, wenn er im eigentlichen Sinne verneint wird, dauerhafter als in der ästhetischen Kontemplation zur Ruhe gelangt, ist er damit nicht endgültig aufgehoben. In diesem Sinne stellt Schopenhauer fest: »Indessen dürfen wir doch nicht meinen, daß, nachdem durch die zum Quietiv gewordene Erkenntniß, die Verneinung des Willens zum Leben ein Mal eingetreten ist, sie nun nicht mehr wanke, und man auf ihr rasten könne, wie auf einem erworbenem Eigenthum. Vielmehr muß sie durch steten Kampf immer aufs Neue errungen werden.« (W I 484)

Darüber hinaus kann die Verneinung des Willens – nach Schopenhauer – mit einer Verneinung der Erkenntnis einhergehen. Um das nachzuvollziehen, muß man in Rechnung stellen, daß Schopenhauer die Erkenntnis als Funktion des Leibes und damit des Willens auffaßt, dem sie letztlich dient. Wird nun mit letzterem auch die Erkenntnis aufgehoben, so bedeutet dies für Schopenhauer, daß sich mit der Verneinung des Willens zugleich die Welt in nichts auflöst: »Mit gänzlicher Aufhebung der Erkenntniß schwände dann auch von selbst die übrige Welt in Nichts; da ohne Subjekt kein Objekt.« (W I 471) Damit meint Schopenhauer jedoch nicht, daß es nach der Verneinung des Willens überhaupt nichts mehr gäbe oder zu erkennen gäbe. Er begreift das Nichts, von dem er spricht, nicht als ein nihil negativum, mit dem alles negiert wäre, sondern als ein nihil privativum, mit dem lediglich etwas Bestimmtes – nämlich die empirische Wirklichkeit bzw. die Welt als Vorstellung – negiert ist. Über den Bereich jenseits der Erkenntnis lasse sich nichts Positives aussagen. Wie dieser beschaffen sei, deute sich lediglich den Mystikern an, deren Erfahrung weder die Form einer Erkenntnis besitze noch gar mitteilbar sei: »Würde dennoch schlechterdings darauf bestanden, von Dem, was die Philosophie nur negativ, als Verneinung des Willens, ausdrücken kann, irgendwie eine positive Erkenntniß zu erlangen; so bliebe uns nichts übrig, als auf den Zustand zu verweisen, den alle Die, welche zur vollkommenen Verneinung des Willens gelangt sind, erfahren haben, und den man mit den Namen Ekstase, Entrückung, Erleuchtung, Vereinigung mit Gott u. s. w. bezeichnet hat; welcher Zustand aber nicht eigentlich Erkenntniß zu nennen ist, weil er nicht mehr die Form von Subjekt und Objekt hat, und auch übrigens nur der eigenen, nicht weiter mittheilbaren Erfahrung zugänglich ist.« (W I 506) Mit dieser Wendung erweist sich die Erlösung als Überwindung der empirischen Wirklichkeit bzw. als das Eingehen in das Nichts. Für jemanden, der diesen Schritt getan hat, sei freilich die empirische Wirklichkeit ebenfalls nichts. Dies wird durch die Worte, mit denen Schopenhauer den ersten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung beendet, besonders deutlich: »[W]as nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.« (W I 508)

1 Daher erstaunt es nicht weiter, daß Ueber das Sehn und die Farben nicht in die Zürcher Ausgabe aufgenommen wurde. Alle drei Fassungen sind freilich in den Sämtlichen Werken abgedruckt.

2 In gewissem Sinne überschreitet Schopenhauer den Bereich der empirischen Wirklichkeit allerdings dadurch, daß er – inspiriert von Kant – dem empirischen Charakter des Menschen einen intelligiblen zur Seite stellt, den er aber nicht mit dem Ding an sich gleichsetzt.

3 Über die einzelnen Schritte der Ausarbeitung der Metaphysik des Willens in den Jahren 1813 bis 1818 berichtet Kamata. Vgl. Yasuo Kamata. Der junge Schopenhauer. Genese des Grundgedankens der Welt als Wille und Vorstellung. Freiburg / München 1988, 177 ff. – Ebenso legt Kamata in seinem Buch die Entwicklung dar, die Schopenhauer von den ersten Anfängen seines Philosophierens zur Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde durchläuft.

4 Diese Tendenz verstärkt sich später in der Abhandlung Ueber den Willen in der Natur (1836) sowie im zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung (1844).

5 Die hinzugefügten und weggelassenen Stellen sind in den von A. Hübscher edierten Sämtlichen Werken dokumentiert. Freilich stellen diese insofern keine Ausgabe letzter Hand dar, als der Herausgeber zahlreiche Entwürfe, die Schopenhauer auf zwischen den Seiten der Handexemplare seiner Werke eingeschossenen Blättern notiert hatte, in diese integrierte, ohne zu wissen, wie ernst sie dieser letztlich gemeint hatte. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich verdienstvoll, daß Ludger Lütkehaus bei Haffmanns eine Ausgabe letzter Hand veröffentlicht hat: Arthur Schopenhauer. Werke in fünf Bänden. Hg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich 1988. – Besonders deutlich wird das Ausmaß von Hübschers editorischen Eingriffen bei den Parerga und Paralipomena, die in der Haffmanns-Ausgabe erheblich kürzer als in den Sämtlichen Werken ausfallen.

6 Die ab 1830 entstandenen Texte wurden, wie Hübscher in der Einleitung zum vierten Band feststellt, aufgrund knapper Finanzen nicht mehr vollständig, sondern lediglich selektiv veröffentlicht. Vgl. HN IV/1, VII.

7 Vgl. a. Urs App. Schopenhauers Kompass. Die Geburt seiner Philosophie. Rorschach / Kyoto, 2011, 59 f.

8 Vgl. a. App (2011), 58 ff.

9 Rudolf Malter. Der eine Gedanke. Hinführung zur Philosophie Arthur Schopenhauers. Darmstadt 1988, 13.

10 Die entgegengesetzte Position ließe sich – mit Kant – als »empirischer Idealismus« bezeichnen. Sie beinhaltet, daß sich innerhalb des Bereichs der Erscheinung keine Unterscheidung zwischen bloß Subjektivem einerseits und Objektivem anderseits treffen läßt, so daß alle empirische Realität bloß subjektiv wäre. Vgl. Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. In: Werkausgabe III / IV. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968 (im folgenden: KrV), A 376 f. u. A 491 / B 520.

11 Vgl. W I 44 f.

12 In seinen erkenntnistheoretischen Vorlesungen lehnt sich Schopenhauer hingegen eng an Kants transzendentale Ästhetik an. Vgl. Vo I, 132 ff., 141 ff. und 150 ff.

13 Zwar steht Schopenhauer dem Gedanken einer Evolution ablehnend gegenüber, aber immerhin lehrt er, daß der Erkenntnisapparat eines Lebewesens der Umwelt angepaßt ist, um das Überleben der Spezies zu gewährleisten. Vgl. W I 201 ff., N 246 ff. sowie W II 326 f., 333 u. 336.

14 Vgl. a. David W. Hamlyn. Schopenhauer. London 1980, 71: »[D]ependence on brain functions is not the same as being solely determined by brain functions.«

15 Dabei vertritt er folgende – wenig überzeugende – Auffassung: »Der Realismus führt […] nothwendig zum Materialismus.« (W II 21)

16 Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer Subjekt und Objekt als Glieder einer apriorischen Korrelation betrachtet, weist er auch die Art von Idealismus bzw. Realismus zurück, die versucht, die gesamte Wirklichkeit einseitig vom Subjekt bzw. vom Objekt her verständlich zu machen. Vgl. W I 55 f.

17 Letztlich löst Schopenhauer diese »Antinomie in unserm Erkenntnißvermögen« (W I 61) im Sinne des transzendentalen Idealismus auf. – Zeller hingegen wirft Schopenhauer vor, sich mit dieser Konstellation in einen Zirkel zu begeben. Vgl. Eduard Zeller. »Schopenhauer.« In: Volker Spierling (Hg.). Materialien zu Schopenhauers ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹. Frankfurt a. M. 1984, 185.

18 Schopenhauer bewertet dieses Verhältnis gelegentlich als parasitär. Aus seiner Sicht ist das Gehirn »insofern ein Parasit des übrigen Organismus […], als es nicht direkt eingreift in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt regulirt.« (W II 234; vgl. a. W II 252, 288, 302 u. 464 sowie P II 85)

19 Zeller (1984), 185.

20 Natürlich stellt sich die Frage, ob Schopenhauer damit nicht den Rahmen seines transzendentalphilosophischen Ansatzes in Richtung auf eine – empirisch argumentierende – anthropologische Erkenntnistheorie überschreitet und ob beide Betrachtungsweisen miteinander kompatibel sind.

21 Gegen diese Auffassung könnte man geltend machen, daß ein Urteil auch dann wahr sein kann, wenn es nicht oder nicht richtig begründet ist. Eine Begründung kann zu einem wahren Urteil hinzutreten, muß es aber nicht. Sie würde ihm allenfalls zu einer höheren Dignität, nicht jedoch zur Wahrheit verhelfen. Bei anderer Gelegenheit scheint Schopenhauer durchaus dem Umstand gerecht zu werden, daß die Wahrheit eines Urteils in seiner Korrespondenz zum beurteilten Sachverhalt besteht: »Folglich besteht in der Uebereinstimmung der Begriffe, also der abstrakten Vorstellung, mit dem in der anschaulichen Vorstellung Gegebenen […] die Wahrheit, und nach der Seite des Subjekts, das Wissen.« (W II 124)

22 Hinsichtlich der prinzipiellen Revidierbarkeit einer jeden Interpretation stimmen so unterschiedliche Autoren wie Schleiermacher, Dilthey und Gadamer überein. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik. Hg. und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1977, 168 u. 328, Wilhelm Dilthey. »Die Entstehung der Hermeneutik.« In: Gesammelte Schriften. Bd. V. Göttingen 1968, 336 sowie Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode. Tübingen 1960, 285.

23 Hallich spricht in diesem Zusammenhang von einem »Kohärenzkriterium« und einem »Erklärungskriterium«. Oliver Hallich. »Die Entzifferung der Welt. Schopenhauer und die mittelalterliche Allegorese.« In: Dieter Birnbacher / Andreas Lorenz / Leon Miodonski (Hg.). Schopenhauer im Kontext. Würzburg 2002, 182. Nach seiner Auffassung reichen die beiden Kriterien allerdings nicht aus, um Schopenhauers metaphysische Überlegungen zu begründen: »Da das Problem des Fehlens überzeugender Verifikationskriterien für interpretative Hypothesen in Schopenhauers Philosophie ungelöst bleibt, können willensmetaphysische Aussagen nicht als überprüfbar, also auch nicht als streng wissenschaftlich begründbar gelten.« (185)

24 Der Ausdruck »Individualwille« stammt nicht von Schopenhauer selbst, sondern wurde von Pothast geprägt. Ulrich Pothast. Die eigentlich metaphysische Tätigkeit. Über Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett. Frankfurt a. M. 1989, 42.

25 G 160: »Wenn wir in unser Inneres blicken, finden wir uns immer als wollend. Jedoch hat das Wollen viele Grade, vom leisesten Wunsche bis zur Leidenschaft, und daß nicht nur alle Affekte, sondern auch alle die Bewegungen unsers Innern, welche man dem weiten Begriffe Gefühl subsumirt, Zustände des Willens sind, habe ich öfter auseinandergesetzt […].«

26 Ähnlich wie der Begriff des Individualwillens stammt auch jener des Weltwillens nicht von Schopenhauer selbst, sondern von einem seiner Interpreten, der ihn – im letzteren Fall – im Titel eines Buches gebraucht: Alfred Schmidt. Idee und Weltwille. Schopenhauer als Kritiker Hegels. München / Wien 1988.

27 Vgl. Franz von Kutschera. Vernunft und Glaube. Berlin / New York 1990, 34 ff.

28 Demgegenüber insistiert Pothast (1989), in Anlehnung an eine Stelle aus Nietzsches Geburt der Tragödie, daß Schopenhauer die Kunst zur »eigentlich metaphysischen Tätigkeit« erhebt und ihr damit eine herausragende Stellung zuerkennt.

29 Ob die Einführung der Ideen tatsächlich systematisch erforderlich ist oder nicht, wird durchaus kontrovers diskutiert. Während Janaway zu einer vorsichtig positiven Einschätzung gelangt, üben Hamlyn und Magee deutliche Kritik. Vgl. Hamlyn (1980), 8, Christopher Janaway. Schopenhauer. A Very Short Introduction. Oxford 2002, 75, Bryan Magee. The Philosophy of Schopenhauer. Oxford 1983, 239.

30 Daher kann Schopenhauer die Idee sowohl mit der – platonisch verstandenen – Form (vgl. W I 222 u. 232) bzw. der forma substantialis (vgl. W I 193 u. 270) wie auch dem intelligiblen Charakter (vgl. W I 208 f. u. 211 sowie W II 432) gleichsetzen.

31 Vgl. a. Pothast (1989), 67.

32 Hält man sich vor Augen, daß sich der Wille streng genommen nicht erkennen läßt, so ist der Ausdruck »adäquate Objektität« allerdings mit Vorsicht zu genießen.

33 Von einer Stufe zur anderen nehmen die Ideen – nach Schopenhauer – an Individualität zu, und zwar dergestalt, daß auf der höchsten Stufe, dem Menschen, einer Idee nicht mehr eine Art oder Gattung, sondern ein Individuum mit einem jeweils eigenen Charakter entspricht (vgl. W I 180).

34 An einer Stelle setzt Schopenhauer die Ideen nicht mit Willensakten gleich, sondern erklärt, in der Idee trete ein Willensakt in Erscheinung: »Der intelligible Charakter fällt also mit der Idee, oder noch eigentlicher mit dem ursprünglichen Willensakt, der sich in ihr offenbart, zusammen« (W I 208).

35 Da der Mensch als empirisches Wesen durch den Willen bestimmt ist, wird die für die willensfreie Erkenntnis der Ideen erforderliche Leistung gleichermaßen einem außerhalb desselben situierten Genius zugeschrieben. Vgl. W II 446 u. 455 f. sowie P II 461.

36 Die objektive Auffassung der Dinge selbst bleibt freilich, so Schopenhauer, stets »nur eine vorübergehende« (P II 462).

37 Mehr noch, Schopenhauer betont, daß jedes Kunstwerk stets hinter dem anschaulichen Gehalt, den es zum Ausdruck bringt, zurückbleibt und deshalb auf die Phantasie des Betrachters angewiesen ist: »In der Kunst aber ist überdies das Allerbeste zu geistig, um geradezu den Sinnen gegeben zu werden: es muß in der Phantasie des Beschauers geboren, wiewohl durch das Kunstwerk erzeugt werden.« (W II 481) Freilich treffe dies auf die Dichtung in ganz besonderem Maße zu.

38 Den Unterschied zwischen beiden Bereichen erblickt Schopenhauer darin, daß die Philosophie – anders als die Musik – mit Begriffen arbeitet.

39 Genauer gesagt stehen die empirische Wirklichkeit und die Musik insofern auf einer Stufe, als sie beide Erscheinungen des Willens sind. Besteht eine Analogie zwischen ihnen, so beruht sie auf dem metaphysischen Ursprung im Willen, den sie teilen: »Diesem allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die Musik als zwei verschiedene Ausdrücke der selben Sache ansehn, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Analogie Beider ist, dessen Erkenntniß erfordert wird, um jene Analogie einzusehn.« (W I 329)

40 Sicherlich ist auch der Satz vom zureichenden Grunde des Wollens einschlägig, aber dieser stellt letzten Endes eine Variante des Satzes vom zureichenden Grunde des Werdens dar. Das ergibt sich allein schon daraus, daß Schopenhauer die Motivation, welche den Gegenstand desselben bildet, als eine Art der Kausalität betrachtet: »[D]ie Motivation ist die Kausalität von innen gesehn.« (G 162)

41 Vgl. G 66 ff.

42 Daß dennoch der »Schein der empirischen Freiheit des Willens« (W I 367) besteht, liegt nach Schopenhauer daran, daß der Mensch über die Möglichkeit verfügt, über mehrere Handlungsalternativen nachzudenken, bevor er tatsächlich eine von ihnen realisiert. Dies verleite ihn zu der Annahme, er könne sich frei zwischen den sich darbietenden Möglichkeiten entscheiden. In Wirklichkeit aber werde die Handlung trotz der Reflexion, die ihr vorhergehen könne, mit Notwendigkeit durch das stärkste Motiv verursacht: »Obgleich nun Thier und Mensch mit gleicher Nothwendigkeit durch die Motive bestimmt werden, so hat doch der Mensch eine vollkommene Wahlentscheidung vor dem Thiere voraus, welche auch oft für eine Freiheit des Willens in den einzelnen Thaten angesehn worden, obwohl sie nichts Anderes ist, als die Möglichkeit eines ganz durchgekämpften Konflikts zwischen mehreren Motiven, davon das stärkere ihn dann mit Nothwendigkeit bestimmt.« (W I 373)

43 Vgl. Daniel Schubbe / Matthias Koßler (Hg.). Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart / Weimar 2014, 40.

44 In diesem Zusammenhang vertritt Schopenhauer die – einigermaßen kryptisch anmutende – These, daß sich in der Verneinung des Willens die metaphysische Freiheit des Willens als Ding an sich ausdrücke, und zwar insofern, als dieser den Charakter aufhebe. So spricht Schopenhauer ausdrücklich von der »Freiheit des Willens an sich, sich selbst zu verneinen und den Charakter, mit aller auf ihn gegründeten Nothwendigkeit der Motive aufzuheben« (W I 504). Diesen Vorgang rückt Schopenhauer in die Nähe der – christlich verstandenen – Gnadenwirkung: »Denn eben Das, was die christlichen Mystiker die Gnadenwirkung und Wiedergeburt nennen, ist uns die einzige unmittelbare Aeußerung der Freiheit des Willens.« (W I 499)

Grundriss Schopenhauer

Подняться наверх