Читать книгу DER BESONDERE BÄCKER - Phillip Schnieders - Страница 18
ОглавлениеSO SCHLIMM IST ES NICHT
Als ich in der Nacht zur Bäckerei fahre, lässt mich das Gespräch mit dem Hilbert nicht los. Ist es dem Kunden wirklich egal, ob eine Hand oder eine Maschine seine Lebensmittel herstellt? Es legen viele Menschen noch wert auf ehrliches Handwerk, denke ich. Kaufen denn so viele Leute dieses billige Zeug?
Ich bin um kurz vor eins im Betrieb. Ein paar Minuten nach mir kommt Markus Röhrmann durch die Tür und streift sich seine Umhängetasche von den Schultern.
„Na, Chef? Geht‘s wieder?“
Ich gebe einen nicht so richtig identifizierbaren Laut von mir und nicke ihm mit einem Lächeln zu. Der Mann ist wirklich gut. Er ist seit vier Jahren als Meister bei uns und kümmert sich um alles, was ich nicht schaffe.
Als die Gesellen und Azubis später eine kurze Pause machen, ist die Situation günstig, mich am Backtisch nach seiner Meinung zu erkundigen.
„Herr Röhrmann, ich habe heute mit meinem alten Freund, dem Hilbert gesprochen“ eröffne ich das Gespräch.
Aus seiner Richtung kommt ein gleichgültig klingendes „Aha“ zurück.
„Er meint, dass vielen Kunden egal ist, ob sie beim Bäcker oder vom Discounter kaufen. Der Hilbert sagt, dass es eigentlich egal ist, ob traditionell handwerklich gearbeitet oder industriell gefertigt wird, weil das Produkt für den Kunden in vielen Fällen vergleichbar ist.“
Ich lasse diese Aussage so stehen und schaue ihn an, während ich die Teigstücke weiter beisetze.
„Wieso das denn? Wir machen doch gute Arbeit! Das wissen unsere Kunden auch - und deswegen kommen sie zu uns!“ Er wird energischer. „Wenn wir jetzt das Sortiment verändern, Preise noch weiter erhöhen oder irgendwas umstellen … das finden die Kunden ganz sicher nicht gut. Und außerdem ist es gar nicht nötig.“ betont er mit einem Faustschlag auf den Tisch. „Never change a running system!“
„Da haben Sie Recht. Gute Arbeit machen wir auf jeden Fall. Die Frage ist nur, wie lange und wie gut das System läuft! Ich wollte mal einfach hören, was Sie dazu denken“ bedanke ich mich bei ihm und drehe mich um, weil das Signal des Ofens ertönt.
Wenn ich jetzt wirklich alles umstellen würde …, denke ich, wie sollte das gehen? Ich kann ja nicht einfach komplett andere Zutaten nehmen und dem Kunden schmeckt es auf einmal nicht mehr! Und wenn ich das dann noch mit einer Preiserhöhung verbinden würde … Das ist echt riskant.
Der restliche Morgen verläuft routiniert. Mit den Laugenstangen sind wir heute zwar ein paar Minuten später fertig, aber das fällt nur unserer guten Inge vorne im Laden auf. Eigentlich heißt sie Ingeborg Sundermann und ist unsere treue Seele des Betriebs. Ich glaube sogar, dass viele nicht einmal ihren Nachnamen kennen, weil jeder sie nur mit Inge anspricht. Sie ist unsere Inge - Frau der Dinge. Jeder braucht so eine gute Seele, die alles zusammenhält und der Firma eine persönliche Ausstrahlung gibt, oder? Inge ist bei Wickel, seitdem ich denken kann. Früher hat sie mir immer einen Nugatring gegeben, wenn ich nach der Berufsschule direkt zur Bäckerei ging. Jeden Morgen um exakt 4:58 Uhr schließt sie den Laden auf und bereitet den Verkauf vor, obwohl wir erst eine Stunde später öffnen.
Als meine Arbeit am Tisch erledigt ist, ziehe ich mich um und rauche meine fünfte Zigarette an diesem jungen Tag. Ich genieße die aufgegangene Sonne und schaue auf unseren Parkplatz. Mir fallen die vielen Familienväter auf, die an diesem Samstagmorgen vermutlich von ihren Frauen zu uns geschickt werden, um frische Brötchen für den Frühstückstisch zu erjagen. Ich zünde mir noch eine Zigarette an, um mich schon mal auf die anstehende Arbeit in meinem Büro vorzubereiten. Als ich die Zigarette nach wenigen Minuten in den Aschenbecher drücke, beschließe ich kurz, mit Inge über die Idee vom Hilbert zu sprechen. Mich lässt der Gedanke nicht los, etwas tun zu müssen, und gleichzeitig weiß ich nicht, ob es der richtige Weg für uns ist.
„Inge? Hast du mal eine Minute?“ frage ich in den Laden hinein, während ich nur meinen Kopf durch die Pendeltür gesteckt habe.
„Och Mike, muss das unbedingt jetzt sein? Du siehst doch, was hier los ist. Geht das nicht auch um zehn?“
Hat sie mir jetzt einen Korb gegeben? „OK“, gebe ich dennoch verständnisvoll von mir. „Kommst du dann gleich zu mir hoch?“
„Na klar“ bestätigt Inge, während sie halblaut die Brötchen zählt, die sie routiniert in die Tüte wirft.
„Wie sehr ich Büroarbeit liebe!“ denke ich ironisch, als ich kurze Zeit später an meinem Schreibtisch sitze. Es ist unordentlich. Überall verteilt liegen Angebote, Rechnungen, alte Bewerbungen und Prospekte von irgendwelchen Firmen, die mir etwas verkaufen wollen. Ich nehme ein paar Broschüren und werfe sie in den Papierkorb. Ich habe jetzt echt keine Lust, irgendetwas zu kaufen. Mir ist es wichtiger, die Ausgaben etwas zu reduzieren, um damit auf weniger Kunden zu reagieren … Wenn wir überhaupt weniger Kunden kriegen sollten. Davon bin ich noch nicht überzeugt.
Ich packe die Produktproben in eine Kiste und sortiere die Zettel weiter. Zentimeterweise kämpfe ich mich durch den Papierkram und alles andere, was noch auf meinem alten rustikalen Schreibtisch liegt.
„Vielleicht hätte ich gestern doch einfach meinen Job hier gemacht, dann wäre der Aufwand jetzt nicht so groß.“ denke ich etwas reumütig. Es dauert nicht lange, bis ich mein Zeitgefühl verliere. Ein lautes Klopfen an meiner Tür erschrickt mich. Ist es wirklich schon zehn Uhr?
Inge öffnet die Tür: „So, ich habe jetzt Zeit, Mike. Was gibt‘s denn?“
Sie platziert ihren voluminösen Körper in einen der beiden auf einmal sehr gebrechlich anmutenden Schwingstühle vor meinem Schreibtisch.
„Ich habe da mal eine Frage an dich.“
„Schieß los!“
„Inge, was denkst du: Wenn wir hier ein paar Dinge verändern … zum Beispiel eine bessere Qualität bieten … vielleicht BIO oder wirklich Premium-Produkte … und dafür sorgen, dass man bei uns auch gut frühstücken oder nachmittags einen Kuchen essen kann … würden wir dadurch ein Alleinstellungsmerkmal für unsere Kunden schaffen?“
Inge schaut mich mit einem irritierend schmerzverzerrten Gesicht an.
„Aber Mike, das sage ich dir ja schon seit langem! Das ist es doch, was ich die ganze Zeit sage!“
Die gerade gebildeten Falten auf der Stirn scheinen sich magisch aufzulösen, um zu einem Lächeln in den Mundwinkeln wieder zu erscheinen. Offensichtlich gefällt ihr der Gedanke, dass ich dieses Thema nicht länger ignoriere und sie endlich erhöre. Nachdem ich den schnellen Wandel ihrer Gesichtsausdrücke für mich interpretiert habe, schaue ich sie fragend an. Scheinbar gebe ich ihr damit die heiß ersehnte Einladung, dem Schwall an Wörtern, der sich wohl nicht länger von ihr unterdrücken lässt, freien Lauf zu lassen.
„Mike, der Kaffeeautomat ist viel zu laut und außerdem schmeckt der Kakao scheußlich nach Wasser. Da müssen wir dringend etwas machen. Was aber noch viel schlimmer ist: Die Stühle sind echt unbequem. Hast du dich da ernsthaft schon mal eine halbe Stunde draufgesetzt? Und wackelig sind die ja ohne Ende. - Ich find die nicht gut. Wir ziehen sie schon immer mal wieder nach, aber unbequem sind sie auf jeden Fall. Dann kam Pia letztens die Idee, dass wir eigentlich mal diese kleinen Holzständer für die Karten auswechseln müssten, weil die echt nicht mehr schön aussehen. Und modern sind die auch nicht. Uns ist übrigens aufgefallen, dass wir weder hier noch in einer der Filialen mit Sitzplätzen eine Garderobe haben. Man muss also immer die Jacke so über den Stuhl hängen. Mal ganz abgesehen von der Sitzgelegenheit in Schwackdorf - die ist ja komplett ungemütlich. Da müsste mindestens der Tisch in der Mitte mit den beiden Stühlen raus.“
„Inge!“ versuche ich sie zu unterbrechen. „Inge, warte mal!“
Abrupt langsamer werdend kommt ihr Monolog zum Stillstand.
„Mmh?“
„Ich meinte es anders. Was ist, wenn wir wirklich etwas Besonderes für unsere Kunden schaffen, damit nicht noch mehr Leute ihre Brote und Brötchen billig woanders kaufen!“
„Ja, das sage ich doch gerade, Mike!“ fällt mir Inge euphorisch aufgeladen ins Wort. „Es sind ja so viele Sachen, da kann sich einfach keiner richtig wohlfühlen oder uns irgendwie besonders finden! Oder sagst du ,Oh, der Stuhl ist aber besonders unbequem - hier gehe ich öfter hin zum Frühstücken!‘“
Angesichts dieses komischen Beispiels fallen wir beide in lautes Gelächter.
„Ich habe ja verstanden, wie du das meinst, Inge. Um wettbewerbsfähig zu sein, müssen wir unseren Kunden auch etwas bieten. Das Blöde daran ist, dass wir dafür auch etwas höhere Preise nehmen müssen, um vernünftig zu verdienen. Und das wird schwer.“
„Ja sicher wird das schwer. Was meint denn dein Vater überhaupt dazu? Und außerdem: Glaubst du, dass mir irgendein Kunde sagt, dass er die Brötchen nicht will, weil sie dann irgendwann noch mal zwei Cent teurer sind?“ fragt sie spöttisch.
„Ich weiß es einfach nicht.“ antworte ich.
„Überleg es dir, Mike“ sagt Inge, während sie sich auf die dünnen chromfarbenen Lehnen des Stuhls stützt, um sich aus ihrem Sitz zu erheben. „Ich muss wieder an die Arbeit und die Schichten für die übernächste Woche planen, sonst haben wir niemanden, der die Brötchen belegt, während die Kunden das Wasser mit Kakaogeschmack auf den wackeligen Stühlen trinken!“
Ich seufze und gebe ein zustimmendes Geräusch von mir.
Mir kommt ein süffisant-fieser Gedanke, von dem man nach Außen bestenfalls mein schelmisches Grinsen gesehen hätte:
So wackelig sind die Stühle doch gar nicht, denke ich und muss nun kräftig in mich hineinlachen, als ich unsere “Frau der Dinge" von hinten sehe und den Grund ihrer ‚Stuhlprobleme‘ erahne. Zum Glück hat auch Inge nichts davon mitbekommen, weil sie gerade durch meine Bürotür verschwunden ist. Ich drehe meinen Stuhl in Richtung Fenster und streichle mein unrasiertes Kinn.
Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll, denke ich.
„Kann mir nicht einfach irgendjemand sagen, was ich machen soll?“
Ich habe ja verstanden, dass ich irgendetwas machen muss, damit wir wieder attraktiver werden. Aber kann mir nicht einfach irgendjemand sagen, was ich machen soll?
In den nächsten zweieinhalb Stunden schreibe ich noch ein paar Mails. - OK, die meisten lösche ich einfach oder ignoriere sie. Dann erledige ich ein paar dringende Dinge und versetze anschließend meinen Computer in den Stromsparmodus.
Ich mache es jetzt wie der PC, denke ich, einfach Ruhemodus aktivieren und den Prozessor schonen.
Weder in der Backstube noch im Laden finde ich jemanden, von dem ich mich verabschieden könnte. Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass ich vor genau 12 Stunden durch die Tür gekommen bin, durch die ich mein Unternehmen nun verlasse. Auf dem Hof läuft mir noch ein Fahrer über den Weg, der gerade seine Vormittagsrunde beendet hat.
„Schönes Wochenende“ ruft er mir zuerst zu.
„Danke, Ihnen auch!“ rufe ich zurück und hebe die Hand zum Gruß, während ich mit der anderen auf den Schlüssel meines Autos drücke.
„Und? Wie war’s, Schatz?“ fragt Steffi mich am Mittagstisch.
„Wie immer“, antworte ich routiniert wie ein Kind, was jeden Mittag von seinen Eltern gefragt wird, wie die Schule war.
Ich habe keine Lust, mir eine bessere Antwort auszudenken.
Schließlich laufen meine Tage immer gleich ab: Nachts aufstehen, arbeiten, Büro machen und erschöpft wieder nach Hause fahren. Nach dem Essen noch einmal ausruhen, bevor nachmittags irgendetwas mit den Kindern oder Einkaufen ansteht. Alles nur, um sich spätestens halb acht wieder schlafen zu legen.
Alles stressig und zugleich langweilig. Alles, wie immer.