Читать книгу DER BESONDERE BÄCKER - Phillip Schnieders - Страница 14
ОглавлениеVON DER EIGENEN BÄCKEREI BEHERRSCHT
„Wieso mache ich das hier alles überhaupt?“ höre ich mein Spiegelbild sagen. Es sieht mich irgendwie verzweifelt und gleichzeitig so komisch blöd an, sodass ich schon fast lachen muss. Habe ich das jetzt gerade wirklich laut gesagt? Werde ich jetzt auch noch irre?
Obwohl ich weiß, dass ich alleine bin, schaue ich reflexartig noch einmal in den hinteren Bereich der Toilette. Ich muss mich vergewissern, dass mich wirklich niemand gehört hat. Es wäre echt peinlich, wenn einer meiner Angestellten mich in dieser Situation sieht oder sogar gehört hätte!
Beruhigt drücke ich den Ellenbogen gegen den langen Hebel des Wasserhahns, um mir die klebrigen Teigreste von den Händen zu waschen. Schon komisch: Es war das erste Mal, dass ich diese Frage laut ausgesprochen habe. Sie geisterte in letzter Zeit immer häufiger durch meinen Kopf. Vor drei Tagen habe ich sogar kurz überlegt, was wohl gewesen wäre, wenn ich einen anderen Beruf gelernt hätte. Oder was wäre, wenn ich einfach eines Tages meine Schürze nicht mehr anziehen würde? Und dann verwerfe ich die Gedanken meist wieder als völlig lächerlich, weil ich mir einfach sicher bin, aus tiefstem Herzen Bäcker zu sein.
Es ist ja nicht so, als wäre ich mit meinem Beruf unglücklich. Ich liebe es, in der Backstube zu stehen und mit ein paar Zutaten etwas zu erschaffen, was Anderen schmeckt! Es gibt genug Leute, denen die harte Arbeit nicht liegt. - Mir egal, ich liebe mein Handwerk.
Und gleichzeitig nervt es mich, wie sich meine Bäckerei in den letzten Jahren entwickelt hat. Mit einigen paar Blatt Papier aus dem Wandspender trockne ich meine Hände ab. Ich stütze beide Arme auf das rechteckige Waschbecken, um noch einen Augenblick in mein Spiegelbild zu schauen. „So hat Opa August sich das sicher nicht vorgestellt.“ denke ich halblaut und bin noch einmal froh, dass mich wirklich niemand dabei beobachtet, wie ich mit mir selbst spreche. Ich habe keine Lust, wieder rauszugehen.
Egal wohin ich schaue: Überall im Betrieb brennt es immer wieder und alle Feuer muss ich irgendwie gleichzeitig löschen. Ich bin verdammt noch mal kein Feuerwehrmann - ich bin Bäcker! Vielleicht ist das der Grund, weshalb meine Löschversuche immer wieder eher mit einer Mehlstaubexplosion zu vergleichen sind!
„Apropos Feuer“ denke ich und beschließe, mir erst einmal eine Zigarette zu rauchen. Bevor ich gleich nach vorne in den Laden gehe, muss ich erst einmal kurz in Ruhe meine Gedanken sortieren. Leicht zögernd ziehe ich die Tür zu mir auf und gehe zu meinem Spind. Ich nehme mir gerade das Feuerzeug und eine Zigarette aus der Schachtel, als mein Blick auf das überdimensionale gerahmte Bild an der gegenüberliegenden Wand fällt. Meine Eltern hatten es damals zum 50-jährigen Firmenjubiläum mit allen Angestellten gemacht. Wie sehr sich doch unsere kleine Welt seit 2003 verändert hatte …
Damals wollten die Leute jedenfalls noch Bäcker werden! Discounter und Supermärkte hatten uns nicht den größten Teil des Geschäfts genommen und die ganzen Backshops gab es noch nicht. Außerdem war ich vor 16 Jahren noch Geselle und um einiges dünner!
Ich gehe durch die kleine Seitentür nach draußen und bin erleichtert, dass mich hier niemand erwartet. Ich habe jetzt echt keine Lust, mich zu unterhalten. Noch schlimmer wäre sogar, wenn ich mir jetzt eine Antwort überlegen müsste dazu, was denn los sei und wieso ich so niedergeschlagen wirke. Ich drücke auf mein Feuerzeug und halte die kleine Flamme unter das Ende meiner Zigarette. „Kein Wunder, dass jeden Tag irgendwo in Deutschland eine Bäckerei schließt.“ denke ich, während ich einen tiefen Zug nehme. Unser Handwerk ist mitten im größten Umbruch, den es jemals in der Branche gegeben hat.
„Herr Wickel?“ höre ich eine laute Stimme von drinnen, „Herr Wickel!“ - meine Gedanken enden abrupt.
„Ich bin hier!“ rufe ich, nachdem ich die Tür einen Spalt geöffnet habe.
Es ist Markus Röhrmann, einer unserer Meister. „Ich habe gerade mit Timo geschrieben. Er hat nochmal verlängert. Ist bis Ende nächster Woche krank geschrieben.“
Die Nachricht trifft mich hart. „Das ist bitter.“ seufze ich und verziehe das Gesicht noch mehr. Ich frage ihn, wieso Timo Gehring sich nicht direkt bei mir gemeldet hat. Das wisse er nicht, entgegnet er und macht zwei Schritte zurück, um sich langsam der unangenehmen Situation wieder zu entziehen.
„Moment“, sage ich mit gespielter Lockerheit, „ich muss Sie wegen der schlechten Botschaft jetzt köpfen!“
„Das können wir uns aber echt nicht leisten“ grinst Markus Röhrmann und geht noch ein paar Schritte rückwärts, „wir brauchen nun mal echt jeden Mann!“
Das Schlimme daran: Er hat Recht. Seit Monaten suche ich Verstärkung für die Backstube und finde niemanden! Es hat ja auch niemand mehr Lust, so früh aufzustehen und dann noch die harte Arbeit in der Backstube zu machen! Und in den Filialen sieht es auch nicht besser aus: Kaum noch Verkäuferinnen, die morgens um sechs Uhr und auch am Wochenende arbeiten! Ich bin echt verzweifelt.
Was mich außerdem nervt ist die Tatsache, dass sich meine Angestellten noch nicht mal bei MIR melden, wenn sie krank sind. Es wäre so einfach gewesen - mal schnell den Chef anrufen und in einem kurzen Gespräch abmelden. Jeder kann ja mal krank sein, aber einfach per WhatsApp in die Gruppe „Ey Leute, ich bin krank …“. Was ist das denn für ein beschissenes Verhalten? Und zwei Wochen wegen etwas Erkältung oder Grippe? Das ist doch nicht normal, oder?
"Setz dich doch mal durch!“
Ich will gerade einen tiefen Zug meiner Zigarette nehmen, als ich noch rechtzeitig bemerke, dass ich nur noch den Filter zwischen den Fingern halte. „So eine verdammte Grütze“ überkommt es mich leise. Ich hole mir noch eine Zigarette aus dem Spind. Und wieder fällt mein Blick fast wie von selbst auf dieses verfluchte Jubiläumsbild mit den ganzen grinsenden Gesichtern. Damals waren es noch rund 20 bis 30 Leute. Inzwischen wären knapp doppelt so viele Gesichter auf dem Bild, wenn man auch die Aushilfen mitrechnet!
Doch das größte Grinsen trägt mein Vater. Inmitten der Angestellten sitzt er mit Mama und grinst mich bis über beide Ohren irgendwie boshaft an.
„Mike, wie oft habe ich dir gesagt, dass du zu lasch mit den Leuten bist? So wirst du nie respektiert! Setz dich doch mal durch!“
Ich verkneife mir, dem Foto eine Antwort zu geben, nehme meine Zigarette und gehe wieder nach draußen. Nach ein paar Zügen schließe ich die Augen und lehne mich an die Wand. Die Morgensonne tut gut.
Eigentlich habe ich im Büro noch so viel zu tun: Der Steuerberater fordert irgendwelche Belege, die Angebote für die Sommerreifen müssen entschieden werden und alle möglichen Papiere warten darauf, bearbeitet und abgeheftet zu werden.
„Das ist echt die Krönung eines beschissenen Tages“ denke ich und beschließe, diese wenig würdevollen Aufgaben einfach zu ignorieren. Mir fehlt echt die Kraft und ich werde nach dem Mittagsschlaf nicht wiederkommen. Kurz entschlossen ziehe ich mich um und mache noch schnell die Bestellung.
Danach verabschiede ich mich mit einem an alle in der Backstube Verbliebenen „Tschüss, bis morgen!“ und betrete unseren Verkauf durch die große Pendeltür. Das Geschäft ist voll und ich setze angesichts der vielen Kunden und meiner drei Mitarbeiterinnen ein geübtes Lächeln auf.
Mit froh klingender Stimme gebe ich ein leicht gesungenes „Tschö-höss!“ von mir und gehe ohne eine Antwort abzuwarten durch die sich automatisch öffnende Schiebetür - als würde sie meine Flucht unterstützen. Endlich Ruhe.
Auf der Fahrt ist mein Körper wie im Autopilot. Ich lenke, schalte, bremse und gebe wieder Gas - alles ohne nachzudenken. Zuhause angekommen überlege ich ernsthaft, ob ich durch das Industriegebiet oder über die Kanalstraße gefahren bin.
Beim Schuhe-Ausziehen schaue ich durch den kleinen Glasstreifen neben der Küchentür. Als Steffi mich bemerkt, lächelt sie.
„Guten Morgen, Schatz! Du bist früh!“
„Ja. Ich kann auch nicht mehr“ bekunde ich wehleidig. „Ich fahre heute auch nicht mehr ins Büro. Nachdem wir am Tisch so weit fertig waren, rief Tichelkamp an und wollte mit mir über die Bilanz sprechen. Wir haben nämlich knapp 5 % Rohertrag verloren.“
„Wow, so viel?“
„Ja, so in diese Richtung habe ich schon gerechnet: Die Verkaufsstelle beim OBI geschlossen und überall etwas weniger Kunden … Dazu sind die Personalkosten durch unsere ,Wickel-Rente‘ leicht gestiegen. Das hat die Preiserhöhung nicht mehr aufgefangen. Ach, und die Aktion mit den Berlinern an Silvester war der Knaller!“
Steffi macht einen zerknirschten Gesichtsausdruck und deutet mit einem leichten Nicken in Richtung Schlafzimmer an, dass ich mich erst einmal hinlegen solle. Wir sind schon lange genug verheiratet, als dass sie sich auf meine Versuche, die Situation schön zu reden, einlassen würde. Sie weiß, dass die Zahlen nicht toll sind.
„Ja, ich mach gleich ein Nickerchen. Aber nachdem ich mit dem Tichelkamp fertig war, kam Markus zu mir.“
„Und was wollte der?“
„Hat mir erzählt, dass der Gehring noch bis Ende nächster Woche krankgeschrieben ist.“
„Och nee.“, fällt sie mir fast ins Wort, „Der übertreibt es echt wieder und du kommst aus der Backstube nicht mehr raus. Denk bitte daran, dir für Sonntag frei zu nehmen. Wir sind morgen Abend bei Tuchels eingeladen! … Leg dich jetzt erst mal hin.“
Ich lächle ihr zu und lasse die Jalousien im Schlafzimmer runter.
„Herr Doktor, wenn ich liege, dann geht es mir schon besser.“ denke ich und versuche, die vielen kreisenden Gedanken in meinem Kopf mit einer Folge ‚The Walking Dead‘ zu betäuben. Obwohl ich total erschöpft bin, dauert es eine Weile, bis ich auch innerlich zur Ruhe komme. „Ich bin keiner der Überlebenden“ denke ich, während mir langsam die Augen zufallen. „Ich bin einer der stöhnenden Untoten, die Tag für Tag ohne Ziel durch die Gegend irren.“ Eigentlich ein Wunder, dass ich bei so einem spannenden Gemetzel einschlafen kann.