Читать книгу DER BESONDERE BÄCKER - Phillip Schnieders - Страница 16

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NEUE BEDINGUNGEN AM MARKT

Es dauert ungewöhnlich lange, bis ich wieder zu Verstand komme. Der Schlaf hat echt gut getan. Ich schalte mein iPhone aus dem Flugmodus und scrolle etwas durch Facebook. Ein Kollege hat sein Profilbild geändert. Obwohl ich es nicht wirklich gelungen finde, drücke ich eher aus Mitleid auf den „Gefällt mir“-Button. Ich müsste auch mal wieder etwas auf der Bäckerei-Wickel-Seite posten.

Ich schleife meinen ausgeruhten, aber immer noch schlaffen Körper in die Küche. Als ich die Taste auf unserer Kaffeemaschine drücke, umarmt Steffi mich von hinten und lehnt ihren Kopf an meine Schulter. Mir ist offenbar entgangen, dass sie schon in der Küche war.

„Hab vorhin mit Andrea telefoniert.“

„Und, wie geht es ihr?“ frage ich, um ihrer Erwartung auf eine Unterhaltung zu entsprechen.

„Nicht so gut.

Der Hilbert macht zu! Hat er ihr vorhin gesagt.“

Steffi hatte Andrea vor vielen Jahren bei ihrer Lehre zur Bäckereifachverkäuferin kennengelernt. Wir hatten damals beide beim Hilbert gelernt. Steffi und Andrea vorne im Verkauf und ich hinten in der Backstube. Es war das einzige Mal, dass ich in einem anderen Betrieb gearbeitet hatte. Obwohl mich mein Vater damals nicht einmal gefragt hat und seine Entscheidung nur wenig komfortabel für mich war, hat sie sich allerdings gelohnt: Ich konnte fremde Luft schnuppern und außerdem habe ich Steffi dort kennengelernt … Obwohl ich es ursprünglich auf Andrea, die Tochter meines alten Lehrherren, abgesehen hatte. Umso schockierender war die Nachricht für mich: Der Hilbert macht zu!

„Ich fasse es nicht. Der Hilbert? Echt?“ frage ich entgeistert, als würde ich meiner eigenen Frau nicht glauben.

„Ja, bis Ende des Jahres. Er ist wohl krank. Andrea ist ziemlich fertig. Die Mitarbeiter wissen es aber noch nicht.“

Irgendetwas verhindert, dass ich den Kaffee in meinem Mund hinunterschlucken kann. Ich muss mich wirklich erst darauf konzentrieren, dann erst setzt der Schluckreflex wieder ein. In mir zieht sich alles zusammen. Die Nachricht ist ein Schock für mich. Mein Ausbildungsbetrieb wird schließen und Paul ist krank!

„Hat Andrea gesagt, was er hat?“

Steffi sagte mir, dass Paul offenbar Krebs habe und es auch nicht so gut um ihn stünde. Er müsse jetzt eine Therapie machen und sich um sich selbst kümmern.

„Das ist echt heftig. Ich habe mir ja heute Nachmittag frei genommen. Ich glaube, ich fahre gleich mal nach Birkdorf und spreche mit ihm.“

„Meinst du wirklich, dass das jetzt eine gute Idee ist?“

„Steffi, ich habe beim Hilbert gelernt. Das ist mein direkter Kollege. Natürlich fahre ich da hin! … Außerdem weiß ich ja noch gar nicht, ob ich ihm irgendwie helfen kann!“

Von Steinmark nach Birkdorf sind es knapp acht Kilometer. Als ich ins Auto einsteige, schalte ich direkt das Radio wieder aus. Ich habe jetzt wirklich keine Lust auf dieses fröhlich-motivierende Gedudel und „Eure Superhits“-Gelaber. Als hätte ich nicht schon genug eigene Probleme, werden sie komplett vom Hilbert überschattet. Unfassbar: Jeden Tag macht irgendwo in Deutschland ein Bäcker zu … aber der Hilbert?!

Beim Betreten des Geschäfts fällt mir auf, dass ich wirklich schon lange nicht mehr hier gewesen bin. Zumindest hatte ich bei meinen früheren Besuchen den Hintereingang zur Backstube genommen. Etwas überrascht stelle ich fest, dass sich hier in den letzten Jahren nicht viel verändert hat. Und es war früher schon nicht modern.

Ich gehe zur linken Seite und stelle mich direkt neben die Theke.

„Ist Paul da?“ frage ich die Verkäuferin, als unsere Blicke sich treffen.

„Ach, Hallo Herr Wickel. Ich habe Sie erst gar nicht erkannt! - Ja, Herr Hilbert ist noch hinten. Gehen Sie ruhig durch.“ lächelt sie mir freundlich zu.

„Hier hat sich wirklich nichts verändert“ gebe ich leise von mir, als ich das Brett zur Wand hochklappe und hinter mir wieder behutsam ablege. Ich muss nicht suchen: Auf halbem Weg kommt mir der Hilbert mit einem Blech aufgetauter Donuts entgegen, die er gerade in den Laden bringen will.

„Mike!“ höre ich ihn rufen, kurz nachdem ich seine Umrisse im kleinen Flur gesehen habe.

„Paul!“ antworte ich in gleicher Tonlage, „Was macht die Kunst?“

Mit freundlichem Gesicht signalisiert er mir, noch einen kleinen Schritt beiseite zu gehen, damit er mit dem Tablett besser an mir vorbeikommt.

„Der Hilbert bringt das nur noch schnell nach vorne, dann gibt‘s einen Kaffee.“

„Gute Idee“ stimme ich ihm zu und trete in den Türrahmen hinter mir.

„Ähhm … schwarz?“

„Ich weiß nicht!,“ tue ich nachdenklich, „Welche Farben hast du denn sonst noch?“

„Witzbold! Ist schon klar.“ prustet er lautstark. „Nimm’ den Hilbert ruhig auf den Arm! Aber es fällt ihm schon wieder ein! Das war … ähhm … etwas Milch und viel Zucker, stimmt’s?“

„Ja, stimmt!“ bestätige ich kurz mit amüsiertem Unterton.

Nach all den Jahren ist es für mich immer noch befremdlich, dass er über sich selbst in der dritten Person spricht. Vermutlich habe ich das Wort „ich“ noch nie aus seinem Mund gehört. Das macht ihn so besonders: Er heißt bei allen nur „Der Hilbert“, weil er sich selbst so nennt.

„Das funktioniert einfach nicht!“

„Ja was soll Hilbert denn machen?“ fragt er mich, ohne eine Antwort hören zu wollen, als wir uns mit Kaffeebechern bewaffnet gegenüberstehen. „Ohne Nachfolger funktioniert keine Bäckerei! Und der Hilbert macht das nicht mehr lange! Stefan will sich das mit Mitte 50 nicht mehr antun und Jonas kann es nicht.“ Ich muss mit dieser skurrilen Situation erst einmal klarkommen. Da stehe ich mit meinem langjährigen Kollegen und muss mir seine Ratlosigkeit anhören.

„Und was ist mit Andrea?“

„Ach, Andrea.“ winkt er ab, „Die kennt die Zahlen und will sich sicher keine Bäckerei ans Bein binden! Auch, wenn es die von ihrem Vater ist. Das funktioniert einfach nicht!“

„Der Hilbert hat in den letzten Jahren einfach gepennt.“

„Was meinst du damit? … Nur, weil der Laden nicht so modern ist?“

„Es ist ja nicht nur das. Der Hilbert ist ja gar nicht mehr gefragt! Mike, die Wahrheit ist: Brote und Brötchen werden immer mehr beim Discounter gekauft und nicht mehr beim Bäcker!“

Versteinert schaue ich ihn an und muss die Worte erst einmal verdauen.

„Und der Hilbert hat keinen Platz, um auch mal ein Frühstück oder ein Stück Kuchen zu servieren … Der Stehtisch vorne in der Ecke reicht da nicht!“

Keine Ahnung, womit ich gerechnet habe. Aber angesichts einer so harten und klaren Abrechnung bin ich sprachlos. Hat er denn Recht mit seiner steilen These? Ohne Zweifel sind wir gerade in der härtesten Veränderung unserer Geschichte und es ist für keinen Bäcker wirklich leicht. Aber die Erkenntnisse vom Hilbert scheinen mir etwas übertrieben selbstkritisch.

„Ich weiß nicht.“, gebe ich unschlüssig von mir. „Klingt für mich alles eine Spur zu hart und übertrieben. Wie sieht’s denn in deiner Filiale aus? - Die läuft doch, oder?“

„Ach, erst recht da nicht!“ wird er energisch. „Von den Zahlen her ist die noch schlechter. Und außerdem ist da ständig jemand krank. Ich kann die ganzen Beschwerden auch nicht mehr hören, dass sie schon wieder für die Kollegin einspringen müssen. - Aber dir geht es da vermutlich auch nicht besser, oder?“

Ich überlege. Natürlich kenne ich das Problem, aber deshalb käme ich nicht auf die Idee, das Geschäft zu schließen.

„Naja, ich kriege ja davon nur die Hälfte mit, weil Inge das bei uns macht. Und so weit ich weiß, hat die alles ganz gut im Griff. Glaube ich zumindest.“

Der Hilbert schaut mich skeptisch an, als müsste er meine Worte noch für sich sortieren und überlegen, welche Bedeutung sie für ihn haben. Eine unangenehme Stille entsteht, als er mich weiter ansieht und nichts sagt.

„Und Andrea hat Steffi erzählt, dass es dir gesundheitlich nicht so gut geht?“ durchbreche ich das Schweigen.

„Ja, ja, ja“ reagiert er, als ob ich ihn wieder in die Realität geholt hätte, „der Hilbert hat Krebs - Volkskrankheit Nr. 1! … Herzlichen Glückwunsch, er hat das goldene Los gezogen. Es geht zu Ende.“

Jetzt schaue ich ihn betroffen an und bin verunsichert, was ich sagen soll. Was ist eine angemessene Reaktion, wenn man so etwas hört? Ein kumpelhaftes „Kann jeden treffen.“ oder „Das Leben endet meistens tödlich.“? Ich mag auch nicht „Kann man da denn nichts machen?“ oder „Ist es denn heilbar?“ fragen. Es klänge so lächerlich. Er scheint meine Gedanken an meinem Gesichtsausdruck abzulesen und erklärt:

„Nein, er ist zu weit fortgeschritten. Wenn er erst mal gestreut hat, sieht es einfach nicht gut aus. Ich muss mich in den nächsten Wochen aus der Backstube zurückziehen und eine Therapie machen. Das kriegen die beiden hier auch irgendwie ohne mich hin … Hoffe ich zumindest.“

Ich nicke ihm anerkennend zu.

„Und wie geht es dann weiter?“

„Nun, die Filiale in der Michaelstraße kann ich zu Ende September kündigen und hier mache ich Ende des Jahres zu. Bis dahin ist ja noch etwas Zeit, damit ich in Ruhe alles abwickeln kann. Außerdem läuft dann der Leasingvertrag für die Maschinen aus.“

Ich fasse kurzerhand meine Gedanken in „Was für eine Scheiße!“ zusammen. „Du bist gerade erst 60, oder?“

„61“ korrigiert er mich prompt.

„OK, 61. Trotzdem hast du noch ein paar Jahre!“

Sein vorher noch künstlich lächelndes Gesicht weicht einer ernsthaften Miene.

„So etwas sucht sich auch keiner freiwillig aus! Mal schauen, was so passiert, aber so kann es nicht weitergehen! Vielleicht zahlt die Krankenkasse oder das Ladenlokal hier kann vermietet werden. Und ein paar Rücklagen für den Ernstfall sind auch vorhanden … Vielleicht lebe ich auch nicht mehr lange!“

Als ich seine Tränen in den Augen bemerke, verkneife ich mir den Kommentar, dass ich zum ersten Mal, seitdem ich ihn kenne, gehört habe, dass er mit „ICH“ über sich selbst spricht.

„Aaach Paul, mal nicht den Teufel an die Wand!“ beschwichtige ich, „kümmere dich erst mal um dich selbst und dann wirst du bestimmt eine gute Lösung finden. Es ist ja wirklich noch eine Menge Zeit.“

„Ja, da hast du recht“ stimmt er mir zu und unterdrückt, dass sich seine Augen noch weiter mit Tränen füllen. „Aber erzähl mal von dir! Wie läuft‘s bei euch? Kommst du inzwischen besser mit deinem alten Herrn zurecht, oder fummelt er immer noch hinter deinem Rücken rum?“

Autsch, das war mein wunder Punkt, auf den ich aber jetzt nicht eingehen will. Ich lenke das Gespräch lieber in Richtung des Betriebs und reagiere irgendwie diplomatisch mit „Du, gut geht es uns allen nicht, oder?“

„Zumindest, wer kein Alleinstellungsmerkmal hat! So wie der Hilbert … an uns ist ja auch nichts Besonderes.“

Da war er wieder, mein alter Lehrmeister. Reagiert hart und selbstkritisch auf meine schwammige Gegenfrage.

„Ja, aber ich dachte, deine Brote und Brötchen kommen gut an …“ hinterfrage ich skeptisch.

„Ja und nein. Sind ja auch nur Backmischungen wie überall anders auch!“

Ich nicke.

„Und das macht es nicht besser oder schlechter als im Discounter! Auch, wenn die Kunden es vielleicht denken, weil sie frische Brötchen vom Bäcker kaufen!“

„Wer nutzt die Mischungen nicht?“ reflektiere ich, „Es ist nun mal einfacher und sie schmecken den Kunden auch. Außerdem ist die Ware haltbarer und sieht gut aus!“

Der Hilbert zögert und legt einen Finger an sein Kinn. „Ja, aber wenn der Hilbert jetzt noch etwas ändern könnte, dann wäre es DAS.“

Ich frage ihn, wie er das meint, und er antwortet mit einer Gegenfrage.

„Wieso kaufen deine Kunden bei euch?“

„Mike, wieso kaufen deine Kunden bei euch?“

Ich schaue ihn fragend an.

„Was glaubst du, ist der Grund für deine Kunden, immer wieder in euren Laden zu kommen und eure Produkte zu kaufen?“

Ehrlich gesagt, habe ich noch nie über diese Frage nachgedacht. „Ich bin halt Bäcker und die Kunden kaufen meine Sachen, weil ich sie backe!“

Der Hilbert lacht. „Ja, das ist schon klar, aber wieso tun sie das, wenn sie auch woanders gute Brötchen und Brote kaufen können?“

Je mehr er lacht, desto ernster schaue ich ihn an. Was will er jetzt von mir?

„Der Hilbert hat in den vergangenen Tagen und Wochen echt viel nachgedacht. Hat überlegt, wie es damals mit 26 war, die eigene Backstube aufzumachen und wie es heute aussieht. Dabei hat er sich gefragt, was sich in den 45 Jahren so alles verändert hat. Und das war so einiges! Sämtliche Erleichterungen in der Backstube und neue Sorten … Aber auch die Anforderungen und der Wettbewerb.“

„Klar“ stimme ich ihm zu.

„Damals gab es noch keine Backshops, keine großen Ketten und erst recht noch keine Discounter oder Supermärkte, die damit werben, ,mehrmals täglich frisch‘ zu backen!“

„Auch klar.“ gebe ich gespannt von mir, um zu erfahren, worauf er hinaus will.

„Wieso änderst du es nicht?“

„Jetzt fangen die sogar noch an, eine Brot-Theke aufzubauen und aufzubacken! Wenn wir nichts Besonderes bieten und unsere Produkte nicht wesentlich besser sind als die bei Aldi oder LIDL oder sonst wo, haben Bäcker keine Daseinsberechtigung mehr. So einfach ist das.“

Seine harten Worte trafen mich. „Das mag ja alles sein. Wieso änderst du es nicht?“

„Mike, schau dir den Hilbert mal an … und dann schau dich mal ganz genau hier um. Macht es wirklich den Eindruck auf dich, als wäre das jetzt noch eine gute Idee?“

Seine realistische Sicht auf die Welt hat mich schon immer beeindruckt, aber nun überkam mich ein lautes Lachen. Angesichts des sonderbaren Gesprächsverlaufs und dieser sarkastischen Frage konnte ich wirklich nicht mehr innehalten.

„Paul, du bist der Hammer. Aber eine bessere Qualität … Premium oder BIO … was auch immer … bedeutet auch höhere Preise. Wie soll man das den Kunden erklären, wenn der Mist im Discounter jetzt schon nur die Hälfte kostet?“

„Aha!“ triumphiert er mit erhobenem Zeigefinger, als hätte ich herausgefunden, dass man die Welt auf Knopfdruck in die andere Richtung drehen lassen könnte. „Genau da ist ja die Aufgabe, die uns die Kunden stellen! Deswegen kaufen sie ja woanders, weil sie den Preisunterschied nicht verstehen! Und das ist ja auch ehrlich überhaupt kein Wunder! Ich habe es dir doch erzählt, woher mein Kollege aus der Erfa-Gruppe seine Teiglinge bezieht! Der hat doch schon lange seine eigene Produktion heruntergefahren und nimmt die Ware aus der Ukraine oder direkt aus China, weil er sich die Lohnkosten nicht mehr leisten kann! … Also nochmal: Mike, wieso kaufen die Kunden bei dir?“

Etwas eingeschüchtert suche ich nach einer Erklärung. „Wir arbeiten halt tradi…“

„Traditionell und handwerklich. Und nicht industriell“ fällt er mir ins Wort, „schon klar. Allerdings interessiert es die Kunden offenbar nicht, sonst könnten die Discounter sich nicht auch noch damit brüsten, mit frischen Backwaren neue Spitzenumsätze zu machen! Entschuldige bitte, ich habe dich unterbrochen.“

Ich weiß nicht, was ich denken oder sagen soll. Reflexartig halte ich den Atem an. Als ich es selbst bemerke, atme ich laut durch die Nase aus.

Mir fällt so schnell keine Antwort ein. „Was ist los mit dir? Haben die dir schon irgendetwas verschrieben, auf das du so allergisch reagierst?“

Der Hilbert lacht. „Nein, mein Lieber. Es sind nur die klaren Gedanken eines alten Mannes. Für den Hilbert ist es jetzt zu spät. Aber vielleicht kannst du etwas mit den Gedanken anfangen. Nicht, dass du in ein paar Jahren an meinem Grab stehst und sagst ,Ach, hätte ich mal auf den Hilbert gehört!‘, das wäre doch doof, oder?!“ lacht er mir zu.

„Ach Mensch, Paul.“ überkommt es mich. „Es tut mir echt leid.“

„Muss es nicht, Mike. Ehrlich. Ich hab‘s mir anders vorgestellt, aber es ist OK wie es ist.“

Er schaut mich mit einem leicht weinerlichen Lächeln an und ich merke, dass er mit sich im Reinen ist.

„Mike, sieh einfach zu, dass du dein Ding machst. Herbert hat dir nicht umsonst alles übertragen - du musst aber deinen Weg in die Zukunft selber finden. Die Zeiten sind für uns Bäcker nicht einfach! Vielleicht kannst du dann ja noch jemanden von Hilbert gebrauchen.“

„Bestimmt.“ bestätige ich und strecke die Hand zum Abschied in seine Richtung.

„Mach‘s gut.“ sage ich, während er mir auch seine Hand reicht. Statt sie allerdings zum Abschied zu schütteln, zieht er mich zu sich heran und umarmt mich herzlich.

„Wie oft hat er mich früher mit seiner unnachgiebigen Art geärgert?!“ denke ich leicht melancholisch, als ich durch die Hintertür zu meinem Auto gehe. Auf dem Rückweg überlege ich, ob er vielleicht sogar Recht haben könnte. So abwegig scheinen seine Gedanken gar nicht zu sein.

Zuhause angekommen fühle ich mich sofort wieder wie in einer anderen Welt. Das kleine Treiben des Alltags hat mich wieder und fängt in Bruchteilen einer Sekunde an, mich zu erdrücken. Es fängt schon damit an, dass ich das Auto nicht unter das Carport stellen kann, weil mein zehnjähriger Sohn Tom sein Fahrrad zu großzügig geparkt hat. Ich bleibe in der Einfahrt stehen und hupe. Kurz darauf bewegt sich die Gardine des Küchenfensters und eine Kinderhand winkt mir fröhlich zu. Ich hupe erneut und deute auf das Fahrrad. Einen kurzen Augenblick später geht die Haustür auf und Tom tritt auf Socken heraus. Seinem Blick nach zu urteilen, hat er den tieferen Sinn meiner Hup-Aktion noch nicht verstanden, weshalb ich „Dein Fahrrad!“ in seine Richtung brülle, anstatt einfach das Fenster zu öffnen. Er versteht mich dennoch und gestikuliert irgendetwas mit seinen Händen, während er zum Carport sprintet, um sein Rad weiter an die Mauer zu stellen.

„Ernsthaft? Dafür hast du mich jetzt angehupt?“ begrüßt er mich, als ich aussteige.

„Ja, genau dafür. - Ist deine Schwester auch schon da?“ frage ich ihn schnell, damit er keine Chance hat, mich zu fragen, weshalb ich nicht einfach ausgestiegen bin und das Fahrrad selbst beiseite gestellt habe.

„Ja, Sophia ist drinnen“, antwortet er, „macht Hausaufgaben.“

Wir betreten gemeinsam das Haus und gehen in die Küche, in der eine gereizte Stimmung zu spüren ist - zumindest wenn ich den Gesichtsausdruck von Steffi und meiner 13-jährigen pubertierenden Tochter richtig interpretiere. Anstatt zu fragen, was los ist, begrüße ich sie vorsichtshalber nur mit einem neutralen „Hi Mädels!“ und einem mitleidigen Blick zu meiner Frau.

„Na dann mach halt morgen weiter“, gibt Steffi nun offenbar nach und Sophia packt grinsend ihre Hausaufgaben in den Schulrucksack. Mit einem „Hi Papa“ geht sie an mir vorbei in Richtung ihres Zimmers. Tom kommt aus dem Wohnzimmer und hält die Spielkonsole in seiner Hand.

„Darf ich Switch spielen?“ fragt er mit einem vorgetäuschten Dackelblick.

„Ja, darfst du. Aber geht bitte in dein Zimmer. Mama und Papa wollen sich mal kurz in Ruhe unterhalten.“

„Wie geht‘s ihm denn?“ will Steffi von mir wissen, während sie die Spülmaschine ausräumt.

„Gut“ grinse ich und nehme ihr die Teller ab, die sie mir entgegenstreckt. „Er hat von seinem direkten Charme nichts verloren!“

„Das wäre ja auch ein Wunder“, kommentiert Steffi auch ihren alten Lehrherrn.

„Stimmt allerdings. Erstaunlich ist, wie vollkommen klar ihm ist, dass seine Zeit und auch die Zeit von Hilbert … also der Bäckerei … abgelaufen ist.“

Ich muss schmunzeln, weil mich ein Gespräch mit „dem Hilbert“ immer an meine Leistungsgrenze bringt.

Steffi dreht sich zu mir um und hält mir nun zwei Tassen vor die Brust: „Und warum verkauft er den ganzen Bumms nicht einfach?“

Ich nehme die Tassen und stelle sie in das Regal hinter mir: „Wer will das denn haben? Ich schau mir gegen Ende des Jahres mal seine Maschinen an - vielleicht ist auch einer der Öfen dann interessant für uns. Aber es gibt zumindest niemanden, der die Bäckerei ernsthaft übernehmen kann oder will. Das passt auch für uns nicht.“ fasse ich zusammen.

„Und spannend find ich ja, dass er denkt, mit noch besserer Qualität und ein paar Tischen könne man mehr Geld verdienen. Für ihn sei es zwar zu spät, weil sich die Umstellung nicht mehr lohne, aber wir könnten es zumindest.“

Steffi klappt die Spülmaschine mit einer gekonnten Handbewegung wieder zu, während sie mit der anderen Hand die Messer in die Lade legt. „Wie meinst‘n das?“

„Nicht ich. Der Hilbert! Er sagt, er hätte in letzter Zeit viel nachgedacht. So über sich und die Bäckerei und so. Da sei ihm wohl klar geworden, dass man als Bäcker nur eine Chance habe, wenn man etwas Besonderes biete und besser sei als die großen Ketten und die Discounter.“

„ Das ist ja viel zu riskant.“

„Klingt ja auch logisch“, kommentiert Steffi und putzt die Arbeitsplatte ab, während ich inzwischen tatenlos daneben stehe und sie bei der Arbeit beobachte.

„Das bedeutet aber auch, dass wir dann wie BIO oder Premium oder was auch immer … höhere Preise verlangen müssen.“

Als hätte ich irgendetwas Falsches gesagt, raunt Steffi mich nun an: „Ja, aber das kannst du nicht bringen. Das ist ja viel zu riskant. Wir haben im Juli ja schon einige harte Gespräche geführt, weil die Kunden es teilweise nicht verstanden haben, wieso wir drei Cent mehr für ein Weizenbrötchen nehmen! Und ich will nicht, dass wir irgendwann keine Kunden mehr haben. Dann kannst du deine Premium-BIO-Brötchen nämlich alleine futtern!“

Uhhh, das hat gesessen. Am besten halte ich nun einfach meinen Mund. Ich will heute Abend keinen Streit provozieren - der Tag war schon blöd genug. Auch wenn es mir schwerfällt: Ich lächle und nicke, während ich mir innerlich auf die Zunge beiße, um nicht zu sagen, dass ich es gerne mal ausprobieren würde. Der Hilbert hat nicht ganz Unrecht, denke ich. Besonders sein und eine bessere Qualität … Warum nicht?

DER BESONDERE BÄCKER

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