Читать книгу Das Geheimnis der Baumeisterin - Petra Block - Страница 9
April 1254 – Ghese
ОглавлениеGhese war verzweifelt.
Sie zählte noch keine sechs Jahre, aber schon lasteten große Sorgen auf ihren kleinen Schultern. Seit sie denken konnte kränkelte ihre Mutter. Fast täglich ging es ihr schlechter, viele Tage lang kam sie gar nicht hoch von ihrem ärmlichen Strohlager in der Ecke des Schlafraumes, den sie sich mit anderen Kranken im Hospital teilen musste. Ghese wuchs hier auf, sie kannte nichts anderes als Armut, Bettelei und Krankheiten.
Sicher, es gab auch Bewohner in Sankt Jacob, denen es deutlich besser ging, die schönere Räume bewohnten, gutes Essen hatten und auch im Winter nicht zu frieren brauchten. Diese Leute aber, das hatte sie gelernt, zahlten ein Leben lang Geld an das Hospital und spendeten bei jeder Gelegenheit etwas für die Armen. Pfründner nannten sie sich und selbst reiche Bürger der Stadt wohnten hier und ließen sich im Alter versorgen.
Ghese und ihre Mutter aber gehörten zu denen, die von den Abgaben der Reichen leben mussten. Nie hatten sie etwas besessen, nichts gehörte ihnen, außer ihrer Freiheit. Sie waren keine Leibeigenen, das hatte die Mutter immer wieder betont.
Das Mädchen nahm einen Lappen und wischte über die fiebrige Stirn von Agnes.
Der Besuch auf dem Friedhof vor ein paar Jahren hatte ihr übel mitgespielt. Krank war sie von der Beerdigung zurückgekommen. Ihre fadenscheinigen Sachen hatten das Wasser nicht abhalten können und das stundenlange Warten in Wind und Regen warf sie anschließend auf das Lager. Eine Lungenentzündung überlebte sie wohl nur, weil ihr Körper noch jung war, aber sie wurde so geschwächt, dass sich bald eine Schwindsucht einstellte und Agnes dem Tod täglich ein wenig näher kam.
Ihre Tochter, so klein sie auch war, sorgte sich sehr und rannte jeden Tag nach Wismar hinein um etwas für die Mutter zu ergattern. Wenn es auf dem Markt nichts zu erbetteln gab, und niemand ihr etwas zur Erledigung übertrug, dann sammelte sie mal eine Handvoll trockenes Stroh für das Nachtlager oder stibitzte auch mal ein Vogelei aus einem Nest. Oft aber fragte sie bei den Ackerbürgern in der Baustraße ob sie ihnen helfen könne Rüben oder Getreideähren aufzulesen oder eine störrische Ziege zu bewachen.
Heute saß sie wieder einmal bei den Ziegen vor der Stadt und überlegte, ob sie ein wenig Sauerampfer für den Gerstenbrei mit nach Hause nehmen sollte, als ihr im Wassergraben eine Ente auffiel. Ganz anders als die anderen Tiere schwamm sie immerzu im Kreis und schnatterte unaufhörlich. Als das Mädchen an den Graben herantrat flatterten die Enten sofort davon. Nur diese eine drehte sich um sich selbst und verlor den Anschluss an ihre Gefährten. Das war ja merkwürdig. Was war nur mit ihr? Ghese suchte sich einen langen Stecken und trippelte vorsichtig bis an den Rand. Sie wollte auf keinen Fall hineinstürzen, es war noch längst nicht warm genug um ins Wasser zu fallen und sich nicht zu erkälten. Wenn auch sie krank würde, wer sollte sich dann um die Mutter kümmern. Die Neugier ließ sie aber nicht los und der Stecken reichte gerade so weit bis zur Ente, dass sie diese ein wenig anstupsen konnte. Panisch begann das Tier mit den Flügeln zu schlagen und kam dem Ufer auf der anderen Seite dadurch immer näher. Als sie es erreicht hatte, schleppte sich die Ente mühsam herauf und Ghese sah, dass sie ein gebrochenes Bein hatte.
Welch ein Glückstag! Wenn sie dieses Tier erwischte, dann konnte Mutter eine kräftige Suppe bekommen. Schon lange redeten die Schwestern im Hospital davon, dass besseres Essen notwendig sei, um die Mutter wieder auf die Beine zu bringen. Der Tod stünde ihr schon im Gesicht geschrieben, hatten sie gesagt und von Hoffnungslosigkeit gesprochen. Ghese glaubte in ihrer kindlichen Einfalt tatsächlich, dass eine gute Mahlzeit die Krankheit ihrer Mutter besiegen und aller Not endlich ein Ende machen könnte.
Verbissen dachte sie nach. Die Ente war jetzt dummerweise auf der anderen Seite des Grabens. Den konnte sie nicht überwinden, also blieb ihr nichts anderes übrig, als zur nächsten Brücke zu gehen und so rasch sie konnte zurückzulaufen, das Tier zu fangen und ihm den Hals umzudrehen.
Ghese fing an zu rennen. Sie nahm ihre Holzpantoffeln in die Hand um schneller vorwärts zu kommen und sauste am Ufer entlang. Das blieb nicht unbeobachtet. Zwei Jungen in etwa ihrem Alter spielten im Gebüsch und sahen sie vorüberflitzen. Sofort rannten sie ihr hinterher, denn es musste schon einen wichtigen Grund geben, warum dieses Mädchen so in Eile war, und den wollten sie erfahren.
Nach ein paar hundert Metern sahen sie, was die Kleine so antrieb. Die Ente saß am Ufer und schnatterte immer noch ganz aufgeregt. Ghese stoppte ihren Lauf, um das Tier nicht zu verjagen, und schlich Schritt für Schritt näher. Vielleicht konnte sie sich auf sie werfen und am Hals festhalten, dass die Jungen ihr gefolgt waren, hatte sie gar nicht mitbekommen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, kaum wagte sie zu atmen. Noch einen kleinen Schritt, die Ente sah sie mit schief gelegtem Kopf misstrauisch an, dann könnte Ghese zugreifen. Dazu kam es nicht. Übereifrig und mit großem Trara stürzten sich die Bengels auf die Beute, die doch gar nicht für sie bestimmt war. Fassungslos sah das Kind zu, wie die Ente sich im letzten Moment in den Graben retten konnte. Ein Schrei entwich ihrer Mädchenbrust und wutentbrannt hieb sie einem der Jungen die Holzschuhe an den Kopf. So klein sie war, so erbarmungslos prügelte sie auf ihn ein, sodass der andere eingreifen musste. Nur mit Mühe konnte er Ghese von seinem Freund trennen.
Tränen liefen ihr über das Gesicht. Das schöne Essen für Mutter, es schien den Bach hinunter zu gehen. Allerdings hatte sie vergessen, dass die Ente gar nicht schwimmen konnte. Als die sich wieder im Kreis zu drehen begann, überlegte Ghese nicht lange und stieg in das kalte Nass. Die Jungen schauten verwundert zu, das würden sie niemals tun. Wegen eines blöden Vogels ging man zu dieser Jahreszeit doch nicht ins Wasser. Sie neideten dem Mädchen aber das Tier und wollten es ihm nicht gönnen. Hurtig begannen sie Steine aufzusammeln und nach ihr zu werfen. Zuerst trafen sie nicht und alle fielen mit leisem Ploppen ins Wasser. Je wütender sie aber wurden, desto besser zielten sie und bald trafen sie Gheses Kleider, ihre Arme und den Rücken. Die aber drehte sich nicht um, sie sagte kein Wort, nur die Ente, die hatte sie fest im Auge. Nach ein paar Schritten griff sie nach dem Hals des Tieres. Da traf sie ein großer Brocken am Kopf. Sofort schoss Blut aus einer klaffenden Wunde. Ghese strauchelte kurz, hatte aber die Ente schon gefangen. Vorsichtig watete sie an das andere Ufer, bis hierher trafen die Wurfgeschosse nicht. Erhobenen Hauptes und mit wildem Blick starrte sie die Bengel auf der anderen Seite an. Ihr Zorn war riesig, ihre Genugtuung groß. Sie war in dieser Schlacht der Gewinner, und wie es dem Sieger gebührte, gehörte ihr die letzte große Geste dieses Kampfes, sie drehte der Ente den Hals um und den Jungen eine Nase, dann lief sie davon.
Ein bisschen wackelig auf den Beinen, aber überglücklich, erreichte sie Sankt Jacob und lief strahlend zu ihrer Mutter. „Jetzt wird alles gut“, rief sie und hielt die Ente hoch über ihrem Kopf. „Heute wirst Du eine gute Suppe essen, und wenn Du magst auch noch einen Braten.“ Die Mutter lächelte ihr schwach zu und bedeutete ihr, das Tier gleich in die Küche zu bringen. Auf dem Weg dorthin strauchelte Ghese und musste sich an den Wänden abstützen. Das Blut rann immer noch aus ihrem Kopf, und nun merkte sie auch, das der ihr höllisch weh tat.
Sie setzte sich ein wenig auf den Boden. Eine der Schwestern entdeckte sie bald und war sehr erschrocken. „Ghese, was ist geschehen und was hast Du für einen schmutzigen Vogel in der Hand? Das Tier ist ja tot. Pfui, wir wollen es gleich auf den Misthaufen werfen. Wie konntest Du es nur hierher schleppen?“
Ghese schrie. „Nein, nein, ich habe die Ente gefangen, Mutter soll sie haben. In die Küche muss die Ente, damit wir eine Suppe daraus kochen.“
„Ach was, gefangen und Suppe kochen? Kind Du bist blutüberströmt und redest wirres Zeug. Bist Du in einen Krieg geraten? Du bist viel zu wild für Dein Alter, und Mädchen prügeln sich nicht, denn danach sieht es doch wieder einmal aus. Habt ihr euch um dieses Federvieh geschlagen? Was Du aber auch alles aufsammelst. Ich denke noch an die steif gefrorene Katze im letzten Winter. Nein, dieses Tier kann man mit Sicherheit nicht essen. Du wirfst es gleich fort und nachher bekommst Du einen Teller Grütze, der bekommt Dir viel besser.“
Sie sprach es und schleppte Ghese zuerst zum Misthaufen und dann zum Brunnen um ihr die Wunde am Kopf auszuwaschen.
Ghese weinte nur noch ein wenig, sie konnte kaum noch protestieren und die Beine knickten ihr immer wieder ein. Sie hatte so sehr gekämpft und nun lag ihre schwer errungene Beute im Dreck. „Suppe für Mutter“, flüsterte sie, dann sackte sie zusammen.
Als sie nach drei Tagen aus der Ohnmacht erwachte war alles anders.
Die Wunde am Kopf begann zu heilen, die Schmerzen ließen nach und sie erhob sich von ihrem Lager. Schnell lief sie zu ihrer Mutter. Diese schlief und Ghese strich ihr vorsichtig über das Haar. „Liebste Mutter“, sagte sie, „die Schwester hat mir verboten Suppe zu machen, ich musste die Ente fortwerfen. Sei nicht traurig, ich werde Essen finden, und gewiss wirst Du dann gesund.“ Die Mutter drehte sich um und schlug die Augen auf - und da war es eine fremde Frau.
Mutter war tot.
Gestorben in diesen drei Tagen, in denen selbst Ghese dem Leben fast entwichen war.
Sie sagte nichts, sie weinte nicht, sie stand nur still vor dem ärmlichen Grab ihrer Mutter und wusste nicht was nun zu tun sei.
Nur eines wusste sie sehr genau.
Nie wieder würde sie sich in ihrem Leben etwas wegnehmen lassen, und nie wieder würde sie sich von anderen sagen lassen was sie zu tun hatte.