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Kapitel eins

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Der Alarm zerriß die Stille bei Harrods, ein durchdringender, anhaltender Ton. Lionel Kenton, der diensthabende Wachmann im Sicherheitskontrollraum, richtete sich auf seinem Stuhl auf. Seine Hände wanderten zum Hals und zogen den Knoten seiner Krawatte fest. Auf der Schalttafel vor ihm blinkte eine der Leuchtdioden rot. Falls das System ordnungsgemäß funktionierte, hatte irgend jemand – oder irgend etwas – einen Sensor im siebten Stock ausgelöst. Er drückte den Knopf, der die Videoüberwachung für dieses Stockwerk aktivierte. Auf den Bildschirmen war nichts zu sehen.

Kenton war in dieser Nacht der ranghöchste Wachmann. Sein Rang war so hoch, daß er sogar ein eigenes Regalbrett über dem Heizkörper hatte. Darauf standen gerahmte Fotos von seiner Frau, seinen beiden Töchtern, dem Papst und Catherine Deneuve, ein Elefant aus Ebenholz und ein Kassettenhalter mit Opernaufnahmen. Puccini hielt ihn nachts wach, das sagte er jedem Banausen, der Bedenken gegen Opernmusik im Kontrollraum hatte. Nessun dorma. Musikhören war weniger unverantwortlich, als die Zeitung oder ein Taschenbuch zu lesen. Seine Augen ruhten auf der Schalttafel, und seine Ohren nahmen jedes Geräusch wahr, das nicht mit der Musik harmonierte.

Er brachte Pavarotti zum Schweigen und betätigte den Knopf, der ihn direkt mit dem Polizeirevier Knightsbridge verband. Dort mußten sie den Alarm bereits elektronisch empfangen haben. Er nannte seinen Namen und sagte: »Bewegungsmelderalarm. Ich kriege ein Signal aus dem siebten Stock. Möbel. Abteilung neun. Nichts auf dem Bildschirm.«

»Meldung um 22.47 eingegangen.«

»Kommt jemand?«

»Das ist Vorschrift.«

Natürlich war es das. Er verriet Anzeichen von Nervosität. Er verschaffte sich einen erneuten Überblick über den siebten Stock. Nichts Ungewöhnliches zu sehen, aber er hatte ohnehin nicht viel Vertrauen zu der Videoüberwachung. Jeder Terrorist weiß, wie er sich aus dem Kamerabereich heraushält.

Und er mußte annehmen, daß da oben ein Terrorist war.

Zweiundzwanzig Sicherheitsleute im Nachtdienst waren im gesamten Kaufhaus postiert. Er löste Generalalarm aus und ließ ein zweites Mal kontrollieren, daß auch wirklich alle Fahrstühle ausgeschaltet waren. Die Sicherheitstüren zwischen den Abteilungen waren bereits geschlossen, seit die Putzkolonne gegangen war. Bei der Terrorismusbekämpfung durfte man zwar nichts ausschließen, aber es war wirklich unmöglich, bei Harrods einzubrechen. Der Eindringling – falls einer da oben war – mußte sich versteckt haben, als das Kaufhaus geschlossen wurde. Falls dem so war, würde wohl jemand seinen Job verlieren, und zwar derjenige, der Abteilung neun hätte überprüfen müssen. In dieser Branche durfte man sich keinen Fehler erlauben.

Sein Stellvertreter in dieser Nacht, George Bullen, kam hereingestürmt. Er war auf Rundgang gewesen, als der Alarm losging.

»Wo kommt es her?«

»Siebter.«

»Wo auch sonst.«

Die Möbelabteilung war ein Risikobereich, die Kontrollen dort eine Tortur. Garderoben, Schränke, Kommoden und alle möglichen Einbauelemente. Die abendliche Suche nach Bomben war eine ermüdende Aufgabe. Es war verständlich – wenn auch keineswegs verzeihlich –, daß der zuständige Wachmann dort es derart leid war, in Schubladen zu gucken und Schränke zu öffnen, daß er jemanden, der sich hinter den verdammten Dingern versteckt hielt, übersehen hatte.

Ein weiteres Lämpchen auf der Bedienungstafel leuchtete auf, und einer der Monitore zeigte Autoscheinwerfer, die in die Lieferanteneinfahrt einbogen. Die Polizei reagierte tadellos. Kenton wies George Bullen an, alles im Auge zu behalten, und ging nach unten, um sie in Empfang zu nehmen.

Schon drei Streifen- und zwei Mannschaftswagen. Scharfschützen und Hundeführer stiegen aus. Noch mehr Autos fuhren vor, und ihre zuckenden Blaulichter verliehen der Lieferanteneinfahrt einen unheimlichen blauen Schein. Kenton spürte ein Rumoren im Bauch. Die Polizei würde ihn bestimmt nicht zum Wachmann des Jahres wählen, wenn der Alarm durch einen Fehler im System ausgelöst worden war.

Aus einem der Wagen stieg ein Beamter in Zivil und kam auf ihn zu. »Sie sind?«

»Kenton.«

»Sind Sie hier der Chef?«

Er nickte.

»Haben Sie uns angerufen?«

Er bejahte, und sein Magen krampfte sich zusammen.

»Siebter Stock?«

»Möbelabteilung.«

»Zugänge?«

»Zwei Treppen.«

»Nur zwei?«

»Ansonsten ist der Bereich durch Sicherheitstüren abgeschirmt.«

»Keine Aufzüge?«

»Abgeschaltet.«

»Sind Ihre Leute auf den Treppen?«

»Ja. Das ist Routine. Sie bewachen die Treppen ober- und unterhalb von Ebene sieben.«

»Dann zeigen Sie uns mal den Weg.«

Gut dreißig uniformierte Polizisten, Hundeführer und Beamte in Zivil, etliche davon bewaffnet, folgten ihm, als er durch das Erdgeschoß zur ersten Treppe lief. Eine Gruppe von zirka zwölf scherte aus und hetzte diese Treppe hinauf, während er die übrigen zu der anderen führte.

Sieben Stockwerke hochzusteigen, war für Lionel Kenton ein Fitneßtest. Er war froh, als man ihm nach sechseinhalb sagte, er solle stehenbleiben, und noch froher, als er sah, daß seine Sicherheitsleute auf dem Posten waren, wie er behauptet hatte. Nun hatte er Gelegenheit, seine Atmung zu normalisieren, während zu der Gruppe auf der anderen Treppe Funkkontakt hergestellt wurde.

»Wie sieht’s da drin aus?«

Die Scharfschützen wollten vor allem wissen, mit wieviel Deckung sie rechnen konnten. Einer aus Kentons Mannschaft, ein stämmiger Exkripobeamter namens Diamond, zählte rasch die Möbel auf, die der Treppe am nächsten standen. Peter Diamond war der Mann, der heute nacht für diese Abteilung zuständig war. Armes Schwein, dachte Kenton. Du siehst noch kränker aus, als ich mich fühle.

Drei Scharfschützen gingen die letzten Stufen hinauf. Andere bezogen Posten auf der Treppe. Der Rest zog sich auf den unteren Absatz zurück.

Das war das Schlimmste – auf das Unbekannte warten, während andere loszogen, um damit fertigzuwerden. Jemand bot Kenton ein Kaugummi an, und er nahm es dankbar.

Es vergingen vielleicht sechs nervenaufreibende Minuten, ehe das Funkgerät des ranghöchsten Polizisten knackte und eine Stimme meldete: »Bis jetzt negativ.«

Zur Unterstützung wurden zwei Hunde mit ihren Führern reingeschickt.

Wieder trat eine lange Stille ein.

Wachmann Diamönd stand gleich links von Kenton. Er hielt die Hände gefaltet und die Finger verschränkt wie zum Gebet, nur daß die Fingernägel vom Druck ganz weiß waren.

Der letzte Rest von Kentons Zuversicht war im Schwinden begriffen, als jemand über die kratzige Sprechanlage verkündete: »Wir haben euren Eindringling.«

»In Gewahrsam?« fragte der Vorgesetzte.

»Kommt gucken.«

»Seid ihr sicher, daß es bloß einer ist?«

»Positiv.«

Der Ton war beruhigend. Seltsam, als ob die Spannung plötzlich verflogen wäre. Polizisten und Wachmänner liefen die Treppe hinauf.

Der siebte Stock war hell erleuchtet. Die Scharfschützen standen in einer Ecke zusammen, wo Sessel und Zweisitzer ausgestellt waren. Aber sie wirkten nicht mehr wie Revolverhelden. Sie lungerten herum wie auf einer Stehparty. Zwei hatten sich auf Sessellehnen niedergelassen. Von einem Festgenommenen war nichts zu sehen.

Kenton war plötzlich in kaltem Schweiß gebadet, als er mit den anderen näher kam. »Aber ihr habt doch gesagt, ihr hättet jemanden gefunden?«

Einer deutete mit einem Blick nach unten auf ein Sofa.

Es war so ein riesiges, schwarzes Kordding, wie man es im Vorzimmer eines Werbefritzen erwarten würde. An einem Ende lag ein Haufen leuchtendbunter Zierkissen. Das Gesicht, das unter den Kissen hervorschaute, gehörte einem kleinen Mädchen, die Haare schwarz und gefranst, asiatisch geformte Augen. Sonst war nichts von ihm zu sehen.

Kenton starrte es verwirrt an.

»Ach so«, sagte der ranghöchste Polizist.

Die Fährte des Mädchens

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