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Mai 1260 – Conrad

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Ein blonder Wirbelwind stürzte in das Kontor von Johan Rikeland.

„Vater“, rief er aufgeregt, „Vater, sieh was ich gefunden habe.“

Johan Rikeland sah bedächtig aber voller Freude auf seinen Ziehsohn. Den Entschluss vor einigen Jahren, sich dieses Kind aus dem Heilig Geist Hospital zu holen, den hatte er nie bereut. Conrad war die Sonne in seinem Leben. Was hatte der Junge nun wieder angeschleppt?

Der konnte kaum tragen was er in den Händen hielt und Rikeland schüttelte den Kopf.

„Den hast Du doch nicht gefunden, schon wieder hast Du einen gestohlen. Wenn Dich einer der Baumeister erwischt, dann verpasst er Dir eine gehörige Tracht Prügel, und ich kann noch nicht einmal etwas dagegen tun.“

Conrad strahlte über das ganze Gesicht. Er wusste, dass er nicht stehlen durfte, es war schließlich eines der Gebote Gottes, und die bemühte er sich immer einzuhalten. Aber konnte er etwas dafür, das dieser hier so weit weg von den anderen lag und quasi darum bettelte mitgenommen zu werden? Vorsichtig trug er den Gegenstand in seine Kammer. Dort lagen schon andere „Fundstücke“ dieser Art, ordentlich aufgereiht, und alle hatten eine andere Form.

Conrad sammelte Backsteine von allen Kirchenbaustellen der Stadt.

Seine Leidenschaft für Steine war schon als ganz kleiner Junge in ihm erwacht, und seit er wusste, dass die Menschen sie auch selber herstellen konnten, fand seine Begeisterung keine Grenzen. Wismar hatte eine Menge Baustellen und Conrad war auf allen zu Hause. Sehr zum Missfallen von Johan Rikeland beschäftigte ihn die Zusammensetzung der Steine weit mehr als die von feinen Tuchen und Stoffen.

In der Schule war er einer der klügsten Schüler, Zusammenhänge, gleich welcher Art, begriff er sofort. Rechnen konnte er ohne Hilfsmittel und selbst Latein ging ihm fließend über die Zunge.

Rikeland sah in ihm einen Nachfolger für seine Geschäfte. Der Tuchhandel war seit Jahrzehnten seine Einnahmequelle und so musste es auch bleiben. Wenn der Junge die Schule beendet hatte, dann sollte er den Handel studieren, ein wenig die Welt kennen lernen, eine Familie gründen und das Geschäft übernehmen. Er, Johan selbst, wollte sich zur Ruhe setzen und sich freuen, dass die Rikelands weiterhin eine angesehene Familie Wismars waren. Sicher, als er den Jungen zu sich nahm, ging ein Raunen durch die Stadt, und seine Neider zeigten unverhohlen mit den Fingern auf ihn, den alten Narren, den der Tod seines einzigen Sohnes wirr gemacht hatte. Einen Streuner hätte er sich ans Bein gebunden hieß es, sein Geld würde der durchbringen, wenn er nicht acht gab. Nun, Rikeland gab acht, und Conrad dankte ihm seine Fürsorge mit Liebe, Fleiß und unbändiger Lebensfreude. Die Knechte und Mägde in seinem Haus hielt er ständig auf Trapp, wie es eben so war, wenn man einen fast zwölfjährigen Jungen im Hause hatte. Sein bester Freund war der Gottfried von Hegemanns, ein Blondschopf wie Conrad auch, etwas jünger als er selbst, aber den Kopf voller Grappen und Spliens. Wenn die Burschen mit Gottfrieds Hund unterwegs waren, dann kamen sie oft mit zerrissenen Hosen zurück, aber wozu war Johan Tuchhändler, wenn er hier nicht hin und wieder für Ersatz sorgen konnte.

Der Junge war seine Zukunft, er war lernwillig, hellwach und für viele Dinge zu begeistern.

Nur den Tuchhandel, für den schien er nicht viel übrig zu haben.

Während Johan noch über seinen Sonnenschein sinnierte, sortierte Conrad in seiner Kammer wieder einmal seine Backsteine. Von den einfachen Quadern hatte er fünf, die gab es aber auch in Massen, die waren nicht so wichtig für ihn. Er jagte den Schöneren nach, den Formsteinen. Heute hatte er einen Ziegel erbeuten können, der an einer Seite schwarz glasiert war. Der war sehr wertvoll, und sein Vater hatte Recht, wurde er erwischt, dann gab es Senge, und nicht zu knapp. Ganz nebenbei hatte er bei der Nikolaikirche die Form für eine Reliefplatte mit einem Greifen entdeckt. Reliefplatten waren ganz oben an den Kirchen angebracht, er würde keine Möglichkeit haben sie jemals wiederzusehen, wenn sie erst einmal vermauert waren. Also musste er möglichst mit dem ersten Hahnenschrei raus um an das Objekt seiner Begierde zu gelangen. Noch vor Sonnenaufgang sollte das sein, die Bauleute waren Frühaufsteher und würden ihn erwischen, wenn er nicht schnell genug war. Vor dem Nachtwächter hatte er keine Angst, der hatte ihn auf seinen nächtlichen Streifzügen noch nie entdeckt.

Am nächsten Morgen saß Johan Rikeland einem strahlenden Conrad gegenüber.

„Was ist mit Dir Junge?“, fragte er. „Hast Du gut geschlafen und wundersame Dinge geträumt? Du siehst so zufrieden aus. Oder ist heute etwa keine Schule?“

„Doch, doch Vater“, beeilte sich Conrad zu antworten, „wir haben heute eine Lateinprüfung, ich habe fleißig gelernt und gedenke sie gut abzuschließen.“

„Wenn das so ist, dann habe ich heute Abend vielleicht eine große Überraschung für Dich.“ Er schmunzelte in seinen Bart. „Du wirst erstaunt sein was Dich erwartet.“

„Verrate noch nicht zu viel Vater, ich möchte gespannt bleiben.“ Mit diesen Worten hüpfte er aus der Tür. Noch mehr des Guten konnte er nicht ertragen, sein Beutezug letzte Nacht war erfolgreich verlaufen und noch glücklicher konnte ein Junge von zwölf Jahren kaum sein.

Nach der Schule zog es ihn wieder durch die Stadt, von Baustelle zu Baustelle. Seine heimliche Liebe galt dabei einer Kirche, die es noch gar nicht gab. Ihre Fundamente wurden aber schon gelegt. Täglich brachten die Bauern aus der Umgebung große Feldsteine auf den Hügel. Eine neue Georgskirche sollte gebaut werden. Die Alte mit ihrer winzigen Kapelle an der Reifferbahn war viel zu klein und morsch geworden. Das Hospital gab es an dieser Stelle schon zehn Jahre nicht mehr. Conrad hatte es nie kennen gelernt. Nur der Kirchhof, den besuchte er regelmäßig mit seinem Vater. Bernhard lag dort, ein ermordeter Sohn seines Vaters und nicht wirklich sein Bruder. Conrad wusste, dass Johan Rikeland ihn nur an Sohnes statt aufgenommen hatte, aber er nannte ihn gerne Vater. Er liebte den gütigen alten Mann, sonst hatte er ja niemanden.

Die Sonne schien schon recht warm an diesem Maitag und Conrad hüpfte an der Baugrube entlang und beobachtete die Arbeiter, wie sie die schweren Steine abluden, Sand schaufelten oder auch mal einen Schluck Bier tranken. Er legte sich auf den Rücken in das Gras, zupfte einen Halm aus, steckte ihn sich zwischen die Zähne und dachte kurz an seinen Vater. Ja, er wusste auch, dass Johan ihn zu seinem Nachfolger im Tuchgeschäft machen wollte. Sicher, er konnte rechnen wie kein zweiter in der Schule. Aufs Handeln verstand er sich auch schon ganz gut. Bei den Marktweibern war er verrufen, weil er es immer schaffte die Preise zu drücken, bevor er Honig, Milch oder Früchte kaufte. Aber Stoffe, diese trockenen leblosen Bahnen, die interessierten ihn nicht. Steine, an denen hing sein Herz. Die hatten eine Seele, und keiner sah aus wie der andere. Wie waren sie gewachsen, woher kamen sie? Und weil der Mensch Steine herstellen konnte, fragte er sich woraus diese wohl bestanden. Er starrte in den Himmel und überlegte wie hoch die neue Kirche werden würde. Noch interessanter aber schien ihm die Frage, wie hoch man Kirchen überhaupt bauen konnte. Vater war weit herumgekommen und hatte ihm von anderen Städten berichtet, auch befreundete Händler erzählten hin und wieder was sie gesehen hatten. Manchmal sah er Zeichnungen und seine Phantasie überschlug sich fast.

Er musste lächeln. Als er noch kleiner war, hatte er beobachtet, wie die Arbeiter Lehm und Wasser zusammenrührten, in eine Form strichen und später den getrockneten Ziegel im Ofen brannten. Er stahl so einen Grünling, wie die ungebrannten Ziegel hießen und schleppte ihn nach Hause. Dort zog er das Brot aus dem Backofen und legte an dessen Stelle den Baustein hinein. Noch immer hörte er die Magd schreien, weil sie glaubte der Leibhaftige hätte ihr Brot in Stein verwandelt.

Eine Dunkle Wolke zog am Himmel vorüber und plötzlich fielen Regentropfen zur Erde. Es wurde Zeit nach Hause zu gehen, Vater hatte eine Überraschung versprochen, falls die Lateinprüfung gut ausfallen sollte. Sie war sogar ausgezeichnet gelaufen, Vater würde sich freuen und Conrad war sehr neugierig auf das, was zu Hause auf ihn wartete. Er sprang auf und trat den Heimweg an.

Der Regen nahm sehr schnell zu und Conrad sprang von Stein zu Stein. Plötzlich rutschte er aus und fiel etwa sechs Fuß tief in die Baugrube. Es knackte abscheulich und sein Bein baumelte unterhalb des Knies wie ein Lämmerschwanz. Schreiend bekam er noch mit, wie die Arbeiter zusammenliefen, dann schwanden ihm die Sinne.

Als er wieder zu sich kam, lag er auf einem Bett. Sein Bein steckte zwischen zwei Holzlatten und war mit schmalen Stoffstreifen umwickelt. Es tat höllisch weh, aber Blut konnte er nicht entdecken. Er sah sich um und wusste sogleich wo er sich befand. Hier wuchs er als kleiner Junge auf, bis Johan Rikeland ihn mit nach Hause nahm. Conrad lag im Hospital vom Heiligen Geist. Eine Menge Kranker schlief oder döste um ihn herum. Ein paar Schwestern huschten durch die Gänge.

Am Ende des Raumes sah er ein Mädchen, das einen Wassereimer trug und anscheinend die Durstigen versorgte. „He“, rief er, „Du, bring mir Wasser, ich will trinken!“ Das Mädchen beachtete ihn kein bisschen. „He“, rief er noch einmal, „ich habe Durst.“ Sie verschwand. Eine Schwester kam, um nach ihm zu sehen und ihm zu sagen, dass sein Vater unterwegs sei, um ihn nach Hause zu holen. „Ich will trinken“, sagte er, „aber das Mädchen hat mich nicht beachtet.“ „Nun ja“, antwortete die Schwester, „das ist Ghese, sie ist wohl so eigenwillig wie Du, aber ein liebes Ding. Sei freundlich zu ihr, dann bekommst Du auch Wasser. Sag ‚bitte’, das hört sie gern.“

Conrad sah Ghese an diesem Tag nicht wieder, aber ihr flammendrotes Haar, davon fand er eines auf den Laken. Er rollte es zusammen und steckte es ein. Es faszinierte ihn, eine solche Farbe hatte er noch nie vorher gesehen.

Sein Vater kam und holte ihn ab. Der Pferdekarren rumpelte durch die Lübsche Straße zur Faulen Grube. Es war nur ein kurzer Weg bis nach Hause und Conrad überlegte ob sein schweigsamer Vater wohl sehr wütend auf ihn sei.

„Wir haben Besuch“, sagte dieser nach einer Weile. „Mein alter Handelspartner Heesten aus Flandern ist bei uns. Du solltest eigentlich mit ihm fahren und das Geschäft einmal von einer anderen Seite aus kennen lernen. Das sollte die Überraschung sein.“ Er sah seinen Sohn streng an, dann musste er schmunzeln. „Ich sehe aber“, meinte er, „dass die Steine Dich nicht gehen lassen. Du kannst nicht ohne sie sein, was? Erzähle mal, wie hast Du Dir Deine Zukunft vorgestellt?“ Johan Rikeland knuffte seinen Sohn zärtlich in die Seite.

Dieser glaubte kaum was er vernahm. Vater lenkte ein und zwang ihn nicht in das Tuchgeschäft? Sofort fing Conrad an zu erzählen. Es sprudelte nur so aus ihm heraus und Rikeland hörte Begriffe, die er noch nie zuvor gehört hatte.

„Ich will lernen“, sagte Conrad, „ich muss wissen, wo die Steine wachsen, lass mich studieren und alles über Trauflinien, Wasserschläge und Blendbögen herausbekommen. Worin unterscheidet sich eine Basilika von einem Dom? Was sind Arkaden und Kragsteine? Ich habe schon soviel gehört Vater, aber es reicht mir nicht. Ich will Kirchen bauen.“

Das Geheimnis der Baumeisterin

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