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IN DER BEGEGNUNG WERDEN WIR NEU

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Wenn wir körperlich geboren werden, sind wir noch gar nicht wirklich geboren. Unser Geburtstag ist keinesfalls der Zeitpunkt unserer Geburt, außer natürlich im physischen, im biologischen Sinn. Die existenzielle Geburt des Menschen, von der ich hier sprechen möchte, ist ein Prozess, der sich langsam vollzieht. Dieser Geburtsprozess kann sich bis zum Tod im hohen Alter vollziehen, wenn einem viele Lebensjahre beschieden sind.

Es kann aber auch sein, dass dieser Geburtsprozess in jungen Jahren mehr oder minder endet. Das was dann folgt, bis man endlich physisch stirbt, kann man das Alter nennen. Das heißt, man kann schon jung sehr alt sein, wenn man sich dem Alter als Illusion hingibt, oder aber nie alt werden, bis man stirbt, wenn man sich das ganze Leben lang dem Geburtsprozess verpflichtet fühlt. Für den einen als auch für den anderen bleibt das Alter eine Illusion. Beim einen löst sie sich ein, beim anderen eben nicht.

Ich selbst erlebe mein Leben als mehr oder minder kontinuierlichen Aufwachprozess. Wenn ich auf meine Kindheit und Jugend zurückschaue, dann kommen sie mir wie eine Trance vor, aus der ich mich langsam entwickelte. Ein Prozess, den man bildlich gesprochen als eine Entwicklung, besser vielleicht als Auswickelung verstehen könnte. Dieser Entwicklungsprozess sollte sich – das wäre schön – bis zu jenem Moment fortsetzen, an dem ich die Leihgabe meines Lebens wieder zurückgebe. Verwunderlich / Die Sonne sinkt / Und es wird immer heller / In mir. – So habe ich es einmal in einem meiner Gedichte in Worte gefasst.

Doch gehen wir Schritt für Schritt vor. Wir wissen heute, dass schon jene Beziehungserfahrungen, die im Mutterleib passieren, lebensbestimmend sind. Es gibt eine Redensart, die sagt, dass man ein Kind unter dem Herzen trägt. Oder eine andere, die davon spricht, dass man ein Kind im Schoß trägt.

In der westlichen Kultur wird das Herz als Wesenszentrum des Menschen angesehen. Das gilt im metaphorischen Sinn, denn wir wissen längst, dass das Gehirn gleichsam die Schaltzentrale des Menschen ist. Es ist der Ort, an dem wir unsere Sinneseindrücke verarbeiten und uns durch die Gedanken, Gefühle und unsere Intuition in der Welt orientieren. Unser Sein entsteht im Wesentlichen im Gehirn, nicht im Herzen. Aber das Herz ist quasi ein Feedbackorgan; es ist zusätzlich die Quelle unserer Lebenskraft, geht doch der Blutfluss kontinuierlich von dort durch alle Regionen unseres Leibes bis in die letzten Winkel und durchdringt uns mit der Möglichkeit zu sein.

In der ostasiatischen Kultur ist der Schoß jenes Zentrum, das im Westen eben das Herz ist. ›Hara‹ wird es genannt und ist der Schoß des ›Chi‹, der Grundenergie, durch die alles, was ist, sein kann. Aus diesem Kern der Existenz werden wir dieser Philosophie nach energetisch versorgt.

Hinter diesen beiden Vorstellungen verbirgt sich unter anderem das Wissen um die frühe Kommunikation des Kindes mit der Welt, die in diesem Fall die Mutter ist. Sie trägt das Kind unter ihrem Herzen in ihrem Schoß. Das ist das Besondere am Muttersein: Dass man für eine Zeit einem anderen Menschen die ganze Welt sein kann. Der Austausch mit der Welt vervielfältigt sich natürlich nach der Geburt. Andere Menschen, Tiere, Pflanzen, Wind und Wetter, alle Welten kommen uns entgegen und stellen quasi Kommunikationsoberflächen, Vernetzungsflächen dar. Letztlich ist die ganze Welt eine Einladung zur Berührung, wenn wir uns berühren lassen.

Mit der Zeit entsteht in jedem Einzelnen eine Idee, was die Welt bedeuten könnte. Wir bekommen einen Eindruck von der Welt. Neue Eindrücke wiederum verändern diese Idee. Die Welt ist »work in progress«. Gleichermaßen entwickelt sich unbewusst eine Vorstellung von uns selbst.

Die feinfühlige, heilsame Begegnung ist die eigentliche Geburt des Menschen.

Hier wie dort spielen Spiegelungen eine große Rolle bei der Entwicklung dieser Vorstellungen. Wir werden von anderen Menschen im positiven Sinne gespiegelt, indem sie uns spürbar mit ihrem Mitgefühl begegnen. Das ermöglicht uns, die Welt und uns selbst zu erfahren. Dieserart feinfühlige, heilsame Begegnung ist die eigentliche Geburt des Menschen. Und so bleibt es das ganze Leben lang.

Der Spiegelungsprozess ist natürlich anfällig. Nicht alle Menschen, die uns begegnen, sind imstande uns selbstlos Resonanz zu bieten. Die selbstlose Resonanz ist das, was wir wirklich brauchen, um die zu werden, die wir sind. Aber leider sehen wir manchmal in lieblose und daher leere Augen von mit sich selbst beschäftigten Personen und glauben als Kind aufgrund dessen, dass wir nicht sind. Wir werden nämlich im Großen und Ganzen das, was wir erleben. Wenn das Gegenüber nichts sieht, wenn es in unsere Richtung schaut, dann nehmen wir das persönlich und gehen von unserer mangelnden Existenz aus. Wenn wir übersehen werden, entsteht eine tiefe Angst vor dem Nicht-Sein, vor der Nicht-Existenz. Es ist nämlich nicht selbstverständlich, dass wir unsere eigene Existenzberechtigung anerkennen. So ergibt sich die existenzielle Frage: Bin ich oder bin ich nicht? Immanent schwingt sie bei allen Menschen mit. Diese Frage ist wohl der Unterton jeder menschlichen Existenz, auch meiner eigenen.

Die Frage, ob ich bin oder nicht, mutet auf den ersten Blick eigenartig an. Denn die meisten von uns glauben ja, das sei selbstverständlich, dass sie existieren. Wenn man aber Menschen in Ruhe betrachtet, dann kommt man darauf, dass viele sehr darum kämpfen, irgendwie ihr eigenes Sein zu legitimieren, als ob das notwendig wäre. Sie kämpfen und rennen im Leben, als ob es um Leben oder Tod ginge, obwohl sie das Geschenk des Lebens jeden Tag freudvoll in ihren Händen halten könnten. Sie versuchen sich wichtig zu machen, obwohl sie es schon sind, sie versuchen sich abzusichern, wo sie bereits sicher sind, sie versuchen sich Möglichkeiten zu kreieren, wo sie bereits alle Möglichkeiten haben. Die existenzielle Gier, aus Ängsten genährt, die hier gemeint ist, ist ein unzweifelhafter Hinweis auf die existenzielle Unsicherheit in uns: der Angst vor der Nicht-Existenz.

Ähnliches gilt, wenn Menschen nicht das spiegeln, was sie vom anderen wahrnehmen, sondern ihn mit eigenen Gefühlszuständen manipulieren. Das kann man sich folgendermaßen vorstellen: Ein Kind weint, weil es vor etwas Angst hat. Der Vater hat aber – diesem Beispiel zufolge – Angst vor den eigenen Gefühlen und reagiert deshalb nicht einfühlsam, sondern vielmehr abweisend, verärgert und aggressiv. In einem solchen Fall lernt das Kind, dass der innere Zustand, der eigentlich Angst ist, als Aggression zu deuten ist. Leider führt eine solche »Fehlspiegelung« zu einem systematischen Übersetzungsfehler innerer Zustände bei den Betroffenen.

Ich hatte früher einmal eine Partnerin, die ich zeitweise als sehr dominant erlebt habe. Sie setzte ihren Willen mit einer ungewöhnlichen Vehemenz durch, zumindest versuchte sie es. Das machte mich mit der Zeit resignativ und schüchterte mich ein.

Erst nach der Trennung wurde mir klar, dass sie eigentlich nur aus Verlustangst handelte. Sie hatte Angst, die Kontrolle zu verlieren, um ja nicht verlassen zu werden. Leider erlebte sie diese Angst als Aggression und Ärger. Damit kommunizierte sie etwas ganz anderes nach außen als das, worum es ihr in Wirklichkeit ging. Doch wir waren beide nicht in der Lage diese Krux zu durchschauen. Das ist wohl im Alltag fast aller Menschen in irgendeiner Weise zu erleben. Was man aus dieser Geschichte lernen kann ist, wie sich eine eingeschränkte Beziehungsfähigkeit ausdrücken kann. Beziehungsunfähigkeiten treten auf, wenn man als junger Mensch die eigenen inneren Zustände falsch zu übersetzen gelernt hat.

In meiner Praxis als Psychotherapeut begegne ich oft der zerstörerischen Macht dieser emotionalen Übersetzungsfehler für die zwischenmenschliche Kommunikation mit entsprechend katastrophalen Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen. Ich sehe in solchen Fällen, dass Trauer als Angst, und Angst als Aggression missverstanden wird. Es ist allerdings klar, dass man nicht erwarten kann, in Beziehungen verstanden zu werden, wenn man sich nicht selbst versteht. Augenfällig ist, dass gerade Menschen, die sich selbst nicht verstehen, es anderen übel nehmen, wenn sie sich von ihnen unverstanden fühlen. Nicht verstanden zu werden erzeugt existenzielle Nöte wie Einsamkeit und Orientierungslosigkeit.

Allerdings besteht natürlich immer die Chance, solche Defizite im Leben zu tilgen. Man muss nur, und das ist sicherlich leichter gesagt als getan, die heilsamen Begegnungen im Leben ernst nehmen.

Die wahre, nämlich die existenzielle Geburt des Menschen ist, um es noch mal zusammenzufassen, ein Resultat von Begegnung. Begegnung kann nur in unmittelbarer Nähe stattfinden. Das Wort für die unmittelbare fruchtbare Nähe ist Intimität. Wir müssen den anderen in unsere Nähe lassen, damit wir stets »neu« geboren werden können. Begegnung ist das, was uns Leben spendet. Daher ist es das Wertvollste in unserem Leben.

Die Nähe ist allerdings auch der Ort der Verletzungen, ja der Ort der Vernichtung. Wie wir in der Nähe geboren werden, so sterben wir durch sie. Der Samurai muss uns nahekommen, um uns zu köpfen, wie auch der barmherzige Samariter vom Pferd steigen muss, um uns in der Zuwendung heil werden zu lassen. In der Nähe wird Lebendigkeit gestiftet. In der Nähe wird auch Unlebendigkeit erzeugt.

Das Werden ist ein Signum des Jungseins und das Fertigsein eines des Alters.

Ob es möglich ist, sich zu verändern oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, ob man angesichts der Verletzungen und Enttäuschungen, die man erlebt hat, der Welt noch eine Chance auf wahre Nähe geben kann. Verletzungen und Enttäuschungen sind unvermeidlich im Leben. Aber solange sich ein Mensch offen und bereit für die eigene Heilung hält, solange hat das Alter noch nicht eingesetzt, und er bleibt jung, so alt er auch sein mag. Heilung bedeutet heil werden. Heil werden heißt ganz werden – vielleicht auch vollkommen, auf eine ganz persönliche Art.

So ist das Werden ein Signum des Jungseins und das Fertigsein eines des Alters. Wenn wir durch die heilsame Begegnung immer wieder neu geboren werden, bleiben wir jung. Interessanterweise beschließen Menschen, dass sie fertig sind. Wenn man mit ihnen spricht, dann äußern sie Meinungen. Sie lassen sich nicht mehr auf die Welt ein und leben starr ein Leben, das darauf abzielt, das eigene Weltbild zu bestätigen.

Der Zeitpunkt des Beginns des Alters ist also gleichzeitig der Zeitpunkt des Endes des Unwissens. Es ist der Zeitpunkt, an dem ein Mensch zu sich selbst sagt, dass er sich und die Welt kennt. Die Annahme, sich zu kennen und sich in der Welt auszukennen, ist deshalb so absurd, weil man dabei ja von einer Unveränderbarkeit seiner selbst und der Welt ausgehen müsste. Stetige Wandlung dagegen widersteht dem Alter und ist mit dem Alter nicht unter einen Hut zu bringen.

Das Alter beginnt, wenn wir aufhören aus den Begegnungen geboren zu werden. Unlängst sprach ich mit einer Kollegin, einer hochbegabten Ärztin und Wissenschaftlerin, dass ich mich gerade mit der Illusion des Alters beschäftige. »Ja«, sagte sie, »ich habe auch Probleme mit dem Alter. Das Thema ist etwas für mich!« Ich kenne sie als ungeheuer fleißige Frau, die auf ihrem Gebiet auch sehr erfolgreich und angesehen ist. Der sogenannte Ruhestand, den sie in Kürze antritt, bedroht sie. Das kann man gut verstehen.

Aber, so stellt sich die Frage, kann es wirklich darum gehen, immer das Gleiche zu machen, um ja nicht verstehen zu müssen, dass wir gar nicht mehr die Offenheit haben, der Welt zu begegnen? Mit anderen Worten: Ich bin sicher, sie wird – vom Leben sozusagen – auch im Ruhestand Begegnungsangebote bekommen. Aber vermutlich werden es nicht gerade die sein, die sie sich jetzt in ihrer Panik vor dem Ruhestand wünscht und erwartet. Das weitere Gespräch mit ihr hat in mir jedoch die Zuversicht geweckt, dass sie sich dem auch stellen können wird. Es ist ihr zu wünschen. Man ist leider schon alt, wenn man sich vor dem Alter fürchtet.

Sokrates oder auch der italienische Schriftsteller Terzani sprechen sogar angesichts des ihnen sicheren Todes von der Neugier, ja von der Vorfreude auf das, was ihnen da begegnen werde. Sie sind exemplarisch für jene weisen Menschen, die sich sogar in den eigenen Tod hineingebären.

Eigentlich ist das Leben aus, wenn man alt ist. Aber man muss nicht alt sein. Niemand zwingt einen dazu. Schon gar nicht die Natur. Man kann mit 100 Jahren sterben und dem Tod mit Interesse entgegensehen. Dann stirbt man mit 100 und ist nicht alt und kann wie Sokrates und so viele nach ihm sinngemäß fragen: »Was passiert jetzt? Das interessiert mich sehr!« Der Tod ist für diese Menschen ein Teil des Lebens und in letzter Konsequenz eine (Neu-)Geburt.

Alter ist eine Illusion

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