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VON DER SCHANDE, ALT ZU WERDEN
ОглавлениеEs gilt als peinlicher Fauxpas, einen Menschen älter zu schätzen, als er ist. Wenn so etwas passiert, schämen wir uns, weil wir den anderen beschämt haben. Alt zu werden ist geradezu so etwas wie eine Schande.
Jung zu bleiben fordert uns dabei eine ganz schöne Leistung ab. Wir sind mit unseren Zeitgenossen darin in einem Wettbewerb. Nicht wenige leben von der Sehnsucht nach Jugendlichkeit und der für uns damit verknüpften Schönheit. Die Kosmetik-, Schönheits- und Fitnessindustrie und viele andere mehr verkaufen Jugend für teures Geld. Mit unserer Sehnsucht nach dem Jungbleiben wird ein gigantisches Geschäft gemacht.
Die Verbissenheit, mit der wir uns die Jugend erhalten wollen, ist nicht immer gesund. Ein erfolgreicher Verwandter von mir entfremdete sich derartig im Bestreben, den gesellschaftlichen Ansprüchen zu entsprechen, dass er als trainierter Sportler beim Sporttreiben einen Herzinfarkt erlitt.
Oder ich denke an eine Nachbarin, knapp über 50, wie sie beim Joggen mit einem verbissenen Gesicht ihren Körper durch die Gegend quält; sie gleicht den Maultieren auf der griechischen Insel Santorin, die übergewichtige Kreuzfahrtpassagiere unter dem unerbittlichen Gebrüll ihrer Treiber vom Meer bei sengender Hitze 260 Höhenmeter in die Hauptstadt tragen müssen.
Verbissenheit ist eine Verkrampfung, die befremdliche Gier zum Ursprung hat. Der Gierige vergisst seine Umgebung, er vergisst sich und will nur haben. Daher sind Verbissenheit und Gier gefährliche innere Haltungen, die leider die Wahrnehmung für sich und andere verunmöglichen. Ich würde sagen: Dann doch lieber dick und alt als verbissen und gierig. Das ist leicht dahingesagt, und viele würden mir in dem nicht zustimmen. Lieber machen sie sich zum eigenen Feind, als dass sie sich der Schande aussetzen, alt zu wirken. Wir schämen uns, wenn wir den anderen zeigen, wie alt wir wirklich sind.
Es ist eine Tatsache, dass wir von dem am meisten besetzt sind, was wir vermeiden wollen. So sind sexualvermeidende religiöse Bewegungen sexualisiert, kennen in Wahrheit nur ein Thema, nämlich Sexualität. Das kann man bei der römisch-katholischen Kirche klar beobachten. Geburtenverhütung, Sexualität vor der Ehe, Wiederverheiratung Geschiedener sind allesamt angeblich schwere Sünden. Dazu kommt noch das Zölibats-Gebot, das an das Ergreifen des Priesterberufs geknüpft ist. In dieser Religionsgemeinschaft, der auch ich angehöre, wird die Sexualität in eine Dunkelkammer im Keller gesperrt. Eingesperrt und unbeobachtet wird ein so vitales inneres Element wie die Sexualität aber rabiat eigenständig. Das führt aber leider tendenziell zu einer institutionalisierten Doppelmoral und zwischenmenschlicher Kälte.
Es wird etwas verborgen, was nicht sein darf. Dabei könnte das schamhaft Verborgene sehr wohl gezügelt werden. Aber nicht so, denn so geschieht das Gegenteil. Wenn ich etwas in mir wirklich zügeln, kontrollieren will, muss ich es vor mir und den Mitgliedern meiner Gemeinschaft transparent machen. Ich muss die Möglichkeit haben, ohne Angst vor Bestrafung den Umgang mit diesem inneren Element auszuprobieren, bis ich es kann. Kontrolle gelingt nur, wenn ich die Zügel loslasse und das Pferd in mir erkennt, dass es alle Möglichkeiten hat und dass nichts passieren wird, außer es tut es selbst.
Die Psychologie hat erkannt, dass das gezügelte Essverhalten dick macht. Gezügelte Esser möchten ihre Nahrungsaufnahme einschränken, um ihr Gewicht zu kontrollieren, und sind deshalb auf Dauerdiät. Die meisten leiden häufig gleichzeitig an unkontrollierten Essattacken. Was letzten Endes dazu führt, dass sie im Schnitt dicker und unglücklicher sind als Menschen, die das Essen genießen. Erst wenn sie sich ihr Problem eingestehen, lernen sie damit umzugehen, denn die maßlosen Momente geschehen meist so heimlich, dass sie es vor sich selbst verleugnen können und oft in dem Glauben leben, sich gesund und ausgewogen zu ernähren.
Das gleiche Prinzip führt auch in Ideologien, denen es zum Beispiel wie der linken Bewegung um die Überwindung des ungerechten Klassendenkens geht, nicht selten zu einer neuen aggressiven Klassifikation. Wir können uns einer Sache nicht entziehen, wenn wir gegen sie ankämpfen: Dann zeigt sich das Bekämpfte wie ein Bambus, der nicht auszurotten ist und trotz aller mechanischer und chemischer Vernichtungsversuche immer wieder wächst. Etwas zu bekämpfen ist pure Wachstumsunterstützung.
Wenn wir das alles nicht mehr sind, was wir nie wirklich waren, dann sind wir frei.
So verhält es sich auch mit dem Alter. Wir müssen uns im Alter verstecken. Denn Alter ist nicht vorgesehen in unserem Leben und gilt als eine Schande. Indem wir das Alter verstecken, unterstützen wir das Altwerden aber. Die Verbissenheit, mit der wir versuchen es zu verdrängen, lässt uns in Wirklichkeit alt aussehen.
Wir wollen attraktiv sein, damit uns andere unbedingt haben wollen. Wir müssen Macht haben, damit wir uns selbst wirksam erleben können und uns andere Menschen als Machtfaktor anerkennen. Wer sind wir, wenn wir das alles nicht mehr haben? Keine Attraktivität, keine Macht! Wer sind wir, wenn wir nur noch der sind, der wir sind?
Ich stelle mir den Ablauf des Lebens so vor: Wir werden als das, was wir sind, geboren, ohne Schnörkel, ohne Idee von etwas, nur wir selbst. Dann entwickeln wir uns zu etwas Eigenartigem. Wir machen Erfahrungen und schließen daraus, wer wir sein mögen, was wir wollen und brauchen. So plustern wir uns auf. Und dann klopft uns das Leben immer wieder ab, sodass wir die Schnörkel immer schwerer erhalten können. Am Schluss stehen wir nackt da, wie am Anfang. Das anzuerkennen wäre es. Wenn wir das alles nicht mehr sind, was wir nie wirklich waren, dann sind wir in unserer eigentlichen Existenz! Alt und jung gleichzeitig. Und frei. Freiheit und Schnörkellosigkeit sind keine Schande. Stattdessen sind wir enorm damit beschäftigt, viel zu kleine Feigenblätter für unsere ach so große Scham zu rupfen, um sie ungelenk damit zu bedecken.
Ein Mann, den ich kenne, fiel mir durch seine noble Umgangsart auf, schon als ich ihn kennenlernte. Nun erschienen mir seine Umgangsformen etwas unnatürlich, aufgesetzt, artifiziell. Aber ich ließ es gut sein. Der weibliche Instinkt meiner Frau hat sie hingegen von Anfang an misstrauisch gemacht, um es gelinde zu sagen. Ich hatte mit diesem Mann beruflich zu tun. Dadurch ergaben sich auch andere Kontakte in seinem Zusammenhang und ich lernte unter anderem einen Freund von ihm kennen. Irgendwann kam es zu einem Eklat zwischen den beiden, weil der Freund den »noblen« Mann am Telefon nicht zurückrief, als dieser darum gebeten hatte. Damit vermittelte er ihm wohl, dass er in der Skala der wichtigen Menschen in seinem Leben nur eine Nummer unter vielen anderen darstellte.
Das kränkte den »noblen« Mann. Was ich dann hörte, erstaunte mich. Er sagte dem Freund, der ihn gekränkt hatte, und der ihm über seine Ohrenschmerzen berichtete, er hätte eine Therapie, nämlich »Ohralsex«, er wolle in sein Ohr masturbieren. Das sagte er vor seiner eigenen Frau, die solche Ansagen offensichtlich gewohnt war, wie ihre gleichgültige und verständnisvolle Reaktion vermuten ließ. Ich aber war vom Ausmaß der Aggressivität erschüttert. Er konnte dem anderen nicht die Freiheit geben, ihn als unwichtig einzustufen. Das irritierte ihn abgrundtief.
Was man in dieser Geschichte auch verstehen kann – darum erzähle ich sie – ist, wie sehr sich Menschen bemühen andere zu sein, als sie eigentlich sind. Und wenn sie die Energie nicht mehr aufrechterhalten können, die sie zu dieser Verstellung, zu dieser Maskerade benötigen, weil sie beispielsweise gekränkt sind, dann bricht ihr wahres Selbst hervor.
Wir sind alt, wenn wir uns verstellen. Das ist es doch, was wir an Kindern und Narren lieben, dass sie so natürlich sind. Wir lieben es, dass sie es wagen, ja wagen müssen, so zu sein, wie sie sind.
Am jüngsten sind wir also, wenn wir nichts anderes zu sein vorgeben, als wir sind.
Manche Menschen kämpfen damit, dass sie alt werden. Aber auf die Idee, endlich authentisch zu sein, kommen sie nicht. Das ist unlogisch und das ist schade. Solange wir uns in den Räumen der Kompensation aufhalten, ist unsere Aufmerksamkeit und Energie auf das Alte gerichtet und wir können nicht dem begegnen, was hier und jetzt in unserem Leben an der Reihe wäre.
Am jüngsten sind wir also, wenn wir nichts anderes zu sein vorgeben, als wir sind. Nehmen wir uns die Unverdorbenheit, die Unmittelbarkeit kleiner Kinder zum Vorbild, für die Schande keine Kategorie ist. Die Scham, der Begleiter der Schande, bedeutet, dass wir uns nicht mit allem und jedem der Welt stellen wollen. Muten wir uns zu, wie wir sind, dann gereicht das Leben zur Freude. Dann laufen wir vielleicht auch, um schön zu sein. Aber wir beabsichtigen nicht, dem Alter davonzulaufen und ihm damit direkt in die Arme zu rennen.