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UNSERE ILLUSION VON DER JUGEND
ОглавлениеDer Jugendwahn stellt eine rückwärtsgewandte Lebenshaltung dar, wobei wir zugunsten der Illusion der Zukunft die Wirklichkeit der Zukunft vermeiden. Wir wollen immer jung bleiben und gleichermaßen möglichst alt werden.
Unser Ideal ist, wie gesagt, die unsterbliche Jugend. Warum allerdings sollte gerade die Jugend ein solcher Sehnsuchtsort in unserer Biografie sein? Vielleicht sind wir alle glücklich, wenn wir jung sind, glücklicher als später im Leben! An diese Hypothese glaube ich nicht. Ich jedenfalls war kein unbekümmerter glücklicher, junger Mann. Wie unsicher ich im Leben gestanden habe! Ich nehme an, dass viele Menschen meine Lebenserfahrung teilen. Die Jugend ist nicht selten von Krisen geprägt, vielleicht sogar eine einzige Krise. Krisen sind Zeiten existenzieller Unsicherheit. Es geht um Sein oder Nicht-Sein. Man weiß nicht recht, wer man ist. Es ist die Zeit, in der man in die ganz eigene Art des Seins hineinwachsen sollte. Man lernt das Leben in sich zuzulassen oder auch nicht. Dieser Prozess ist ohne Schmerz nicht denkbar. Jungsein tut also weh, muss also wehtun.
Die Jugend ist demnach im Besonderen eine Zeit des Entwicklungsschmerzes. Sie tut weh, weil man Erfahrungen machen muss, um dann der zu werden, der man eigentlich ist. Erfahrungen sind Berührungen des vermeintlich Eigenen mit dem sogenannten Anderen. Diese Berührungen können sehr angenehm und schön sein oder aber schmerzhaft und bitter. Dieser Schmerz ist nichts Angenehmes, aber auch nicht schlimm, ganz im Gegenteil. Wir leiden und genießen uns unserer Erfüllung entgegen. Beide Arten von Erfahrungen sind notwendig, um zu reifen. Der reife Mensch ist der entwickelte Mensch. Entwicklung, das kann man sich als auswickeln vorstellen. Bei der Entwicklung wickeln wir uns aus wie ein Weihnachtsgeschenk. Gespannt warten wir, was es eigentlich ist, wer wir eigentlich sind.
In diesen Geburtskanal der Selbstverwirklichung zwingen uns Berührungen. Sie sind die wahren Begegnungen in unserem Leben. Diesem Angebot des Lebens entkommt niemand. Die große Frage ist nur, ob wir dieses Angebot annehmen oder ob wir es ausschlagen. Haben wir überhaupt die Freiheit, uns der Begegnungsangebote des Lebens zu entschlagen? Ja, wir haben offenbar die Freiheit. Jetzt im Nachhinein bedaure ich jede Situation, in der ich mich nicht vom Leben herumbeuteln lassen habe. Meistens war ich dann zu feige. Wenn wir ganz genau hinhören, können wir den Ruf des Lebens hören. Ihm zu folgen zahlt sich immer aus. Wir haben alle eine stille Sehnsucht, nicht unserer Neigung der Lebensvermeidung und stattdessen unserer Berufung zu folgen. Innerlich rufen wir uns meist zu, wir sollten jenes Konzept verwirklichen, das wir uns in der frühen Zeit unseres Lebens zurechtgelegt haben. Wir wollen unbedingt der Pilot unseres Lebens bleiben. So führen wir uns und sind nicht bereit, den Einladungen des Lebens, die Begegnungsangebote sind, zu folgen. Wenn wir diese vermeiden, dann kommt tief in unserem Inneren ein eigenartiges Empfinden auf, eine Art zartes Heimweh, das der Hinweis ist, dass wir eigentlich an uns vorbeileben, wenn wir das Angebot nicht annehmen, dem Ruf nicht folgen. Die Begegnungsangebote des Lebens sind die Berufung, wie ich sie verstehe.
Viele Menschen haben sich dem Reifungsprozess nicht ausgesetzt. Sie sind nach Lebensjahren zwar alt, aber leider nicht reif. Der reife Mensch hat jene Herzoffenheit, die sich auf die Begegnung mit dem Leben und allem, was es zu bieten hat, einlässt. Der reife Mensch lässt einen in der Begegnung aufatmen.