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UNSERE ILLUSION VOM ALTER
ОглавлениеWer sind wir, wenn wir alt sind? Vielleicht sind wir so, wie wir alte Menschen wahrgenommen haben, als wir jung waren. Vielleicht sind wir auch anders. Ich persönlich mache in meinem Leben die erstaunliche Erfahrung, dass ich keinen Bezug zum Alter finden kann. Ich kann das Alter in mir selbst nicht finden. Ich sehe aber, dass sich das bei einigen meiner Mitmenschen anders verhält.
Eine »alte« Freundin von mir wollte immer alt sein. Ich habe das lange nicht verstanden. Sie hat sich schon mit fünfzig alt gefühlt. Nach wie vor ist sie eine durchaus attraktive Frau. Nun ist sie etwa fünfundsechzig. Sie hat sich zu alten Leuten magisch hingezogen gefühlt. Sie hat Bücher über das Alter geschrieben. Sie kleidete sich, wie das eher ältere Damen tun. Im Gespräch mit mir war sie hingegen aufgeschlossen und ausgesprochen lustig und spritzig.
Als ich dann einmal mit ihr über ihre Lebensgeschichte sprach, habe ich sie, so glaube ich, letztlich doch verstanden. Sie ist ein Mensch mit der ausgeprägten Neigung, den Wünschen anderer Menschen zu folgen und für andere da zu sein. Diese Neigung führte dazu, dass sie das Gefühl bekam, immer zu sollen und zu müssen. Das war sehr beschwerlich für sie. Da bot sich das Alter als Lösung ihres Problems an. Das Alter ist für sie ein Zustand, in dem man nicht mehr und nichts mehr muss. Bei der erstbesten Gelegenheit ging sie in den Ruhestand. Auf der sicheren Insel ihres selbst gewählten Alters fühlte sie sich sehr wohl und schien sehr glücklich. In ihrem ganz privaten Alter konnte sie besser jung sein als in ihrer Jugend.
In diesem Fall hat die Konstruktion des eigenen Alters ganz positive Ergebnisse gezeitigt. Aber es gibt sicherlich mehr gegenteilige Beispiele, in denen Menschen deshalb alt sind, weil sie ihrer eigenen negativen Vorstellung von sich selbst nicht entkommen können. Denn das Alter ist im Wesentlichen eine Illusion, die man haben kann oder auch nicht und deren Bilder einen zwingen, der Vorstellung zu entsprechen, außer man gibt die Illusion auf und ist, wer man ist, ohne jemand sein oder nicht sein zu wollen.
Urlaube sind ein wunderbares Beispiel, um das Prinzip zu veranschaulichen. Die meisten Menschen glauben, dass sie im Urlaub glücklicher sind, als wenn sie arbeiten müssen. Ich bezweifle das. Vielleicht ist der eine oder andere heiterer gestimmt, aber glücklicher sind, so würde ich behaupten, die wenigsten. Wir nehmen uns doch alle in den Urlaub mit, samt unseren Sorgen und Gewohnheiten. Ohne die Alltagsstruktur halten wir uns und andere oft sogar noch schlechter aus und vice versa. Bei genauerer Draufsicht würden das sicherlich die meisten zugeben müssen. Aber wenn man sich etwas vorgenommen hat, kann sich die Wahrnehmung schwer gegen die angestrebte Beurteilung durchsetzen.
Dazu kommt noch ein psychologisches Phänomen, das man Priming nennt. Das bedeutet, dass sich eine Gefühlstendenz, die man einmal eingeschlagen hat, eher durchsetzt. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn ich mir vorher schon einbilde, dass ein Fest, auf das ich gehen werde, eher langweilig sein wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es eintrifft, höher, als wenn ich das Gegenteil glaube. Denn die Wahrnehmungstendenz setzt sich durch und beeinflusst meine Beurteilung, indem mir das mehr auffällt, auf das ich im Vorhinein meine Wahrnehmung gerichtet habe. Das ist die psychologische Grundlage für die selbsterfüllende Prophezeiung.
Wir stellen uns also vor, wie es wäre, wenn wir alt wären. Und dann, wenn man das entsprechende Lebensalter erreicht hat, richtet sich die Wahrnehmung auf die erwarteten Phänomene: Und siehe da, es ist eingetreten, was wir befürchtet haben. Die Illusion des Alters hat sich eingestellt, die Vorstellung hat sich in der Wirklichkeit konstruiert.
Ebenso radikal kann man Illusion jedoch dekonstruieren, wenn man erkannt hat, dass sie eben nur eine Illusion und selbst konstruiert ist. Man kommt als Mensch in seinem Leben nicht darum herum, sich manchmal Vorstellungen zu machen. Aber zu verstehen, dass die Konstrukte einen in ein Leben zwingen, das so sonst nie stattfinden würde, ist schon ein wichtiger Schritt.
Was wird die Pension bringen, fragen viele ängstlich, bevor sie aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Was wird sie schon bringen? Die Ängste werden sich bestätigen. Ein Bekannter von mir war in einer wichtigen öffentlichen Funktion tätig. Mit 63 Jahren musste er, mehr oder minder, in Pension gehen. Er hatte ein mehr als banges Gefühl, wie es ihm damit gehen würde. Überdies war seine Ehe nicht besonders gut. Seine Frau hatte ihm einen Seitensprung vor vielen Jahren nie verziehen. Er hatte sich die ganze Zeit über aus typisch männlicher Feigheit nie mit seiner Frau konfrontiert und sich in seine Arbeit geflüchtet. Die sollte ihm nun als Konstante wegbrechen.
Wir sollten unser Leben bestmöglich leben und das Alter und den Tod das sein lassen, was sie sein mögen.
Tatsächlich wirkte er nach seiner Pensionierung etwas verloren und leicht depressiv. Seine Erwartungen traten ein. Bis er an Krebs erkrankte. Nun hatte er ein Problem, ein großes noch dazu. Der Pensionsschock war wie weggeblasen: Sein Leben schien ihm plötzlich so attraktiv, dass er unbedingt weiterleben wollte. Er tat sich sehr schwer beim Sterben.
Worum es also geht, ist, das eigene Leben zu dekonstruieren. Es wäre gut, wenn wir unser Leben bestmöglich leben und das Alter, den Tod und was sonst noch das sein lassen, was sie sein mögen.
Am Anfang des Lebens sollte man eine Vorstellung entwickeln können, wer man ist. Diese Vorstellung nennt man Identität. Ohne Identität kann man nicht leben. Je klarer, je fester die Identität ist, desto stärker ist der Mensch. Die Identität ist ein Phänomen, das unangreifbar sein muss, wenn ein Mensch innerlich stark sein will. Das passiert, indem die Identität als Selbstrepräsentanz vorhanden ist und sie eben nicht auf Zuschreibungen von außen angewiesen ist. Dann später aber wäre es schön, wenn man diese Vorstellung wieder sein lassen könnte. Man sollte sich nie mit sich selbst verwechseln, zumindest nicht dauerhaft. Und schon gar nicht, wenn man schon eine Zeit lang auf dieser Erde verbracht hat. Je sicherer wir uns unserer Identität sind, desto weniger können wir uns nämlich vorstellen, dass unserer Existenz etwas passieren kann, desto mehr sind wir imstande uns aufzugeben, ohne etwas zu verlieren. In dieser, man könnte vielleicht Durchlässigkeit unserer Identität sagen, sind wir ultimativ jung.