Читать книгу Alter ist eine Illusion - Prof. Dr. Michael Lehofer - Страница 6
EINLEITUNG
ОглавлениеDas Alter ist ein Lebensabschnitt, den zu erreichen sich die meisten von uns erhoffen. Ein langes Leben – in fast allen Sprachen dieser Welt wünscht man so »Alles Gute zum Geburtstag«. Mit jedem Jahr, in Wirklichkeit sogar mit jedem Tag, wird unser Wunsch quasi auf leisen Sohlen mehr und mehr Realität. Altern geschieht, wenn nichts dazwischenkommt, von ganz allein. Ein Grund zur Freude, sollte man meinen. Immerhin erfüllt sich ein sehnlicher Wunsch.
Gleichermaßen haftet dem Alter jedoch ein Makel an. Das ist seit eh und je so und kein Phänomen der jüngeren Zeit. Die Suche nach dem Quell ewiger Jugend und ewiger Schönheit geht bis in die Antike zurück und damit einhergehend der Wunsch, den Nachteilen, die mit dem Älterwerden verbunden sind, zu entkommen. Es gibt schon immer einiges zu klagen über das Alter. Der Körper verfällt, das Leben wird beschwerlich. In unserem Kulturkreis ist das Alter außerdem zunehmend mit gesellschaftlicher Ausgrenzung verbunden.
Die Behauptung ist sicherlich nicht übertrieben, dass das Alter, mit solchen Vorstellungen verknüpft, zum verdrängungswürdigsten Lebensabschnitt schlechthin geworden ist. Die menschliche Gesellschaft war vermutlich zu keiner Zeit so gut aufgestellt wie heute, um diese Verdrängung zu gewährleisten. Man joggt bis zum Umfallen dagegen an, man cremt und kaut Nahrungsergänzungs- und Schmerzmittel, man lässt sich straffen, absaugen und an anderen Stellen wieder aufspritzen. Indem man das tut, hat man das Gefühl, dem Alter entkommen zu können. Man beschäftigt sich scheinbar mit der ewigen Jugend statt mit dem Alter, das einem so viel Furcht einflößt. Und wenn das Alter trotz allem unvermeidlich über einen kommt, flieht man nicht selten in den Rückzug, in die Verbitterung, in die Resignation, in die Depression.
In einer Gesellschaft, in der die Menschen durch medizinische und hygienische Standards maximal alt werden und dennoch die Jugend derart verherrlicht wird, in einer Kultur, in der das Alter nichts gilt, außer eine Belastung zu sein, ist die Frage zentral, was es eigentlich ist, dass das Alter wirklich ausmacht. Es ist möglich, die Perspektive zu wechseln.
Vorerst ist Alter nur ein Wort. Und es ist eine Markierung, die in verschiedenen Zeiten in den unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen an anderen Punkten in der Lebenskurve eingezeichnet wurde. Außerdem hat dieser Lebensabschnitt einen entsprechend unterschiedlichen Status.
Dieses Buch geht der Frage nach, wie real das Alter eigentlich ist. Ist uns allen das Alter nicht eher eine Illusion, eine Vorstellung, die sich aus Zuschreibungen ergibt? Einerseits aus Zuschreibungen der Umgebung, die uns als alt apostrophieren; andererseits von Ideen, die wir von uns selbst haben, aufgrund eigener innerer Schemata und Konzepte von Alt und Jung. Wir sind voll von Bildern und Annahmen, die Maßstäbe setzen und sich in unserem Kopf zu scheinbar unüberwindbaren Grenzen aufgebaut haben. Innerlich haben wir vermutlich alle eine Checkliste, was alt und was jung ist. In der Jugend erleben wir erstaunlicherweise Menschen als alt, die wir später im Leben vermutlich durchaus noch als jung einschätzen würden. Vielleicht, sogar sehr wahrscheinlich, gehen wir in der Einschätzung immer von unserem Standpunkt aus: Je älter wir sind, desto jünger erscheinen uns ältere Menschen, während wir sie in unserer Jugend als älter klassifizieren.
Ich fand also, dass es interessant sein kann, darüber zu reflektieren und dem nachzuspüren, wie real das Alter, auch mein eigenes Alter wirklich ist.
Dabei gehe ich selbstverständlich nicht davon aus, dass es so etwas wie das Altern nicht gibt, das wäre absurd. Ganz im Gegenteil: Ich akzeptiere natürlich sehr wohl jene Veränderungen, die das Leben im Laufe der Jahre hinterlässt, und bemerke die unvermeidbaren Veränderungen selbstverständlich auch an mir selbst. Gerade ich als Arzt weiß überdies sehr wohl, wie mühsam und leidvoll das Leben im hohen Alter für manche Menschen sein kann. Nichtsdestotrotz muss festgestellt werden, dass das Alter keine Krankheit ist, wie auch die Jugend nicht mit Gesundheit gleichzusetzen ist. Alter ist nicht schlecht und Jugend ist nicht gut. Ich meine, dass sich Alter und Jugend allen Bewertungen entziehen, wenn man näher hinschaut.
Dabei ist ein Unterschied sehr maßgeblich: Altern ist keine Illusion. Das Alter, wie wir es uns vorstellen, ist immer eine Illusion. Es ist immer anders, als wir es erwartet haben, außer wir ermöglichen der Vorstellung, Wirklichkeit zu werden. Vorstellungen drängen die Wahrnehmung in ihre Richtung, sie sind manipulativ und suggestiv. Daher sind Vorstellungen des Alters etwas, was uns alt macht. Mehr noch, die imperativen Altersvorstellungen in uns, die unser Bild davon in eine ganz bestimmte Richtung zwingen, sind ein Zeichen des Alters, wie es kein anderes gibt. Junge Menschen lassen sich – im Gegensatz dazu – ihre Lebenserfahrungen doch nicht nehmen, indem sie ihren aufdringlichen Vorstellungen folgen.
Wenn ich es aus meiner eigenen Erfahrungswelt beurteile, ist kaum etwas so, wie ich es von vornherein eingeschätzt habe. Es ist kaum etwas so wie gedacht, außer ich bestehe darauf. Auf bestimmten Erfahrungen zu bestehen bedeutet, die Wahrnehmungen so hinzubiegen, wie man sie erwartet hat und wie man sie braucht. Wer von uns hätte nicht die Erfahrung gemacht, dass der Urlaub sich anders entwickelt hat als gedacht. Und manchmal, in Wahrheit gar nicht so selten, erweist sich gerade das Anderssein als besonderer Gewinn. Viele aber bestehen darauf, dass der Urlaub so gewesen sein muss, wie sie ihn vorher geplant haben. Ist es nicht so?
In Bezug auf den Körper fällt auf, dass überraschenderweise weniger die unvermeidlichen physiologischen Veränderungen des Alters für die Befindlichkeit eines Menschen eine Rolle spielen als der Umgang mit ihnen. Kurz gesagt, es hängt nicht so sehr an der Anzahl von Jahren, es hängt an uns selbst, ob wir am Lebensalter leiden oder ob wir ihm kaum Bedeutung beimessen. Manche Menschen nehmen die Zeichen des Alterns an ihrem Körper persönlich. Andere wiederum nehmen diese so, wie man das Wetter nehmen könnte: Es gibt kein schlechtes Wetter, außer man besteht auf richtig oder falsch. Es ist nicht unbedingt schrecklich, wenn sich unsere Welt verändert, wie auch immer. Wir könnten unser Leben nehmen, wie es kommt, ohne Wenn und Aber. Das würde uns von einer Sorge befreien, die sinnlos ist: die Sorge vor dem Alter.
Worum es immer geht – darüber wird im Nachfolgenden noch viel zu lesen sein –, ist, ob wir den Begegnungserfahrungen in unserem Leben eine Chance geben. Und im Folgenden wird klar werden, dass das Altwerden sogar eine Chance in sich bergen kann, frei zu werden. Die Entwicklung des Menschen kann nur als eine Entwicklung zur Freiheit verstanden werden, als Weg zu sich selbst, sich in seiner Einzigartigkeit zu entfalten. Und es ist das Schöne, das Verblüffende und das Einfache an Entwicklungen: Wir müssen nur das in uns freilegen, was wir in Wahrheit schon sind. Das habe ich einmal für mich so formuliert: Entwicklung heißt in die eigene Größe hineinwachsen. Ist das nicht unser aller Sehnsucht, unser ganzes Leben lang: Uns derart ins Eigentliche zu wandeln? Genau das bewirken heilsame Begegnungen. Jede Begegnung, die den Namen verdient, ist heilsam. Wir wandeln uns ins Eigentliche.
Zu dieser Art der Begegnung möchte ich in diesem Buch einladen: mitzugehen, mitzuspüren, nachzuvollziehen. Ich verstehe ein Buch als ein Begegnungsangebot, wie ein Bild, ein Musik- oder ein Theaterstück. Deswegen ist dieses hier kein Buch, in dem Rezepte für »das bessere Leben« zu finden sind.
Insofern ist es kein typischer Ratgeber. Ich habe es für uns alle geschrieben, auch für mich selbst. Es erscheint mir undenkbar, jemandem etwas zu erzählen ohne mich ins Spiel zu bringen, ohne ins Gespräch zu gehen. Es ist vielmehr ein Arbeitsbuch geworden, ein Buch zur Arbeit an sich selbst. Die Arbeit, die hier gemeint ist, hat einen Namen: Ja zum Leben sagen und damit Ja zu sich selbst.
Wenn ein Buch gelungen sein sollte, löst es beim Leser eine Metamorphose (griechisch: Umgestaltung, Verwandlung) aus. Das Ergebnis einer Metamorphose ist: Man ist nicht mehr der, der man vorher war. Das ist das Ergebnis jeder Kommunikation, die als echte Begegnung zu bezeichnen ist.
Solche Begegnungen, die dazu geführt haben, dass man mehr man selbst geworden war als vorher, in denen man aufgeblüht und in jeder Weise schön geworden ist, verdienen den Begriff der Begegnung.
Dabei fallen mir jene »großen« Begegnungen in meinem Leben ein, die mich nachhaltig nicht kalt ließen. Berührungen, deren Hand auf meiner Haut vermeintlich auch noch heute spürbar sind. Begegnungen, deren Klang nie auszuklingen scheint, wie der Klang einer Glocke sich scheinbar ins Unendliche hineinbewegt und nie aufhört, wenn man genau hinhört. Aber vor allem liebe ich jene »kleinen«, sehr kurzen Begegnungen, die ich hatte. Begegnungen etwa mit einem Menschen im Zug, vielleicht nur eine Viertelstunde lang, die sich in mein Herz eingraviert haben. Diese zeigen mir wie kaum etwas anderes den Zauber der Begegnung, mehr noch, zu welchem Zauber das Leben fähig ist.
Wie gesagt, beruht unsere Bereitschaft, der Welt zu begegnen, auf dem Wunsch und wohl auch der Notwendigkeit, »eigentlich« zu werden. Letztlich ist Begegnung das Lebenselixier schlechthin und ist überlebensnotwendig. Das kann jeder von uns bemerken. Wenn wir uns leblos fühlen und wir begegnen einem Freund, den wir gerne haben, dann sind wir auf der Stelle lebendiger. Wenn wir müde sind und ein Mensch, den wir lieben, berührt uns, sind wir sofort vitaler. Wenn wir gedanklich mit etwas nicht weiterkommen und ein anderer gibt uns Anstöße, öffnen sich uns auf einmal neue Horizonte.
Begegnungen erzeugen also Lebendigkeit. Andere Begegnungen, nennen wir sie nicht Begegnungen, sondern Kontakte, verletzen uns, weil wir in ihnen zum Objekt gemacht werden, und lassen uns gelähmt und unlebendig zurück. Als Betroffene – und das sind wir alle, jeder hat das von Kindheit an mehrfach in seinem Leben erfahren – bedarf es besonders heilsamer Begegnungen. Auch wenn uns Kontakte verletzen können, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns wieder vertrauensvoll in die Nähe von wohlmeinenden Menschen zu begeben, um uns auszuheilen. Aber auch die Natur, die Kunst, alles was die Welt ist, kann heilen. Hauptsache, man erfährt Begegnung auf eine berührende, heilsame Art.
Jede Metamorphose also, zumindest jene, die mir vorschwebt, zielt keinesfalls auf Verformung, sondern auf das Öffnen von Einschnürungen, das Lösen von Verklemmungen ab. In die Form bringen, Information eben.
Es gibt Bücher, die einen zu dem gemacht haben, der man ist, und einen nicht unverändert zurückgelassen haben. Beziehungsweise gibt es interessante Bücher, auf die diese Beschreibung nicht zutrifft? Wohl kaum. Sich diesem Prozess auszusetzen bedarf allerdings, wie schon eben gesagt, der Fähigkeit der Begegnung. Mit diesem Buch habe ich eine Hand ausgestreckt, eine Einladung dazu formuliert.