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WIR LEBEN IN EINER URALTEN WELT

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Ist es nicht so, dass die Welt, in der wir leben, sich modern, hip, und jung gibt und doch dem Wesen nach uralt erscheint? Es ist wirklich eigenartig, dass in meiner Jugend jedes Jahr einige unsterbliche Popsongs komponiert wurden und mittlerweile eigentlich nur noch Remakes von Remakes produziert werden. Warum ist das so? Gleichermaßen gibt es in der medizinischen Wissenschaft so viel Forschungsoutput wie noch nie. Aber in gewissen Fächern gibt es kaum Fortschritt zumindest verhältnismäßig gesehen. Warum ist das so?

In Mitteleuropa findet man Parteien des gesamten politischen Spektrums. Manche sind links, manche rechts, was immer links und rechts heißt. Dann gibt es liberale und Mitte-Politiker. Dabei funktioniert das politische System nur pseudoideologisch. Die Parteien machen Umfragen und positionieren sich entsprechend den Nischen, die von den anderen noch nicht besetzt sind. Man möchte nicht riskieren, für etwas zu sein, zu dem man die Wähler erst überzeugen muss, sondern ist gleich für das, was diese vorgeben. Man nennt diese Haltung Populismus.

Leider entsteht dadurch immer das Gleiche, Neues hat keinen Platz. Dasselbe gilt für Songwriter. Sie analysieren die Art und Weise, wie Hits aufgebaut sind, machen es genauso und schreiben daher keinen mehr. Schriftsteller lernen in Workshops, so zu schreiben, dass der Erfolg möglichst sicher ist. Was bei all dem nicht gelernt werden kann, ist Originalität.

Alle Bereiche sind einem alten Freundeskreis vergleichbar, der sich jeden Samstag zum Stammtisch trifft. Es wird das Gleiche gegessen und getrunken, über das Gleiche gesprochen und über die immer gleichen Witze gelacht, sodass ein Vergleich mit einem religiösen Ritual nicht weit hergeholt ist.

Die Möglichkeiten der digitalen Datenverarbeitung laden zu einer Analyse dessen ein, was bisher erfolgreich war. Nichts muss riskiert werden. Wenn man von bewährten Erfolgsrezepten ausgeht, kann man sich des Gelingens des »Kuchens« sicher sein. Allerdings werden die immer gleichen Kuchen gebacken, in minimalen Variationen. Dadurch entsteht Bewährtes. Es ist ein sehr konservatives Prinzip, das die Gewinnoptimierung im Auge hat und Neues vermeidet. Auf diese Weise funktionalisiert die Digitalisierung unsere Welt. Das lässt sie alt aussehen.

Auch die immense experimentelle Standardisierung des Wissenschaftsbetriebes führt zu einem Mangel an Kreativität. Immer mehr Wissenschaft untersucht immer genauer das stets Gleiche. Mittlerweile sind die formalen Ansprüche an wissenschaftliche Arbeiten so groß, dass man sich mit Aussicht auf Anerkennung und Erfolg nur noch an Themen heranwagen kann, die diesen Ansprüchen überhaupt Genüge tun können. Damit wird nur jener Teil der Wirklichkeit erforscht, der den Forschungskriterien entsprechen kann. Die Folge ist eine Reduktion des kreativen Raumes in der Forschung, obwohl so viel wie noch nie – sowohl personell als auch ökonomisch – in diesen Bereich investiert wird. Drastisch ist das in der Wissenschaft im Bereich meines Berufes, der Psychiatrie, zu beobachten. In ihr gibt es seit etwa zwanzig Jahren auf diese Weise praktisch kaum für den klinischen Alltag relevante neue Erkenntnisse. Die Psychiatrie ist durch die Funktionalisierung ihrer Forschung alt geworden. Es ist die Vergreisung des Faches Psychiatrie, aber nicht nur von ihr.

Das Prinzip der Funktionalisierung zielt nicht auf das Kreative, auf das Neue, sondern auf das Gängige. Es wird immer nur das, was es gibt, reproduziert. Leider kann man auf diese Weise keine neuen Erfahrungen machen. Neue Erfahrungen sind an die Notwendigkeit gebunden, der Welt offen und wissbegierig zu begegnen. Das gleiche Prinzip zeichnet fundamentalistische Religionen aus. Der Fundamentalismus bezieht sich darauf, dass es so sein muss, wie es immer schon gewesen ist, und dass es so schon von jeher gemeint war. Der Fundamentalismus ist eine durch und durch alte Eigenschaft.

Ohne den frischen Wind der Freiheit um die Nase fühlen wir uns unglücklich.

Eine dermaßen funktionalisierte Welt hat einiges an Zauberhaftigkeit verloren. Die Digitalisierung macht es möglich, dass wir vermeintlich alles kontrollieren und steuern können. Kontrolle und Steuerung sind außer Rand und Band geraten. Warum sind Kontrolle und Steuerung Phänomene, die einen im Moment, auf der Stelle alt werden lassen? Natürlich müssen wir unser Leben irgendwie unter Kontrolle haben, sonst sind wir unglücklich. Aber wenn wir uns selbst kontrollieren oder von anderen in einer Totalität kontrolliert werden, dann verlieren wir Lebensfreude und Vitalität. Man könnte sagen: Ohne den frischen Wind der Freiheit um die Nase fühlen wir uns unglücklich.

Wir Menschen halten es eben nicht aus, von uns selbst oder von anderen zum Objekt gemacht zu werden. Das ist deshalb unerträglich, weil wir dabei in unseren grundlegenden Bedürfnissen nach Bindung und Selbstwirksamkeit frustriert werden. Stellen wir uns einen Menschen vor, der sich in einer Firma durch Daten, Zahlen und Fakten vollkommen gesteuert und kontrolliert erlebt. Er hat in solch einem Fall nicht mehr das Gefühl, durch persönliche Beziehungen Sicherheit zu bekommen. Er erlebt sich anonymen Mächten ausgeliefert und kann nicht einmal die Illusion aufrechterhalten, Einfluss auf sich selbst oder seine Lebenswelt zu haben. Daher sind sein Bindungsbedürfnis und sein Selbstwirksamkeitsbedürfnis frustriert. Das erzeugt immenses Unbehagen!

Nicht wenige Unternehmen funktionieren nach den Prinzipien einer (digitalisierten) Steuerung. Was entsteht, ist eine eigenartige Mischung aus Lähmung und Agitation, die keine Kreativität aufweist. Manager kommen dann zuweilen auf die Idee, man müsse die Agilität in Unternehmen fördern. Die Idee ist verständlich, jedoch absurd, ist doch der charakteristische, als respektlos erlebte Unternehmensstil fundamental schuld an der Lähmung. Es liegt in diesem Fall keinesfalls an den Mitarbeitern. Eine solche Idee beruht auf einem Missverstehen der Situation.

Ein ähnliches Unbehagen wird erzeugt, wenn wir uns selbst total steuern wollen. Wie viele Menschen das versuchen! Sie haben Pläne, die sie projektmäßig abarbeiten. Sie haben Ziele, deren Erreichung sie penibel evaluieren. Sie haben in ihrem Leben einen Businessplan. Und sie fühlen sich alt, sehr alt an. Ziele sind notwendig, aber wir dürfen nicht Opfer unserer Ziele werden. Es ist grundsätzlich nicht einfach, mit der Dialektik im Umgang mit Zielen zurechtzukommen.

Der Glaube, dass Selbstverwirklichung bedeutet, in seinem Leben alles leben können zu müssen, und zwar zu jeder Zeit, ist zum Beispiel so ein Ziel, bei dem man nicht nur sich selbst, sondern auch sein Umfeld funktionalisiert. Wie oft sitzen wir zum Beispiel in Partnerschaften dem Irrtum auf, dass uns der andere alles sein muss, für sexuelle und geistige Nähe zuständig ist und am besten alles optimal befriedigt. Was dadurch geschieht, ist, dass wir unser Gegenüber zum Objekt machen. Doch Partnerschaften sind keine Jobs, Partnerschaften sind Berufungen. Ob sie gelingen oder nicht, hängt einzig und allein davon ab, ob wir Möglichkeiten finden, dem anderen zu begegnen – wie auch immer.

Davon hängt es nämlich ab, ob die Beziehung lebt oder nicht, und nicht davon, ob die eigenen Bedürfnisse in ihrer Ganzheit befriedigt werden. Affären oder letztendlich Beziehungsabbrüche sind oft die kalte Konsequenz in funktionalisierten Beziehungen, in denen es nicht um die Wärme der Begegnung geht.

Wenn wir andere zum Objekt machen oder wir selbst zu Objekten gemacht werden, von uns oder anderen, erstarren wir und die Welt um uns herum ebenso. Wir sind wie Marionetten, vielleicht hübsch anzusehen, aber in Wahrheit lassen wir jede Form eigener Lebendigkeit vermissen. So kann Alter – nüchtern betrachtet – in jedem Lebensalter keine Illusion sein, sondern vielmehr scheinbar unumgehbare Wirklichkeit. Das gilt für gesellschaftliche wie auch für persönliche Aspekte. Wir erzeugen das Alter, das wir so sehr fürchten, indem wir Sicherheit in unserem Leben haben wollen und die Welt so auslegen, wie wir sie immer schon ausgelegt haben.

Ich habe einmal ein Seminar besucht, in dem uns ein Unternehmensberater aufforderte, eine Lebenskurve zu zeichnen. Auf der Abszisse, also auf der waagrechten Linie waren die Lebensjahre eingezeichnet und auf der Ordinate, der senkrechten Linie, waren oben die besten Zeiten und unten die schlechtesten Zeiten einzutragen. So entstand eine Linie, die etwa so aussehen konnte: Die Lebenslinie war am Anfang oben, wenn ihr Zeichner die Idee einer glücklichen frühen Kindheit hatte, sie sackte dann plötzlich durch ein Lebensereignis wie die Scheidung der Eltern mit allen ihren Auswirkungen ab. In der Folge mäanderte die Linie quasi durch das Leben. Die meiste Zeit befand sie sich bei allen irgendwo im Mittelbereich.

Diesen Mittelbereich kann man als Komfortzone bezeichnen, während die Extrembereiche jene sind, in denen wir vom Leben gebeutelt sind: Im positiven und im negativen Sinn. Wenn wir etwa verliebt sind, sind wir ganz oben, wenn wir Liebeskummer haben, ganz unten. Man könnte auch sagen: Wenn wir glücklich oder unglücklich sind, befinden wir uns in den Extrembereichen.

Das Gemeinsame der zwei Extrembereiche ist, dass wir das Leben nicht im Griff haben, wenn wir uns in ihnen »aufhalten«. Es fehlt uns die Kontrolle über unser eigenes Leben. Dagegen können wir in der Komfortzone die Idee aufrechterhalten, Frau oder Herr unseres eigenen Lebens zu sein.

Wenn der Mensch sein Leben nicht im Griff hat, ist er lebendig.

Nun gibt es kaum einen Roman, kein Theaterstück, schon gar keine Oper, die sich mit der Komfortzone des Lebens auseinandersetzt. Wir sehnen uns danach, an den Lebensentwürfen der Extrembereiche teilzuhaben. Warum? Weil wir nie so lebendig sind wie in ihnen. Wenn der Mensch sein Leben nicht im Griff hat, ist er lebendig. Kein Kind, kein Jugendlicher glaubt im tiefsten Herzen, und das ist der wahre Kern ihres Jungseins, dass sie ihr Leben im Griff haben könnten. Das Leben ist für sie ein großes Abenteuer. So wie das Leben eben wirklich ist. Die Illusion der Selbstkontrolle, die man später – nach dem frühen Lebensalter – aus Sicherheitsgründen anstrebt, formt sich als Leben in der Komfortzone aus. So ein Leben ist eines mit eingeschränkter Lebendigkeit.

Nichtsdestotrotz kann sich niemand immer in den Extremzonen des Lebens aufhalten. Genau genommen kann man das Leben in den Extremzonen auch gar nicht wollen, es nur annehmen, wenn es passiert. Aber man kann auch jenseits der Extremzonen offen bleiben, und um Gottes willen nicht annehmen, man hätte sein eigenes Leben im Griff.

Dabei ist es trotzdem keine schlechte Idee, zu planen und sich im Leben Ziele zu setzen. Doch man sollte seine eigenen Ziele in entspannter Leidenschaftlichkeit verfolgen. Alles andere kostet Lebendigkeit. Schreiben wir einen Roman des eigenen Lebens, den man selbst gerne liest. Das nennt man Lebenskunst. Ein Werk ist dann künstlerisch, wenn es etwas Überraschendes für den Rezipienten in sich birgt.

Die Welt, unsere Gesellschaft, ist leider alt, denn sie ist durchgeplant bis ins Letzte. Nichts charakterisiert sie mehr als das Durchgeplantsein. Nicht von Ungefähr ist in letzter Zeit der Begriff der Resonanz erstaunlich modern geworden. Sie ist als Heilmittel gegen ein lebensfeindliches Umfeld entdeckt worden, das sich stolz und absurd als »moderne Lebenswelt« bezeichnet. Es ist, als ob die Welt nach dem, was Resonanz umschreibt, gelechzt hätte. Dieser Begriff hat sehr viel mit dem zu tun, was wir vorher als Begegnungskompetenz beschrieben haben. Er beschreibt ein Mitschwingen mit dem anderen und der Welt und dafür muss man sich berühren lassen.

Jeder muss sich fragen: Fühle ich mich in meinen Beziehungen beantwortet?

Ich glaube nicht, dass wir aus der Nummer der Überfunktionalisierung in einer Welt des sogenannten digitalen Fortschritts entkommen können. Außer wir verstehen, dass das Thema der Resonanz, nämlich dass wir uns beantwortet fühlen und selbst Antwort sein können in der Welt, aktiv immer wichtiger genommen wird. Die Frage, der sich jeder selbst stellen muss, ist: Fühle ich mich in meinen Beziehungen beantwortet, fühle ich mich zu Antworten eingeladen? Die resonante Lebensweise gewährleistet auch in unserer Welt, auch in einer zukünftigen, möglicherweise durch artifizielle Intelligenz geprägten Welt jene innere Lebendigkeit, die wir brauchen, um nicht alt und in Wahrheit sogar tot zu sein.

Alter ist eine Illusion

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