Читать книгу Das Steinerne Tor - Pia Guttenson - Страница 21
Freund oder Feind
ОглавлениеDer Traum hallte immer noch in meinem Kopf nach und ich rieb mir müde die Augen. Wie lange hatte ich geschlafen? Ian schnarchte leise und ich musste schmunzeln. Plötzlich rutschte ich erschrocken mit dem Rücken gegen die Wand des Turms und prallte schmerzvoll gegen den unebenen Stein.
„Aua!“, zischte ich durch die zusammengepressten Zähne. Ich hatte ihn gesehen und saß nun stocksteif da.
Er saß locker an die Wand gelehnt, mir gegenüber und beobachtete uns interessiert. Ein markantes Gesicht mit durchdringenden, grünen Katzenaugen und pechschwarzen, zu einem Zopf gebundenen Haaren. Die Kopfseiten waren wie bei den Irokesen kahlrasiert.
War er ein Indianer? Am auffälligsten waren jedoch die spitzen Ohren und die Tätowierungen. Das Gesicht und alles, was nicht unter seiner Kleidung verschwand, wies schwarze Tätowierungen auf. Selbst die kahlrasierten Seiten seines Kopfes. Ich registrierte dies alles in Sekunden, streckte meine Hand nach Ian aus, energisch rüttelte ich an ihm.
„He, Ian!“, zischte ich leise. „Ian, aufwachen, sofort!“
„Hmpf“
„Bitte, Ian! Wir haben Gesellschaft!“, flehte ich, was sofortige Wirkung zeigte. In einer fließenden Bewegung sprang er aus dem Strohbett und stand breitbeinig, mit erhobenem Schwert, vor mir. Nun gut, allerdings nur im Hemd! Trotz der ernsten Lage hatte ich direkt Schwierigkeiten nicht zu lachen. Selbst dem Fremden schien es so zu gehen. Zumindest sah es für mich so aus.
Wollte ich euch töten, wärt ihr längst tot!, schnarrte die Stimme. Es war dieselbe Stimme, wie am Strand und wir hörten sie nur in unseren Gedanken. Ich stand langsam auf und stellte mich neben Ian. Unsere Blicke trafen sich kurz und er senkte das Schwert, jedoch schob er mich hinter sich, um mich mit seinem Körper zu schützen. Geschmeidig erhob sich der Fremde und verbeugte sich vor uns.
Ihr erlaubt, dass ich mich vorstelle? Mein Name ist Nikoma und ich bin hier, um euch in Sicherheit zu bringen. Die Stimme vibrierte in unseren Köpfen.
„Ach ja? Was du nicht sagst! Vor wem - oder sollte ich fragen vor was- willst du uns in Sicherheit bringen, Fremder?“ Ians Stimme klang hart, Entschlossenheit und Kampfgeist schwangen in ihr mit.
Nun, da wären zum einen die Moorguhls. Mit ihnen hattet ihr bereits das Vergnügen. Sie sind auf der Jagd, der Jagd nach euch. Dann wären da noch die Krük, die Dunkelelben, sie wissen noch nicht, auf welcher Seite sie stehen und die Noctrum sind im Aufruhr. Sie wollen die Frau!
Er versuchte, einen Blick auf mich zu erhaschen, was ihm nicht gelang, da Ians Körper mich völlig verdeckte.
„Wieso dieses rege Interesse an uns?“, fragte Ian kalt.
Der Fremde musterte Ian abschätzend und belustigt, wie mir schien.
Es ist wegen der Prophezeiung, überlegte ich.
Ja, Frau und jetzt seid ihr hier, um jene zu erfüllen!
Die Antwort kam noch, bevor ich den Gedanken an die Pergamentrolle zu Ende gebracht hatte.
„Du liest unsere Gedanken?!“, rutschte es mir heraus.
„Von was reden wir hier? Könnte mich jemand aufklären? Was zum Henker ...?“Ian blickte voller Argwohn von mir zu dem Fremden und zurück.
„Wer bist du? Und wieso kannst du nicht reden?“ Meine Frage schien ihn zu belustigen. Ich sah hinter Ian hervor und er entblößte mit einem Lächeln eine Reihe scharfer Zähne. „Ein Freund. Selbstverständlich kann ich sprechen, wenn ich möchte. Doch die Gedankensprache ist mir lieber“, sagte er belustigt und nicht mehr in unseren Köpfen.
„Aber wieso?“, fragte ich neugierig.
„Ich halte es nicht für notwendig, laut zu sprechen.“
„Hallo. Ich bin auch noch da. Wo bleibt meine Erklärung?“ Und wenn du sie anrührst, bist du ein toter Mann!, fügte Ian im Stillen hinzu.
„Das habe ich nicht vor. Auch wenn es fraglich wäre, ob du siegreich wärst!“, antworte der Fremde und klang mehr als amüsiert.
Ians ganzer Körper war gespannt wie ein Bogen und seine Hand war zur Faust geballt.
Mach dich niemals über einen Schotten lustig, kam es mir in den Sinn. In einer Geste der Beruhigung legte ich meine Hand auf seine Schulter.
„Die Prophezeiung besagt, dass ein Krieger und eine Mutter kommen werden, um das Volk unserer Welt wieder zu einen und die Feinde zurückzutreiben.“
„Aha. Gehe ich recht in der Annahme, dass wir das sein sollen? Wir, die noch nicht einmal wissen, wo genau wir sind? Ha, ha! Das ist ein ganz schlechter Witz, mein Freund“, konterte Ian ironisch, dabei ließ er den Fremden keine Sekunde aus den Augen.
Ein Duell der Blicke, während Nikoma mich genauso wenig aus den Augen ließ, was mich zutiefst beunruhigte.
„Wieso wir? Was macht dich so sicher?“, polterte ich los.
„Die richtige Zeit, der richtige Ort. Euer Sohn ist hier, nicht wahr?“
Eisige Finger gruben sich in mein Herz. Ich sprang hinter Ian hervor. „Wo ist Sam? Was habt ihr mit ihm gemacht?“
Ian hatte das Schwert fallen lassen und hielt mich mit beiden Armen umschlungen, so wild gebärdete ich mich.
„Ich kratz dir die Augen aus, du Scheißkerl, wenn du es mir nicht sagst! Wo? Wo ist mein Kind?“ Ich hatte meine Wut nicht mehr unter Kontrolle. Wie eine Wilde versuchte ich, immer wieder auf den Fremden loszugehen.
„Lass das, Isa! Du verletzt dich noch!“ Das ‚oder mich‘ sprach er nicht aus, aber ich konnte es in seinem Gesicht lesen. „Beruhige dich, Sommersprosse. Bitte!“
Ian musterte den Fremden kalt. Beide waren gleichwertige Gegner, berechnende Gegner. Ich war mir sicher, bei einem Kampf würde es keinen Gewinner geben.
„Die Moorguhls haben ihn. Sie werden ihn zu ihren Herren, den Lords of Noctrum bringen. Er wird leben, solange sie deiner nicht habhaft werden! Ihr müsst zu den Wäldern Y-Haras. Die Waldelfen und die Elben erwarten euch. Dort werdet ihr alle Antworten bekommen, die nötig sind. Folgt mir, die Zeit drängt!“
Er ließ uns keine Zeit für neue Fragen oder schnippische Antworten, sah uns noch nicht einmal mehr an. Wie selbstverständlich ging er auf direktem Weg zum Fenster. Sprang mit weit ausgebreiteten Armen und wie Flügel flatternder Kleidung hinab.
„Was macht er? Verflucht!“
Ian war mit zwei Schritten an dem gotischen Fenster, ich brauchte vier. Der Ausblick war derselbe. Als ob nichts geschehen wäre, lehnte Nikoma an einem Baum. Neben diesem warteten zwei gesattelte Pferde.
Sie kommen näher. Worauf wartet ihr?
Ian sah mich an. „Du bist mir eine Antwort schuldig!“
Die ruhige beherrschte Stimme strafte seinen wilden Blick Lügen.
Ich wich einen Schritt zurück und schluckte trocken. „Ich wüsste nicht, welche!“Angriff ist die beste Verteidigung, dachte ich.
„Bei Gott Weib, wenn du mir nicht auf der Stelle Rede und Antwort stehst, lege ich dich übers Knie!“, knurrte Ian und ich erstarrte.
„Das tust du nicht!“, wisperte ich mit schlotternden Knien mutig und wich zurück, bis die Wand einen weiteren Rückzug vereitelte.
„Was macht dich da so sicher, du stures Frauenzimmer?“, drohte er mit Augen die Funken zu sprühen schienen.
„Gut. Ist ja gut! Es tut mir leid, Ian. Für mich ist das hier auch nicht einfach“, gab ich kleinlaut zu. „Also, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du dich um mich sorgst. Aber ich bin es gewohnt, selbst auf mich aufzupassen, okay? Ich musste das schon immer und ...“
„Isa!“ Seine Stimme glich jetzt einem Donnergrollen.
„Äh, ja? Ja, okay.“
Er kam näher.
„Da, da war eine … eine Pergamentrolle, ich hab sie äh … geerbt … und sie erschien mir wie ein Witz. Du weißt schon, ‚versteckte Kamera‘ oder so ...“
Ian ragte nun bedrohlich vor mir auf, einem Riesen gleich. An seinem Hals pulsierte eine Ader vor Wut. Er lehnte seine Hände rechts und links von meinem Kopf an die Wand und starrte mir in die Augen. Ich konnte nirgendwo anderes hinsehen, nur in diese dunkelbraunen Augen. Es war, als wäre ich die Maus und er die Schlange, die mich mit einem Blick fixierte, der mich zur Salzsäule erstarren ließ.
„Komm zum Punkt, Weib!“, knurrte er und seine Nasenspitze berührte die meine.
„Äh, da … es stand da was geschrieben, ähm ...“ Wie war es noch gleich?
Nikomas Stimme in unseren Köpfen begann gleichzeitig mit meiner zu sprechen:
„Der Krieger durch Liebe gebunden.
Ein Kind das gefunden.
Zu richten und zu binden das alte Geschlecht.
Ein Pakt aus Blut und Tränen gemacht.
Was war und wird sein mit vereinter Macht.
Um zu öffnen, des Buches Tor und zu binden
das Gift der Vier.
Im Herzen des Moors.
Zuerst sah ich Unglauben, gepaart mit Belustigung in seinem Blick und dann ... Er drehte sich kommentarlos um, warf den Kilt zu Boden und rollte sich umständlich darin ein. Vor sich hin schimpfend stellte er die Leiter in das Loch im Boden und stieg hinunter.
Es war der Moment, in dem er sich umdrehte und was ich da in seinen Augen sah, war Begreifen und - Angst. Verstohlen strich ich mir die Haare aus dem Gesicht, den Rock glatt und die Tränen aus den Augenwinkeln. Ich hatte das alles so satt.
„Beeil dich, Isa. Wir wollen Nikoma nicht warten lassen“, mahnte Ian schnippisch und hielt die Leiter fest.
„Bist du sauer?“, flüsterte ich.
„Hmpf!“
Oh ja, er war sauer.
„Ian, siehst du mir unter den Rock?“
Er sah mich böse an und ließ die Leiter los. Mit einem „Verdammtes, stures Weibsbild. Òinsich!“, verschwand er aus meinem Blickfeld.
Jetzt waren beide Männer bei den Pferden. Oh, oh. Pferde! Ich hatte sie verdrängt. Wunderschön standen sie nebeneinander. Das eine braun - weiß gescheckt, das andere rabenschwarz. Eines hatten beide Pferde gemeinsam. Sie waren groß, sehr groß. Und wie ich in diesem Augenblick feststellte, als ich die Tiere erreichte: zu groß für meinen Geschmack.
Nikoma sah mich an und grinste breit. Ian kam wohl zum selben Schluss. Verflixt, stand mir die Panik so sehr ins Gesicht geschrieben?
Sagen konnte ich nichts mehr. Ian ergriff mich kopfschüttelnd und noch bevor ich bis drei zählen konnte, saß ich auf dem schwarzen Pferd. Meine Hände krallten sich panisch am Sattel fest. Soeben wollte Ian hinter mir aufsteigen, als Nikoma ihm bedeutete innezuhalten.
„Ich bevorzuge es, zu Fuß zu gehen. Pferde mögen mich im Allgemeinen nicht besonders.“
„Sind wir dann nicht zu schnell?“, fragte ich erstaunt.
Nikoma hob belustigt die Augenbrauen und ignorierte meine Frage. „Folgt mir einfach!“
Ian sah mir an, dass ich sichtlich unwohl auf diesem Riesenpferd saß.
„Sommersprosse, du hängst da wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Sei nicht so verkrampft und krall dich nicht so fest. Das mögen Pferde im Normalfall gar nicht gerne.“
„Ach, was du nicht sagst“, zischte ich, mit zusammengepressten Lippen.
„Soll ich dich festbinden?“, witzelte er.
„Wag es ja nicht! Du, du ... Schotte!“
„Ich denke, ich nehme vorsichtshalber ihre Zügel, Mistress!“, sagte er und ich vernahm es genau. Ein leises glucksendes Lachen. Sie lachten beide. Nikoma ebenso wie Ian.
„Schön, dass ich für ihr Amüsement herhalten darf, die Herren!“ Weiter kam ich nicht dazu, meinen Zorn kundzutun, da ich zu sehr damit beschäftigt war, nicht vom Pferd zu fallen. Ian nahm die Zügel und saß auf.
Im selben Moment begann Nikoma zu laufen, schneller und schneller, voller Anmut und Eleganz, seine Kleidung bot ihm die perfekte Tarnung und er war fast schon nicht mehr auszumachen. Die Pferde fielen vom Trab in den Galopp und wir flogen nur so dahin.
Die Landschaft war wie aus einem Reiseführer, wie gemalt, Lochs, Glens und unendliche Wogen aus grünem, mit Blüten durchsetztem Gras. Was hätte ich nicht alles darum gegeben dieses Farbenmeer auf ein Foto zu bannen! Mir schossen Tränen in die Augen, als mir aufging, dass ich vermutlich für eine lange Zeit, oder sogar nie mehr, eine Kamera in den Händen halten würde.
„Dass du dich ja gut festhältst! Ein Sturz bei dem Tempo wäre verheerend!“, rief Ian mir zu.
Ha, da wäre ich nie darauf gekommen! Ich sah bewundernd auf seinen Rücken. Er saß auf dem Pferd, wie Christopher Lambert als Highlander im Film. Perfekt. Seine langen Haare waren wieder mit dem Haarband gebändigt, die großen Hände hielten die Zügel, die darin mehr als verloren aussahen. Seine Augen prüften mit ernstem Gesichtsausdruck die Landschaft. Unvermittelt drehte er sich nach mir um. Erschrocken schlug ich die Augen nieder. Verflixt, diesem Mann entging auch gar nichts!
„Alles in Ordnung, Mistress? Kannst du dich noch festhalten?“, fragte er mit besorgter Stimme.
„Öhm, danke. Ja, alles Okay! Was glaubst du, machen wir je Pause oder kommen wir irgendwann an?“ Wo auch immer, fügte ich still hinzu.
Er musterte mich argwöhnisch.
„Die Wahrheit?“, fragte er.
„Ja, ich werde es schon ertragen. Also?“
„Aye. Ich habe nicht die geringste Ahnung! Diese Landschaft sieht aus wie meine Heimat, selbst die Lochs und Glens ... und dennoch, wir reiten schon so lange. Ich weiß es nicht, mo rùn!“
Hoffentlich weiß dieser seltsame Nikoma es! Dieser Kerl rennt wie ein Panther, ohne Unterbrechung, dachte ich besorgt.
Ian sah mich an, als hätte er Angst, dass ich jeden Augenblick vom Pferd fallen würde. Leider kam dies, wenn er es den tatsächlich dachte, meinem Zustand gefährlich nahe.
Die Gedanken des Schotten waren um einiges schwerer zu lesen, als die der Frau, Isandora, aber dennoch las Nikoma sie. Sie befolgten, wenn auch widerwillig, seine Anweisung und folgten dem Turmfalken, dessen Gestalt er angenommen hatte. So konnte er immer direkt über ihnen fliegen und gleichzeitig die Landschaft im Auge behalten. Es gab zu viele Anhänger der Noctrum in dieser Gegend. Der Schotte war extrem vorsichtig und auf der Hut. Das imponierte ihm. Er war der Krieger, da war Nikoma sich sicher, nicht allein wegen seines Aussehens. Nein. Es war sein Stolz, sein Kampfgeist und seine starken Gefühle der Frau gegenüber. Er war ihr verfallen auf Gedeih und Verderb.
Das Unglaubliche daran war, er konnte ihn verstehen. Nein, Schlimmer noch, er konnte es fühlen. Er hatte in Erwägung gezogen, in Menschengestalt weiterzureisen, ihretwegen. Seine Kondition hätte es ihm locker erlaubt. Dennoch hatte er sich für die Gestalt des Turmfalken entschieden. Diese beiden Menschen waren ein zu leichtes Ziel für ihre Feinde. Er durfte seine Aufgabe nicht vernachlässigen!
Und doch stahl sie sich, in seine Gedanken ... ihre Reinheit, ihr Schmerz und ihre grünen Augen, so grün wie die seinen.
Isandora up Devley hatte keine Ahnung, wer sie war. Noch wusste die kleine Menschenfrau nichts über ihre Herkunft. Zuerst hatte Nikoma nicht zu hoffen gewagt, dass sie es wirklich war.
Die verschollene Tochter Fenmars.
Isandora hatte ihn mitten in sein schwarzes Herz getroffen. Ausgerechnet sie, ein Mensch, wenn auch von edler Abstammung, von der sie nicht das Geringste ahnte! Er hatte in den Abgrund ihrer Seele geblickt: nur bodenloser Schmerz.
Ian MacLeod, der Hüne, der Krieger, Zweifler und Beschützer. Er hatte es ebenfalls gesehen und deshalb war er ihr verfallen. Nikoma konnte das Band ihrer Liebe sehen, obgleich Isandora sich noch gegen ihre Gefühle wehrte.
Er war ein Formwandler. Turmfalke und Wolf waren seine weiteren Gestalten, die er annehmen konnte. Er gehörte einer Spezies an, die einen äußerst schlechten Ruf hatte und umso wichtiger war seine Aufgabe. Da war ein Liebesgeplänkel, zudem mit einer Menschenfrau, einer up Devley, unangebracht. Der Falke Nikoma stieß einen Schrei aus. Bah, Menschen!
Die Abenddämmerung brach an und noch immer saßen wir auf den Pferden. Selbst diesen schien es wie uns zu gehen und sie trotteten nur noch gemütlich dahin.
Dort vorne ist ein kleiner Bach: Haltet dort an. Ich stoße später zu euch, machte sich Nikomas Stimme in unseren Gedanken bemerkbar.
Keinen Moment zu früh. Ich kam nur dank Ian vom Pferd, der mich genauso herab schwang, wie er mich hochgeschwungen hatte. Glücklicherweise, denn sonst wäre ich hinuntergefallen wie ein Sack Kartoffeln. Die Innenseiten meiner Oberschenkel brannten wie Feuer und ich war mir sicher, so schnell nicht mehr auf meinem Hintern sitzen zu wollen.
Das alles schien Ian nichts auszumachen. Ihn plagte wohl weder das eine noch das andere meiner Probleme. Im Gegenteil. Neidvoll musste ich gestehen, dass er aussah wie das blühende Leben. Nun gut, das Hemd war nicht mehr unbedingt weiß und der Kilt sah auch nicht mehr taufrisch aus, aber alles in allem ganz passabel.
Und ich? Einer meiner Ärmel war an der Schulter vom Kleid angerissen. Der schöne grüne Rock war voller Flecken und mein Unterrock leicht zerfetzt, da ich Ian einen neuen Verband daraus gemacht hatte. Schade um das teure Kleid!
„Alles in Ordnung mit dir, Sommersprosse?“, unterbrach Ian meine Gedanken und ich nickte tapfer.
„Puh! Endlich Boden unter den Füßen.“ Ich stöhnte und streckte mich genüsslich.
„Du bist noch nie geritten, oder?“, wollte Ian wissen und ich dachte; doch, aber nicht auf einem Pferd! Augenblicklich begannen meine Wangen vor Scham rot zu glühen. Zumindest fühlte es sich so an. „Ähm, nein. Ist das so offensichtlich?“, stotterte ich stattdessen.
„Tja, allerdings“, schmunzelte Ian. „Na, dann lass mal den Doc sehen!“ Er machte Anstalten, mir den Rock hochzuheben.
Empört schlug ich ihm auf die Hand, was er mit einem entrüsteten „Aua!“ quittierte.
„Finger weg, Ian Tormod Robert MacLeod. Davon träumst du vielleicht.“
„Es könnte sich entzünden und du wirst dann nicht mehr sitzen können“, erklärte er geduldig.
„Was du nicht sagst“, zischte ich. Dachte er, ich würde diese Anmache nicht durchschauen? „So, und jetzt geh ich zum Bach“, schnappte ich und schob den verdutzten Schotten angriffslustig zur Seite.
Ich war mir des Blickes, der meinen Rücken durchbohrte mehr als bewusst und mühte mich ab, so wenig wie möglich zu schwanken. Dennoch kam ich mir vor, als liefe ich wie auf Eiern. Vermutlich sah ich aus wie John Wayne zu seinen Glanzzeiten, so breitbeinig wie ich lief. Am Bach begann ich mit steifen Fingern meine Schnürsenkel zu lösen, was sich als sehr problematisch herausstellte, da ich mich fast nicht bücken konnte. Wenn ich noch halbwegs Licht zum Waschen haben wollte, musste ich mich beeilen. Mit zusammengebissenen Zähnen und etlichen Flüchen schaffte ich es doch noch und watete langsam ins Wasser.
„Puh, ist das kalt!“, entfuhr es mir.
Mit gerafftem Rock und Blasen an den Füßen stand ich im Wasser, klemmte den Rock ins Mieder und unter die Arme und inspizierte meine wunden Schenkel. Ich hatte Glück, sie waren nur rot und morgen vermutlich blau, aber nicht offen und blutig, wie ich erst gedacht hatte.
Ian hatte die Pferde an einen Strauch direkt am Bach gebunden, wo sie gleichzeitig fressen und saufen konnten. Er schnitt eine große Menge trockenes Gras ab und begann anschließend die zwei Pferde damit abzureiben. Es war ein anstrengender Job, zumal er selbst k.o. war. Schließlich begab er sich ebenfalls zum Wasser, legte seinen Kilt ab und stellte sich im Hemd in die kalte Strömung. Was für eine Wohltat.
Auf dem Rückweg zum Lager sah er Isa, es war schon ziemlich dämmerig und bald dunkel. Halb hinter einem Busch verborgen blieb er stehen und beobachtete sie, wie sie sich wusch. Schmunzelnd vernahm er ihre Flüche. Wie sie so dastand mit gerafftem Kleid und vom Wind zerzaustem Haar kam sie ihm vor wie eine Wassernymphe, bezaubernd und unschuldig. Ian hätte ihr Stunden zusehen können und sein Herz schlug ihm dabei bis zum Hals. Doch der Gedanke, sie könnte ihn hier ertappen, war alles andere als erquickend! Nein, ein Feuer zum Aufwärmen wäre da wohl um einiges besser und er trat den Rückzug an.
Entlang des Baches sammelte er Treibholz ein und fand als Dreingabe wilde Erdbeeren, Brombeeren und sogar Zwiebeln. Das Pflücken dauerte zwar eine geraume Zeit, aber die war es ihm wert. Das Holz unter dem Arm und die süße Ausbeute im gerafften Kilt, brachte er alles zu ihrem Lagerplatz unter einer großen Esche. Isa war längst da, hatte auf dem Rückweg ebenso wie er Treibholz gesammelt. Es lag zu einem Haufen getürmt an dem Platz, welchen auch er für die Feuerstelle auserkoren hätte.
Schlaues Mädchen. Sie selbst war mit dem Rücken an den Stamm des Baumes gelehnt, in sich zusammengesunken und leise schnarchend eingeschlafen. Ein amüsiertes Grinsen breitete sich in Ians Gesicht aus. Sie sah so süß aus und das leise Schnarchen entlockte ihm ein glucksendes Lachen.
Zu gerne hätte er sich zu ihr gelegt, sie gewärmt oder ihr zumindest eine Decke umgelegt. Dumm nur, dass sie ihn für Ersteres vierteilen würde und für das Zweite fehlte eine Decke.
„Tja, die Decken der Pferde tun es zur Not vielleicht auch“, brummte er. „Doch zuerst mache ich uns ein Feuerchen, Süße.“ Gesagt getan. Mit den Streichhölzern, die er noch in seinem Sporran fand und dem trockenen Holz brannte schon bald ein schönes kleines Feuer. Er holte die Decken, die unter den Sätteln der Pferde waren und versicherte sich, dass es den Tieren an nichts fehlte. Als er zum Feuer zurückkehrte, fand er direkt daneben ein Bündel vor. Behutsam öffnete er es, voller Argwohn, dass etwas herausspringen könnte. Es war ein toter Hase. Nun, der würde sicher nicht mehr springen.
„Nikoma?“, fragte er und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Nichts rührte sich.
Sie waren alleine. Gut, was in anbelangte. Er hatte Hunger. Und Isa mit Sicherheit auch.
„Schön“, brummte er.„Wildhase mit Zwiebeln.“
Zuerst deckte er allerdings Isa mit beiden Pferdedecken zu. Die Decken waren sauber, rochen allerdings stark nach Pferd. Doch das wog alles nicht so schwer, wie Frostbeulen beschloss er. In der Hocke verharrend, schwebte seine Hand einen kleinen Moment zärtlich über ihrem schlafenden Antlitz, um sie zu berühren. Dann schrak er jedoch vor seiner Courage zurück und zog seine Hand weg. Verwundert über sich selbst und die Gefühle, welche diese kleine Frau in ihm auslöste, schüttelte er den Kopf. Schließlich widmete er sich dem Essen. Wie selbstverständlich begann er den Hasen zu häuten, steckte ihn auf einen langen Stecken und platzierte diesen Spezialgrill am Feuer.
Ein wunderbarer Geruch stahl sich in meine Nase und brachte meinen ausgehungerten Magen zum Knurren. „Mmmh.“
Tief Luft holend wachte ich erwartungsvoll auf. Ein unangenehmer Gestank überlagerte den anderen und kitzelte meine Nase: Pferd, es roch ziemlich stark nach Pferd. In diesem Augenblick bemerkte ich die Decken, unter denen ich lag. Vorsichtig schnupperte ich. Es waren tatsächlich die Decken, von denen der Geruch ausging. Bäh! Obwohl, ich kein Grund hatte undankbar zu sein, schließlich war es allemal besser als zu frieren. Ian hatte ein Feuer entfacht und es war mittlerweile dunkel geworden. Die ersten Sterne waren schon am Firmament sichtbar. Ian beobachtete mich, während er etwas über dem Feuer hin und her drehte. Beim näheren Betrachten erkannte ich einen Hasen.
Mein Magen knurrte vernehmlich. „Hase mit Zwiebeln und wilden Erdbeeren zum Dessert. Komm, setz dich. Es kann nicht mehr lange dauern“, sagte er und klopfte einladend mit der Hand neben sich, auf den Baumstamm auf dem er saß.
„Mmmh, hast du ihn gejagt?“, fragte ich, während mir das Wasser im Mund zusammenlief.
„Nein, ein Gruß von Nikoma“, erklärte Ian.
„Oh, ist er hier?“
„Nein. Hat lediglich Meister Lampe …“, er zeigte auf den Hasen, „… da gelassen.“
Ich ging ganz langsam in die Knie und ließ mich seitlich neben Ian nieder. Konzentriert versuchte ich dabei, meinen malträtierten Hintern so gut wie möglich zu schonen. Ian hob fragend die Augenbrauen.
„Komischer Kerl dieser Nikoma“, versuchte ich abzulenken.
„Ja, das ist er allerdings. Wir lassen ihm einfach etwas übrig. Zumindest vom Hasen. Tut es sehr weh?“
„Nein, nicht so sehr“, antwortete ich eine Spur zu schnell und spielte meine Höllenschmerzen herab.
Es schmeckte göttlich. Wir hatten fast Probleme, etwas für Nikoma übrig zu lassen, so ausgehungert wie wir waren.
„Besser wir halten heute Wache. Ich möchte nur ungern noch einmal so geweckt werden, wie heute Morgen!“, merkte Ian an und strich sich müde durch die langen Haare, die seinen kantigen Gesichtszügen etwas Weiches gaben.
„Oh, ja! Das muss nicht sein. Finde ich auch“, stimmte ich ihm inbrünstig zu.
Nikoma hätte uns im Schlaf umbringen können, noch bevor wir irgendetwas mitbekommen hätten.
„Ja, er ist seltsam, was mir gar nicht gefällt. Und wo ist er bloß?“, brummte Ian und begann mürrisch im Feuer herumzustochern.
„Na gut, er ist seltsam, aber ist das hier nicht alles seltsam? Wenn er uns hätte töten wollen, hätte er doch die beste Chance dazu gehabt!“, entgegnete ich.
„Mag sein“, gab Ian zu und doch hatte ich plötzlich das Gefühl Nikoma verteidigen zu müssen. „Er hätte uns auch dort lassen können als Appetithappen für die Moorguhls. Wer weiß, wann sie uns gefunden hätten!“
„Ja“, wägte Ian ab. „Ja, ich gebe zu, du hast recht. Außerdem haben wir so oder so keine andere Möglichkeit!“
„Nein, wohl nicht“, pflichtete ich ihm bei und sah mich unbehaglich um.
„Ian?“
„Hm?“
„Meinst du, sie sind noch hinter uns her?“, flüsterte ich und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme leicht zitterte.
„Tja, schwer zu sagen. Allerdings, wenn sie uns für so wichtig halten ... ich befürchte, es scheint genügend von ihnen zu geben.“
„Oh ja.“
Vor meinem inneren Auge tauchten die vielen Lichter von Dunvegan Castle auf und ich bildete mir einen Moment lang ein, den Verwesungsgeruch wahrzunehmen. Unwillkürlich schüttelte ich die Bilder ab, als fröstelte ich.
„Frierst du? Komm, setz dich näher ans Feuer.“ Ians Mimik schien zu sagen: Ich könnte dich unter meinen Kilt nehmen und wärmen, oder sonst was! Er räusperte sich leise und ich wagte mich nicht noch näher an seine Seite.
„Schlaf ruhig ein bisschen, Ian. Ich übernehme die erste Wache“, überspielte ich die seltsame Spannung und das Knistern, das plötzlich zwischen uns beiden herrschte.
„Gut. Weck mich, sollte dir etwas komisch vorkommen. Ach, und schlaf bitte nicht ein, das Feuer könnte sonst ausgehen.“
„Selbstverständlich nicht, Mister MacLeod“, antwortete ich schnippisch, was er galant überhörte.
„Ian reicht. Gute Nacht, Mistress Sommersprosse“, neckte er zurück.
Er löste die Brosche und schlug die Stoffbahnen seines Kilts nach hinten, und wickelte sich in diesen und in eine der Pferdedecken ein.
Ich rückte näher ans Feuer, da ich erbärmlich fror, trotz der anderen Pferdedecke. Die Nacht war sternenklar, keine Wolken, nur der dicke Mond, die Sterne, zirpende Grillen, prasselndes Feuer und Ian, der schnarchte wie ein Bär.
Was wohl passiert wäre, wenn wir beide die letzten Gäste der Sommersonnenwendfeier gewesen wären? Hätte ich mich auf Ian eingelassen? Wären wir in seinem Bett gelandet? Aber nein, ich musste ja durch dieses vermaledeite Tor gehen! Mein Blick glitt zu Ians schlafender Gestalt. Was um alles in der Welt hatte ihn nur bewogen, mir zu folgen?
„Einen Penny für deine Gedanken, Mac!“, flüsterte ich zärtlich.
Seine Antwort war ein tiefer Schnarcher, na ja immerhin war es nicht so schlimm wie bei Mrs. Pomfrie. Ich lachte leise vor mich hin und legte neues Holz auf. Schließlich stocherte ich gelangweilt in den Flammen herum und ließ Funken aufsteigen, die mich an kleine Glühwürmchen erinnerten. Mir gegenüber rührte sich jäh ein großer Schatten und mir fiel vor Entsetzen der Stecken ins Feuer. „Himmel!“, zischte ich durch die Zähne.
Mit einem Gefühl, als setze mein Herz aus, sah ich mich dem größten Wolf gegenüber, den ich je gesehen hatte. Völlig bewegungsunfähig konnte ich mich noch nicht einmal zu Ian umdrehen, um ihn zu wecken. Was, wie ich bemerkte, auch nicht vonnöten war, da er mir seine Hände, beruhigend rechts und links auf die Schulter legte. „Na, was haben wir denn da!“, murmelte er verschlafen.
Was für eine blöde Frage, aber aus meinem Mund kam nichts Besseres als ein krächzendes: „Wolf!“
„Ja, ich sehe ihn auch, mo rùn“, bestätigte er und ich bildete mir ein, so etwas wie Bewunderung in seiner Stimme mitschwingen zu hören.
Wie konnte er nur so ruhig bleiben?
„Großer Wolf!“, krächzte ich am Rande der Hysterie. Verflixt. Ich hörte mich völlig bekloppt an. Es fiel Ian jedoch nicht auf.
„Ja, mit Abstand das größte und schönste Exemplar, das mir je unter die Augen gekommen ist!“
Mein Herz befand sich irgendwo, wo es nicht sein sollte und dieser verflixte Schotte bewunderte dieses riesige Tier auch noch.
„Ian, das ist nicht lustig!“, zischte ich entsetzt.
„Sieh nur, wie hungrig er uns ansieht. Himmel diese großen Pfoten und dieses Riesenmaul. Heilige Maria, ich kann nicht hinsehen“, gab ich ängstlich von mir.
Komisch eigentlich, von Wölfen mit grünen Augen hatte ich noch nie etwas gehört.
„Er ist wunderschön.“
„Also Ian, ich möchte nicht als Nachtmahl enden. Du spinnst!“
Er strich mir beruhigend über den Rücken. „Och, ich glaube nicht, dass er uns fressen will! Obwohl du, zugegeben, einen saftigen Braten abgeben ... Aua! Hey.“
So fest ich nur konnte, trat ich Ian gegen sein Schienbein, ohne jedoch dabei den Wolf aus den Augen zu lassen, „Hallo. Erde an MacLeod. Das ist ein Wolf. Kein Schoßhund!“
Ian lachte leise glucksend. „Was du nicht sagst. Vermutlich will er nur den Rest vom Hasen. In Anbetracht der Situation, um dich vor dem Gefressenwerden zu retten und die Pferde ebenso, denke ich, wird Nikoma es mir nachsehen, dass ich seinen Anteil opfere!“, beschied er mit gespieltem Ernst.
Der Wolf schien uns auszulachen, machte sich aber sofort über den Hasen her, den Ian ihm hinüberwarf.
„Leg dich einfach hin und schlaf, mo rùn. Ich behalte unseren vierbeinigen Freund im Auge und zur Not ...“, er hob sein Schwert etwas hoch, „... werde ich uns zu verteidigen wissen!“
Er klopfte einladend neben sich auf die Decke.
„Na los, sei kein Frosch! Du frierst und ich werde nicht über dich herfallen. Du hast mein Wort als Ehrenmann und Schotte.“
Sein Blick schien zu sagen: auch wenn’s mir nicht leicht fällt. Natürlich hatte er recht. Ich benahm mich kindisch. Also, wieso nicht? Mir war schrecklich kalt, ich hatte Angst und zufällig war da ein Bär von einem Mann, wie gemacht als Beschützer. Ehre hin und Ehre her! Ich rutschte vorsichtig zu ihm und mit gebührendem Abstand unter seinen ausgebreiteten Kilt. Tatsächlich strahlte Ian sehr viel Wärme aus. Er hatte mir so Platz gemacht, dass ich hinter ihn schlüpfen konnte und den Wolf nicht mehr ansehen musste. Ich vermied jede Berührung. Letztlich war Ian nur ein Mann, ein Mann, der nur ein Hemd und einen jämmerlichen Zipfel seines Kilts am Leib trug. Eigentlich war das eine Ausrede. Denn wenn ich ehrlich war, bekam ich bei jeder Berührung von ihm regelrecht einen Stromschlag. Ha, schütz ihn lieber vor dir selbst! Besser nichts herausfordern!
„Schlaf jetzt ein bisschen, Kleine. Hinter mir bist du sicher. Schlaf.“
Müde kuschelte ich mich hin, wagte es jedoch nicht, die Augen zu schließen. Als spüre er meine Angst, begann Ian auf Gälisch zu singen. Es hörte sich wie ein Schlaflied an. Seine Stimme war wie Samt, ruhig und tröstend. Der Schlaf übermannte mich und Träume stiegen empor.
Kalte reptilienartige Augen sahen das Kind an, musterten es, nahmen jedes Detail seines kleinen Körpers wahr. Erbarmungslos kam der Moorguhl-Hauptmann mit dem Namen Skurol näher und näher, nahm mit geblähten Nüstern den Geruch des Menschenjungen auf. Das Kind drückte sich zitternd, mit weit aufgerissenen Augen und vor Angst schluchzend, an die zarte, zerbrechliche Gestalt der Lichtelfe. Sie überragte das Menschenkind nur um wenige Zentimeter und doch versuchte sie das Kind mit ihrem Körper zu schützen. Skurols Klauenhand strich dem Menschenjungen die braunen Haarlocken zur Seite. Menschenohren, das war richtig, ja! Seine Zunge schoss hervor und hinterließ eine brennende Spur auf der Haut der Elfe, die gerade noch rechtzeitig verhinderte, dass Skurol über die Wange des Jungen lecken konnte.
„Bah!“, spie er aus.
Elfen schmeckten widerwärtig, Menschen hingegen, mmmh! Ja, wie jeder Moorguhl liebte Skurol Menschenfleisch, aber dieser leckere Menschenjunge war etwas Besonderes. Es stand noch richtig im Saft, jung und unschuldig. Wer weiß, er würde den Meister um den Menschenjungen bitten, wenn dieser fertig mit ihm war. Vorerst musste er diesen Abschaum lebendig anschaffen, wenn ihm sein eigenes Leben lieb war! Er würde seinen Beitrag leisten und die up Devley Brut würde ein für alle Mal ausgelöscht werden. An der Elfe würde er sich anderweitig gütlich tun. Süffisant leckte er sich die Lippen, sodass sie es sah und rieb sich fest im Schritt. Er würde sie genüsslich in Stücke sprengen. Mit trotzigem Ausdruck erwiderte die Elfe seinen Blick. Hinter ihr weinte der Junge.
„Meine Mama hat gesagt, Monster gibt es gar nicht! Ich will zu meiner Mama!“
„Sch, sch. Alles ist gut, Sommersprosse. Sch, sch. Du hast geträumt.“
Schweißgebadet schoss ich aus meinem Albtraum hoch und fand mich in Ians Armen wieder. Er drückte mich, beruhigende Worte flüsternd, an sich.
„Sch, sch, du bist in Sicherheit. Es war nur ein Traum, Isa! Sch, sch“, redete er immer wieder auf mich ein, während er mich im Arm wiegte wie ein kleines Kind.
Nur ein Albtraum, versuchte ich zu realisieren.
„Es war so real, als ob ich dort war“, krächzte ich am ganzen Leib zitternd.
„Du bist hier, hier bei mir und es ist vorbei, mo rùn!“
„Danke, danke Ian. Es geht schon wieder“, flüsterte ich und unterdrückte die Tränen, die kommen wollten.
„Möchtest du ihn mir erzählen, deinen Traum?“, drängte er mich sanft.
Ich schüttelte den Kopf und sah ins Feuer. „Nein“, erwiderte ich schnell, zu schnell.
„Mmh, manchmal wird es besser, wenn man darüber redet.“
Ich legte meine Hand auf Ians Hand und schüttelte nochmals den Kopf. „Es ist schon gut, Ian. Ich hab sie öfter und seit wir hier sind, ist es schlimmer geworden“, gab ich stockend zu.
„Seit der Kleine weg ist, nicht?“
„Mmh, ja. Ich bin deshalb oft ziemlich durch den Wind. Außer Sam habe ich keine Familie und seit nun auch Agnes ... ich hab alles verloren, von heute auf morgen“, flüsterte ich mit tränenschwerer Stimme.
„Und der Vater?“ Ian drückte erneut tröstend meine Hand.
„Es gibt keinen …“, erwiderte ich und meine Stimme brach.
Ian hob die Augenbraue. „Nun, zum Kindermachen gehören doch immer zwei oder ...?“
„Oh, nein! Äh das heißt, ich meine, ja. Es gibt einen Erzeuger, aber der wollte kein Kind und ...“, schloss ich lahm.
„Das war sicher nicht einfach.“
„Nein, es war und ist die Hölle.“
Ich konnte sehen wie sich Ians Gesichtszüge verhärteten und wurde das Gefühl nicht los, dass es besser war, dass er und Paul sich nie begegnen würden. Ein Blick auf Ians zu Fäusten geballten Hände genügte. Nach dieser Offenbahrung von mir würde er Paul zu Brei schlagen. Himmel und das gefällt dir sogar. O Gott, bin ich etwa dabei mich in diesen Schotten zu verlieben?
„Ich schätze, ich muss damit leben“, sagte ich, mutiger als mir zumute war.
„Ja. Das musst du wohl, denn ich lasse nicht zu, dass du Dummheiten machst, Sommersprosse. Aber ich verspreche dir, wir finden deinen Jungen, egal wo er ist.“
Schlagartig wurde mir klar, was ich all die Jahre vermisst hatte. Es war Zuversicht und die fand ich nun hier, hier bei Ian.
„Ja?“, hauchte ich.
„Klar. So sicher wie ich Ian Tormod Robert MacLeod heiße“, sagte er im Brustton der Überzeugung und ich glaubte ihm. Ich glaubte ihm, um seinetwillen und um meinetwillen und weil ich es glauben wollte.
Ohne Träume jeglicher Art schlief ich, bis die Morgendämmerung mich aufweckte. Vom Feuer war nur noch Glut übrig. Ian stand in seinem Hemd da, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, nur mit Hemd bekleidet in der Glut herumzustochern. Der Wolf war samt dem Rest vom Hasen verschwunden, selbst die Knochen waren weg. Nun, schön oder nicht schön, ich war froh, dass er verschwunden war.
Keine raschelnden Blätter, noch sonst ein Geräusch hatten Nikoma angekündigt. Er war einfach von einem Moment zum anderen plötzlich da. Dort, neben der Glut des Feuers blieb er stehen und sah uns an.
„Guten Morgen, Freunde“, er sprach langsam und überdeutlich, jedes Wort betonend und sah vor allem mich unverwandt an.
Als wäre mein Blick auf ihn festgebannt, konnte ich nicht wegsehen. Das war beunruhigend und Ian stellte sich, als ob er es gemerkt hätte, genau zwischen unseren Blickkontakt.
„Guten Morgen, Fremder. Du warst lange weg“, stellte er ruhig fest. Allerdings hatte seine Stimme nun wieder diesen festen, autoritären Klang.
„Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, Nikoma?“
Wir brechen auf. Sie sind zu nah und ihr seid zu interessant für sie. Nikomas Stimme hallte nun wieder, wie gewohnt, in unseren Köpfen.
Ian musste sich gefragt haben, was an uns so interessant war, denn Nikoma sah Ian an und lächelte so widerlich süffisant, wie der Moorguhl aus meinem Albtraum.
Es ist ein Kopfgeld auf euch ausgesetzt, vor allem die rothaarige Wildkatze ist sehr kostbar! Fast als hätte er es vergessen, fügte er beiläufig hinzu: Oh, ihr seid Menschen. Nach dem Verhör werden sie sich an euch gütlich tun, ihr versteht? Sie werden euch fressen. Menschenfleisch ist bei uns kostbar. Er sah Ian fest in die Augen. Kommt, Freunde!
Ian sah mich an, mit ernstem Blick und festgefrorenen Mundwinkeln. Ich erwiderte seinen Blick. Wir verstanden uns ohne Worte. Das Wort ‚Freund‘ hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Doch was für eine Wahl blieb uns schon?