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Kapitel 8

Abenteuer Ukraine

Bei der Einfahrt in das Städtchen Welykyj wurde mir sehr schnell bewusst, dass mich nun ein ordentliches Stück von meiner Heimat trennte. Nicht nur Sprache, Geld und Menschen hatten sich gravierend verändert, sondern auch das Leben. Eine lausige Straße führte mich hinein in das Zentrum der Stadt, die eine Unzahl von Kleingeschäften beherbergte, die sich mit Haushaltsartikeln und Gemüse über Wasser halten wollten. Die übrigen Häuser am Straßenrand machten den ersten Gesamteindruck nicht besser. Alt und heruntergekommen wäre der richtige Ausdruck für diese unwirkliche Welt, in die ich da eingefahren war. Dabei war ich noch nicht einmal überrascht, da ich eigentlich damit gerechnet hatte, dass die Zeit, durch eine heile Welt zu radeln, nun vorbei war.

Während ich durch die Stadt fuhr und mir die Gegebenheiten anschaute, schweifte mein Blick natürlich an den Häuserreihen entlang, in der Hoffnung, Übernachtungsmöglichkeiten auszumachen. Doch diese waren hier offensichtlich dünn gesät.

Etwas ratlos hielt ich am Straßenrand an und versuchte, auf meinem Handy etwas zu finden. Da sprach mich von hinten ein Mann an und fragte, ob ich ein Bett suche. Seine Kleidung war sagenhaft dreckig und passte sehr gut zu der vor mir liegenden Straße. Den hat mir der Himmel geschickt, dachte ich und machte ihm klar, dass ich seine Hilfe gerne annehmen würde. Schon nach ein paar wenigen Metern bog er mit mir in eine Toreinfahrt. Ich stand vor einem Hotel, das weder ein Werbeschild hatte, noch den Eindruck machte, dass es hier eine Übernachtungsmöglichkeit gab. Alleine hätte ich das nie gefunden. Überraschenderweise verbarg sich hinter der Eingangstür ein recht ordentliches Restaurant. Der Besitzer und eine Bedienung schauten mir hinter der Theke freundlich entgegen. Die Frage nach einem freien Zimmer war schnell geklärt. Mittlerweile dachte ich, dass ich der einzige Reisende auf dieser Welt sein musste, da ich bis hierher oft der einzige Gast gewesen war. Das Zimmer war recht ordentlich, was von diesem Punkt an eigentlich immer bedeutet: egal wie, Hauptsache ein Bett, Strom, Dusche und ein dichtes Dach über dem Kopf. Soll heißen, dass meine Ansprüche auf Luxus eine Nebenrolle spielten.

Am nächsten Morgen überraschte mich das Wetter nicht, da es am Abend zuvor noch wie aus Eimern gegossen hatte. Anscheinend war Petrus in der Nacht mit seiner Arbeit nicht ganz fertig geworden, er hatte für mich zum Start aber nur noch leichten Nieselregen parat. Ärgerlicher waren dafür jedoch die eh schon schlechten Straßen, die nun zu allem Übel auch noch aufgeweicht und schlammig waren. Das Schlimmste daran war, dass man die mit Wasser gefüllten Löcher in der Straße nicht einschätzen konnte. Drum Herumfahren war ein absolutes Muss, da man nie wusste, wie tief die Löcher waren. Die rund ausgefahrenen waren dabei nicht die schlimmen, sondern die mit scharfen Kanten, die meinen Felgen und Reifen doch sehr gefährlich werden konnten. Die Stadtausfahrt wurde dadurch unter den Augen zahlloser, schaulustiger und neugieriger Menschen zu einer halbgefährlichen Off-road-Slalom-Fahrt.

Das änderte sich auf den folgenden 60 km auch nicht, außer dass mir der Wind wieder böse ins Gesicht blies und die Straße langsam, aber stetig steiler wurde. Die kleinen Dörfer, die ich dabei durchfuhr, verleiteten mich zu der Vermutung, dass ich einen Zeitsprung ins Mittelalter gemacht hatte. Leben auf unterstem Niveau begleitete mich fortan in vielen Dörfern. Die Straße wurde steiler, und ich spürte die Ausläufer der Karpaten in meinen Beinen.

Langsam verabschiedeten sich die blühenden Bäume und wurden durch kahle ersetzt, was mir aufzeigte, dass ich mich wieder in großer Höhe befand. Die einzelnen Schneeflecken, die sich am Straßenrand eisern hielten, zwangen mich dazu, meine warme Jacke mit einem dicken Sweatshirt zu unterstützen. Oben auf der Passhöhe kam ich dann zu einer stationären Militärkontrolle, die mich aber anstandslos passieren ließ. Hier musste wohl eine Art Landkreis-Grenze gewesen sein, denn nun lag eine nagelneue Straße mit steilen Steigungen und schnellen Abfahrten vor mir. Gegen Spätnachmittag näherte ich mich dem Städtchen, in dem ich eigentlich die Nacht verbringen wollte. Nass und durchgefroren machte ich mich auf die Suche nach einem Zimmer. Leider bekam ich in allen drei auf meiner App angegebenen Hotels keins. Zwei davon waren schon seit längerem geschlossen, und beim dritten war der Besitzer nicht aufzutreiben. Also fuhr ich weiter, ohne Plan, wo ich die Nacht verbringen würde.

Nach weiteren 20 km musste ich mich entscheiden, ob ich geradeaus fahren oder rechts abbiegen sollte, der Straße nach, die dem Fluss Stryi folgte. Ich entschied mich, dem Fluss zu folgen und kam dadurch wieder auf eine Straße, die nach wenigen Kilometern nicht mehr als solche bezeichnet werden konnte. Mittlerweile regnete es wieder so stark, dass ich mein Handy zum Navigieren nur noch rausholen konnte, wenn ich ein kleines Dach fand, unter dem ich kurz dem Regen entkam. Die Dunkelheit löste den schmuddligen Tag ab. Oft konnte ich nur noch zu Fuß der steinigen Straße, die wechselseitig auf der linken und rechten Seite des Flusses Stryi verlief, folgen. Dazu musste ich über einige Brücken laufen oder fahren, die in Deutschland kein Mensch mehr betreten hätte. Vereinzelt tauchten in der Dunkelheit Häuser auf, die bei weitem nicht alle von elektrischem Licht erhellt wurden. In so mancher Hütte flackerte das Licht einer Kerze, und mich beschlich der Gedanke, dass ich in einer Gegend angekommen war, die der liebe Gott schon seit längerer Zeit vergessen hatte.

Versunken in den Gedanken, dass ich wohl die Nacht durchfahren müsste, machte ich Meter um Meter in dieser unwirklichen Gegend.

Gegen 22 Uhr sah ich weit vor mir im Tal, wie sich der Himmel immer mehr erhellte, so als ob ich auf ein mit Flutlicht erhelltes Stadion zufuhr. Ich schaute noch einmal auf meinem Handy nach, aber es war weit und breit keine Stadt und kein Dorf angezeigt. Die nächste Siedlung, die aufgeführt wurde, war ca. 50 km entfernt. So weit konnte man bei dem Wetter auf keinen Fall sehen.

Gespannt und in der Hoffnung, doch noch ein trockenes Nachtlager zu finden, fuhr ich weiter und erreichte schließlich vollkommen durchnässt und kaputt das Pförtnerhäuschen einer Ferienanlage.

Ein in Armeekleidung gesteckter Pförtner kam heraus und sprach mich auf Ukrainisch an. Ich antwortete ihm mit ein paar deutschen Worten und Gesten und siehe da, ich hatte mal wieder Glück. Der Pförtner hatte Verwandte in Deutschland und konnte daher sehr gut Deutsch sprechen. Ich fragte ihn nach einem Zimmer, und er gab mir zu verstehen, dass das wohl eine Ferienanlage für wohlhabende Ukrainer sei, die man aber nur gebucht beziehen könne. Die Nacht, der Regen und mein erschöpftes Gesicht erregten bei ihm aber wohl großes Mitleid. Er sagte mir in leichtem Befehlston, dass ich warten solle. Er ging zur Rezeption hinüber und organisierte mir ein Zimmer für die Nacht. Ich war ihm unendlich dankbar und konnte auf dem Weg zum Zimmer erkennen, was ich gerade wieder für einen Dusel hatte. Selbst das wenige, das ich in der Nacht noch von dieser Anlage sah, hatte nichts mit dem zu tun, was mir in den letzten 24 Stunden unter die Augen gekommen war. Das Zimmer hatte westlichen Standard, lediglich die Heizung ging nicht, aber ich konnte meine wichtigsten Kleidungsstücke mit dem Haartrockner, den ich für mein schütteres Haar nicht brauchte, trocknen.

Am Morgen fand ich in einem gepflegten Frühstücksraum eine Mahlzeit vor, an die ich noch während der gesamten Reise durch die Ukraine dachte. Danach packte ich zusammen und wollte weiterziehen. An der Pforte winkte mir der Pförtner zu, der in der Nacht schon Dienst gehabt hatte. Natürlich hatte er noch viele Fragen, die ich aber gerne mit ihm besprach. Es konnte mir nichts Besseres passieren, als mich mit jemandem zu unterhalten, der mir etwas über Land und Leute auf Deutsch erzählen konnte. Erst um 10.30 Uhr kam ich von Nicolai, dem Wachmann, los. War mir aber egal, da ich dank der langen Tour am Vortag ja schon ein ordentliches Stück weit in der Ukraine war. Ob es auf der Straße wie am Abend zuvor so weiterging, interessierte mich mehr.

Das war allerdings zu meiner Erleichterung nicht so. Schon nach 15 km änderte sich alles wieder schlagartig. Die Straßen waren überwiegend okay, obwohl ich diesbezüglich auch schon große Abstriche gemacht hatte. Die Städtchen und Dörfer wurden wieder ansehnlicher, und man hatte den Eindruck, dass hier ein anderer Teil der Ukraine begonnen hatte. Auffallend war aber schon seit Überschreiten der Grenze, dass ich sehr viele Männer schon tagsüber betrunken durch die Gegend taumeln sah, ein Problem in dem Land, das mir auch während der letzten Etappe vor Kiew von einer Bekannten bestätigt wurde.

Nun führte mich mein Weg wieder ziemlich geradlinig in Richtung Osten, denn mein nächstes, größeres Etappenziel hieß Kiew. Mein Plan war eigentlich, am Schwarzen Meer entlang, über die Krim, nach Sotschi und dann nach Georgien zu fahren. Da die politische Lage auf der Krim zu dem Zeitpunkt aber sehr unsicher war, wollte ich zuerst nach Kiew, um mir dort auf der deutschen Botschaft Informationen zu holen, ob die Durchfahrt über die Krim überhaupt möglich war. Außerdem hatte ich eh vor, die Hauptstädte der einzelnen Länder, die ich durchfuhr, zu besuchen.

Diese Entscheidung war richtig, wie sich im Kapitel Georgien herausstellen sollte.

Nachdem ich die Karpaten, die im Norden langsam auslaufen, überquert hatte, wurde die Strecke wieder etwas ebener. Lange und breite Felder lagen vor mir, die ebenso lange, gerade Straßen durchquerten. Die riesigen Felder, die die unsrigen in Deutschland wie Kleingärten erscheinen lassen, waren alle gut bestellt. Da das Frühjahr erst begann, war die „Schwarzerde“, die als die fruchtbarste Erde der Welt bezeichnet wird, auf weiten Flächen gut zu erkennen. Landmaschinen mit riesigen Auslegern düngten und säten. Das Wetter war mir hold, und so fuhr ich durch eine herrliche Landschaft meine Tagestouren um die 100 km.

Die Übernachtungsmöglichkeiten machten mir abends öfter zu schaffen, es gab sehr wenige. Nur in größeren Städten fand ich mühelos Unterkunft. Zunehmend hatte ich jetzt auch Kontakt zu Ukrainern, da diese Gegend offensichtlich nicht unbedingt ein Touristenziel war und ich mit meinem bepackten Rad doch die Neugier der Menschen weckte. Die Verständigung war natürlich ein Problem, und ich schätzte das Bildungsniveau auf dem Land als nicht sehr hoch ein.

Hin und wieder begegnete ich aber auch Leuten, die mich überraschten. An einem Tag traf ich auf drei junge, sportlich gekleidete Ukrainer, die ebenfalls mit dem Rad unterwegs in die nächste Stadt waren. Die junge Frau, die dabei war, studierte tatsächlich Deutsch und hatte sichtlich Spaß daran, es anzuwenden. Ich hatte Zeit und nahm mir diese gerne bei solchen Begegnungen. Auch abends war es nicht immer uninteressant. An einem Abend fand ich spät noch ein Zimmer, weit ab von meiner Route, in einem wirklich sehr kleinen Dorf. Eine Straße dorthin gab es nicht, nur einen sehr ausgefahrenen Feldweg, der mit Schotter, alten Dachziegeln und Backsteinen ausgebessert war. Das Dorf bestand aus ca. 15 kleineren Landwirtschaftsgebäuden und Häusern. Eines davon beherbergte einen Arzt, der eine kleine Praxis unterhielt, die er mir auch stolz präsentierte. Sein Spezialgebiet war, Menschen von Suchtproblemen aller Art zu heilen, hauptsächlich aber vom Alkohol, und er setzte dabei auf die Therapie der Darmspülung.

Ich versicherte ihm sehr schnell, dass ich null Probleme mit irgendeiner Art von Sucht habe. So kam ich um eine angebotene Anwendung herum.

Die Zimmer, die er zur Aufbesserung seines Lebensstandards vermietete, waren selbstgebastelt im Dachspitz des Hauses. Die Feuchtigkeit, die darin herrschte, war vermutlich der Grund für den modrigen Geruch, der mich auch veranlasste, einen sehr langen, ausgedehnten Spaziergang durch und um das Dorf zu machen. Dabei konnte ich einen ordentlichen Einblick in das einfache, schon fast primitive Leben der ukrainischen Landbevölkerung erlangen. Oft kopfschüttelnd und auch nachdenklich nahm ich zur Kenntnis, mit was sich diese Leute zufrieden geben und geben müssen, im Gegensatz zu unserer Welt, in der oft das Beste nicht mehr gut genug ist.

Spät abends legte ich mich in mein übel riechendes Bett und schlief ein. Mein letzter Gedanke war, was hier wohl zum Frühstück gereicht werden würde, das im Zimmerpreis von umgerechnet 8 Euro inbegriffen war.

Am Morgen machte mir die Frau des Hauses ein Frühstück, das aus einem süßlichen Brei, zwei Scheiben Brot und einer undefinierbaren, gelben Marmelade bestand. Den Doktor traf ich an dem Morgen nicht mehr, da er bereits seinen ersten Patienten versorgte. Bei dieser Zeremonie wollte ich ihn keinesfalls stören, ich schwang mich wieder auf mein Rad und strampelte in Richtung Schytomyr, wo ich bei einer Bekannten den ersten Besuch auf meiner Strecke machen wollte. Bekannte ist vielleicht etwas übertrieben, sie ist die Schwester einer Bekannten, die ich aus Deutschland kenne. Inna ist in Deutschland bei ihren ukrainischen Eltern aufgewachsen und zog, nachdem sie 18 geworden war, wieder zurück in die Ukraine. Inna ist bewundernswert, schon alleine deshalb, weil sie ein relativ sorgenfreies Leben in Deutschland aufgegeben hatte, um sich jetzt für einen sehr kleinen Lohn in einer sozialen Organisation, die von Spendengeldern lebt, um Familien zu kümmern, in denen der Vater dem Alkohol verfallen ist.

Schytomyr liegt etwa 140 km vor Kiew und ist eine beachtliche Stadt. Hier machte ich einen Treffpunkt bei einem amerikanischen Fast-Food-Restaurant mit Inna klar, weil ich dort auch WLAN hatte, sollte irgendetwas dazwischenkommen.

Ich war pünktlich am Treffpunkt, und Inna kam mit etwas Verspätung an. Nachdem sie mich in ihr Zimmer in der Mission gefahren hatte, das sie vor zwei Tagen noch selbst bewohnt hatte, machten wir uns gleich auf den Weg ins Zentrum. Die Stadt hatte einiges zu bieten, und ich war froh, eine so gute deutschsprachige Fremdenführerin zu haben. Ich erfuhr einiges über Land und Leute, über Verdienst, Miete und sonstige Kosten, die im täglichen Leben auf diese Leute zukommen, während wir zu Fuß ein Kloster, den Campus und eine Einkaufsmeile besuchten. Aus Inna sprudelte es wie aus einem Wasserfall, und ich hatte meine Mühe, so viel Input in meinem Kopf zu speichern.

Alles machte auf mich einen recht ordentlichen Eindruck, wenngleich es für mich unverständlich ist, wieso Inna dieses bescheidene Leben dem in Deutschland vorzog. Sie erklärte mir, dass sie diesem Land wie verfallen sei und ihre Arbeit als Sozialarbeiterin liebe. Das war für mich sehr beeindruckend. Das Leben in der Ukraine erschien mir alles andere als leicht, und Inna ist mit sehr viel weniger zufrieden als alle, die ich kenne.

Schließlich war es dunkel und auch Zeit zu essen. Meinem Wunsch entsprechend gingen wir in ein Restaurant, wo ausschließlich ukrainische Spezialitäten serviert wurden. Dies musste ich Inna nicht zweimal sagen, da sie natürlich so gerne ukrainisch isst, wie sie ihr Land liebt.

Die Speisen, die von Inna als Kennerin bestellt und aufgefahren wurden, kannte ich alle allesamt nicht, sie schmeckten aber hervorragend. Die Rechnung übernahm ich, für Inna viel Geld, mich dagegen brachte sie eher zum Schmunzeln. Nicht weil ich reich bin oder nicht aufs Geld schauen musste, nein, es war der kleine Betrag, den ich für erstklassiges Essen und Service bezahlen musste.

Ja und dann war es schon wieder so weit. Inna fuhr mich noch zu meinem Zimmer, und wir verabschiedeten uns. Ich hatte am nächsten Tag eine lange Strecke vor mir, da ich Kiew erreichen wollte.

Am Morgen erwartete mich herrliches Wetter mit leichtem Gegenwind. Die Strecke hatte nicht sehr viele Höhenmeter, aber dennoch lagen 140 km vor mir. Die Straße war sehr gut, glich eigentlich einer Autobahn, und auf dem breiten Seitenstreifen kam ich relativ gefahrlos gut voran. Am Spätnachmittag tauchte dann Kiew auf, das ich schon von weitem sehen konnte. Leider kam ich aber in den Feierabendverkehr, der stadtein- und stadtauswärts gleich stark war. Baustellen und Sperrungen machten die Durchfahrt zu einem kleinen Kunststück, doch die Autofahrer nahmen sehr viel Rücksicht auf mich und mein Gefährt. Meine Unterkunft, die ich gebucht hatte, lag vom Ortsschild noch ein ganz schönes Stück entfernt, und so zeigte mein Tacho 155 km, als ich die Satteltaschen abschnallte. Stolz und müde bezog ich mein Zimmer für drei Nächte in Kiew, nach mittlerweile 2364 gefahrenen Kilometern. Diese Pause konnte ich mir jetzt wirklich gönnen, da ich einen Tagesschnitt von 100 km hatte und eigentlich von 60 km ausgegangen war.

Allerdings war es bis hierher grenztechnisch noch sehr moderat abgegangen. Sorgen machte mir dagegen der nächste Grenzübergang. Ich befand mich immerhin in einem Land, in dem gerade Krieg herrschte. Dieser Gedanke begleitete mich schon einige Tage, spätestens seit dem Tag, als mich auf einer parallel zur Straße verlaufenden Bahnlinie ein sehr langer Zug, beladen mit Panzern und sonstigen Armeefahrzeugen, in Richtung Osten überholte. Ich war keine 700 km vom Krisengebiet Donezk und der Krim entfernt.

Der nächste Tag sollte etwas mehr Licht ins Dunkel bringen. Bei Sonnenschein und angenehmen Temperaturen lief ich die 5 km ins Zentrum der Stadt, um mir bei der deutschen Botschaft Informationen zu holen. Dort sprach ich mit einem deutschen Angestellten vor der Tür über mein Vorhaben, über die Krim zu reisen. Hinein durfte ich in das schwer bewachte und überwachte Gebäude nicht. Der Beamte erklärte mir nach einem Telefonat mit einem Bekannten, der in der Nähe der Krim Dienst tat, dass es sich so verhalte: Ich könne es probieren, über die Krim nach Sotschi zu fahren. Zu 50 % würde es klappen. Da die Krim aber von Russen besetzt sei, wäre es möglich, dass diese mich stoppten und nicht durchließen. Wenn ich dann zurückfahren müsse, würden die Ukrainer mir einen illegalen Ausreise- oder Einreiseversuch unterstellen. Dies würde mit Gefängnis oder Ausweisung bestraft werden.

Mit dieser Information, die sehr wachsweich war, stand ich nun da. Mach ich es, oder mach ich es nicht? Meine Entscheidung hatte noch ein paar Tage Zeit. Für mich war es aber belastend, da ich nicht gerne planlos unterwegs bin.

Sicher war, dass ich von Kiew aus noch drei Tagestouren in Richtung Odessa hatte, dann musste die Entscheidung fallen. Plan B war, geradeaus nach Odessa zu fahren, um von dort aus mit der Fähre nach Georgien überzusetzen. Also, dachte ich, genieß jetzt die zwei freien Tage und schau dir die Stadt Kiew genauer an, und das war gut.

Kiew hatte gar nichts mit dem Leben auf dem Land zu tun. Es gab schöne Plätze, Kirchen und feine Gastronomie. Am zentral gelegenen Platz der Unabhängigkeit pulsierte das Leben, wie in jeder großen Metropole in Europa. Von Entbehrung oder Angst wegen des Kriegs war hier nichts zu spüren.

Der 2. Tag galt der näheren Umgebung meiner Unterkunft, und auch hier in der Vorstadt war alles im grünen Bereich. Der Versuch, in einem Einkaufszentrum eine Sonnencreme für meine geschundene Nase zu bekommen, scheiterte jedoch kläglich. Ich vermutete aber, es lag nicht daran, dass es keine gab, sondern an meinen Sprachschwierigkeiten.

So sattelte ich also am Morgen des 29. 4. 2019 wieder mein Rad und fuhr los in Richtung Odessa. Die nächsten zwei Tage waren nicht besonders anstrengend, da ich wieder weites und relativ ebenes Ackerland vor mir hatte. Das bescherte mir bei schönem Wetter eine gute Fernsicht. Immer noch kämpfte ich mit dem Gedanken, über die Krim zu fahren. Spätestens in Uman musste ich mich dann entscheiden. Dort ging die Straße links weg in Richtung Osten. Der Abend und die Nacht in Uman brachte dann Klarheit. Am Morgen fuhr ich geradeaus Richtung Odessa, soll heißen, ich entschied mich für die sichere Variante, was sich in Georgien als richtige Entscheidung herausstellen sollte. Die andere Option wäre ein folgenschwerer Fehler gewesen, den ich im Kapitel „Georgien“ noch näher erklären werde.

Auf den letzten Etappen bis Odessa war mir das Wetter dann nicht mehr so hold. Nebel, Regen und Gewitter wechselten sich ab. Unterkünfte waren schwer zu finden, doch über eine ist es wert zu berichten.

Am Tag vor Odessa hatte ich eine lange Tour vor mir. Kräftiger, starker Gegenwind bremste mein Tempo gewaltig und forderte meine Muskulatur sehr. Gegen Abend lag vor mir erneut eine Gewitterfront. Der Himmel war so schwarz, dass er den Tag fast zur Nacht machte, als unerwartet am Straßenrand ein Hinweisschild auf eine Übernachtungsmöglichkeit stand. Allerdings ging es rechts weg in ein kleines Dorf, 5 km ab von meiner Route. Der nächste Ort, den es mir anzeigte, war 20 km entfernt, genau in der Richtung, wo die Gewitterwolken am tiefsten hingen.

Also entschied ich mich für das kleine Dorf rechts neben mir, auch wenn es ein Umweg war. Als ich dort ankam, war die aufgeführte Pension natürlich nicht zu finden. Es gab sie schon lange nicht mehr. Ich fragte trotzdem bei der angegebenen Adresse nach. Die Tochter des Hauses, die ein bisschen Englisch konnte, also genauso viel wie ich, erklärte mir, dass es die Zimmer zwar noch gebe, sie aber schon lange nicht mehr vermietet würden. An meinem enttäuschten Gesicht konnten sie und ihre Mutter aber meine Not ablesen. Sie boten mir ein halbwegs hergerichtetes Zimmer an. Mit Karte konnte ich in dieser einfachen Herberge jedoch nicht bezahlen, und das ukrainische Geld war mir ausgegangen. Die junge Frau machte mir verständlich, dass ich auch mit Euro bezahlen könne. Da mein kleinster Schein aber ein Hunderter war, hatten wir das nächste Problem. Erst als sie mir den Preis, umgerechnet in Euro, auf einen Zettel schrieb, machte sich bei mir Erleichterung breit. Das Zimmer kostete 2,50 Euro, und die hatte ich noch in klein in meiner Lenkertasche. Ich hatte zwar keine Ahnung, ob sie mit dem Kleingeld in der Ukraine jemals etwas anfangen können würde, aber sie war glücklich, und ich war es auch, denn wenig später machte Petrus seine Schleusen auf, und es begann sintflutartig zu regnen.

Am nächsten und letzten Tag vor dem Schwarzen Meer war dann wieder Kaiserwetter. Nach einem sehr steilen, langen Anstieg ging es gleichmäßig und stetig leicht den Berg runter, bis ich die Stadt Odessa erreichte. Die Landschaft war sagenhaft. Meine Blicke schweiften über saftige, grüne Wiesen und das Ufer eines Sees, der vor der Stadt lag. Ungeduldig radelte ich durch eine lange Vorstadt und durch das Zentrum, bis ich am Ufer des Schwarzen Meeres stand. Noch bevor ich eine Unterkunft hatte, wollte ich es sehen, und es enttäuschte mich nicht. Ich war so stolz auf meine Leistung, dass es mir zum ersten Mal die Tränen in die Augen drückte. Überwältigt vom Anblick des Meeres stand ich einige Minuten regungslos da und genoss den Moment, bis mich von hinten eine junge Frau ansprach und mich aus meinen Gedanken an zu Hause, aus meinen Emotionen riss.

Sie interessierte sich sehr dafür, wo ich mit meinem bepackten Rad herkam. Nachdem wir uns einige Zeit unterhalten hatten, bat ich sie, noch ein paar Bilder von mir und meinem Rad vor dem Hintergrund des Schwarzen Meers zu machen. Das tat sie gern. Als wir uns verabschiedeten, fragte sie mich, ob sie mich einmal berühren dürfe, da sie in ihrem Leben noch nie einen Menschen kennengelernt habe, der so eine Reise machte. Geschmeichelt sagte ich ja, sie legte ihre Hand auf meine Schulter, und im selben Moment spürte ich selbst, dass ich hier etwas total Verrücktes durchzog. Gleichzeitig hatte ich von nun an aber tatsächlich das Gefühl, dass ich kein Fahrradgreenhorn mehr war, sondern mir mein Reiseplan auch abgenommen wurde, nicht wie zu Beginn, als ich ständig nur ein leichtes Lächeln erntete, wenn ich darüber sprach. Dann zog ich weiter. Die Uferpromenade war perfekt. Ein riesiger Park entlang des Ufers führte mich auf einem guten Radweg schließlich zu einem Hostel, wo ich mich für die nächsten drei Tage einmietete.

Sicher war die Zahl der Übernachtungen nicht, da ich ja noch kein Ticket für die Überfahrt mit der Fähre nach Georgien hatte. Darum kümmerte ich mich gleich am nächsten Tag.

Im Internet schaute ich nach, wo ich das Ticket für die Überfahrt nach Batumi (Georgien) kaufen konnte. Das Büro der Reederei befand sich auf der anderen Seite der Stadt. So konnte ich auch gleich mit meinem Rad die Stadt erkunden. Es war das erste Mal, dass ich ohne Gepäck in einer Stadt unterwegs war, und ich musste feststellen, dass das eine Supersache war. Ich kam schnell und unkompliziert an jeden Ort, den ich sehen wollte, und es kostete mich keinen Cent.

Das Büro der Reederei fand ich sehr schnell mit Hilfe meiner Navi-App, die ich immer besser beherrschte. Problematischer stellte sich der Kauf des Tickets dar, da der Beamte als Zahlungsmittel nur die ukrainische Hrywnja anerkannte, ein Wort, das ich bis zum Tag meiner Ausreise aus der Ukraine nicht einmal fehlerfrei aussprechen konnte. Leider hatte ich nicht mehr so viel und musste zu einer Bank, um umzutauschen. 4350 Hrywnja, ungefähr 140 Euro, kostete mich das Ticket. Bei dieser Aktion hatte ich die größte Angst, dass der gute Mann vielleicht inzwischen Feierabend machen würde, denn es war Freitagmittag, und die Fähre legte am Sonntagmittag ab. Wann die nächste Fähre ging, konnte er mir nicht sagen. Als ich mit dem nötigen Cash ankam, saß er zu meiner Erleichterung noch an seinem Platz und verkaufte mir das begehrte Ticket.

Er erklärte mir das Eincheckprozedere genau und hatte dazu Bilder auf seinem PC gespeichert, von den einzelnen Häusern, wo ich mich melden sollte und die ich alle mit meinem Handy fotografieren musste. Zuerst fand ich es etwas lächerlich, es stellte sich aber am Sonntag als recht hilfreich heraus. Überglücklich, mit dem Ticket in der Hand, verließ ich das Gebäude und ging erst mal etwas Richtiges essen.

Den Nachmittag verbrachte ich in der Stadt, die zwei Gesichter hat. Zum einen ist die Altstadt mit ihren uralten und restaurierten Gebäuden wunderschön, im Zentrum befindet sich der prächtige Bahnhof mit umliegenden historischen Gebäuden, und fast an jeder Ecke gibt es groß angelegte Parks oder Grünanlagen mit tollen Abenteuerspielplätzen für Kinder. Zum anderen ist an der Uferpromenade eine Partymeile, die in mir den Verdacht weckte, ich sei am Ballermann. Los war aber um diese Jahreszeit noch nichts. Ich sah viele Männer und Frauen, die sich mit Putzen und Streichen auf die anstehende Saison vorbereiteten. In den Kneipen, die schon offen hatten, saßen vereinzelt ein paar Leute, bei denen sich die Stimmung noch in Grenzen hielt.

Den Abend ließ ich an einem Badestrand ausklingen. Ich hatte den Gedanken, Sotschi zu sehen, immer noch nicht ganz aufgegeben. Immerhin hatte ich ja ein russisches Visum in meinem Pass, das ich nur ungern verfallen lassen wollte. So verging die Zeit in der sehenswerten Stadt recht schnell. Sonntagmorgen war es so weit. Ich packte meine Sachen zusammen, die ich während meiner Zeit in Odessa gereinigt und zum Teil repariert hatte, verabschiedete mich von der Frau und dem Mann, die das Hostel leiteten, und erntete noch nebenbei von der Frau den Titel „Verrückter“.

Ich fuhr die 5 km bis zum Fährhafen gemütlich, da ich jede Menge Zeit hatte. Ich wollte es nicht stressig haben, zumal ich die Ukrainer bis dahin in ihrer Vorgehensweise als etwas kompliziert empfunden hatte. Tatsächlich kam ich vor dem Fährhafen an die Kurve, die ich zuvor fotografieren musste, und auch das erste Gebäude, wo ich mich melden musste, tauchte nach wenigen Metern auf. Hier war der erste Check des Tickets und gleichzeitig Sammelpunkt für Passagiere, die ohne motorisiertes Fahrzeug auf die Fähre gingen. Als der Kleinbus für den Transfer kam, musste ich mich erst mal ordentlich wehren, weil der Fahrer mich und mein Rad auch noch in dieses kleine Vehikel reinquetschen wollte.

Die nächsten 500 m fuhr ich gerne und kam danach zur nächsten Kontrollstelle. Ticket, Pass und Gepäckkontrolle fanden in einem Gebäude statt, das man von außen eher als Lagerschuppen eingeschätzt hätte. Mein Gepäck wurde durchleuchtet und danach von einem Schäferhund beschnuppert. Alles klar, ich konnte durch einen schmalen Gang den Schuppen wieder verlassen und stand auf einem riesigen Vorplatz, auf dem sich ein Lkw an den anderen reihte.

Noch als ich daran dachte, ob ich jetzt wohl so einfach ohne Anweisung und Aufforderung zur Fähre fahren konnte, kam ein riesiger Schaufellader mit einer noch riesigeren, alten, rostigen Schaufel dran. Der Fahrer gab mir durch Handzeichen zu verstehen, dass ich mein Rad mitsamt dem Gepäck in die Schaufel legen sollte. Normalerweise hätte ich ihm den Vogel gezeigt, was in diesem Fall natürlich nicht angebracht war.

Ich wiederum machte ihm mit Gestik klar, dass ich das auf keinen Fall machen würde. So einigten wir uns darauf, dass er vor mir herfuhr und ich ihm folgte. Er brachte mich bis kurz vors Schiff, wo ich nun zwischen den Riesen der Landstraße stand und auf ein Zeichen der Schiffsbesatzung wartete, dass ich einfahren konnte.

Es dauerte nicht lange und einer der Fährleute winkte mir hektisch zu, was wohl heißen sollte: „Gib Gas mit deinem Rad, wir haben noch andere, die aufs Schiff wollen.“ Ich schob mein Rad über die ausgefahrenen, aber stabilen Dielen, die Spalten hatten, durch die mein Fahrrad fast fallen konnte, ins Schiff. Einer wies mir einen Platz in der Nähe des Aufzugs zu und machte mir klar, dass ich mein Gefährt gut festzurren solle. Ich bezog meine Kabine, die ich als einer der Ersten auf dem Schiff noch leer vorfand.

Als ich von einem ersten Bordrundgang zurück zur Kabine kam, hatte sich jedoch noch ein sehr dicker georgischer Trucker in der Kabine einquartiert. Er gab mir freundlich zu verstehen, dass er mit seiner Figur auf gar keinen Fall in den 2. Stock des Etagenbettes komme, was ich auch anstandslos akzeptierte. Er war ansonsten nicht sehr gesprächig, und das waren auch so ziemlich die einzigen Worte, die wir auf der zweitägigen Überfahrt miteinander redeten.

Das Schiff verfügte nicht über sehr viele Ablenkungsmöglichkeiten. So fand ich mich in der kleinen Bar wieder, die sich am Rande des Raumes lag, wo die Mahlzeiten zu genau festgelegten Zeiten eingenommen wurden.

An dieser Bar deckten sich auch die ganzen Trucker, die nach und nach eintrudelten, mit sehr viel und starkem Alkohol ein, den sie aber überwiegend in ihren Kabinen konsumierten. Unter allen Passagieren, mindestens 97 % von ihnen Lkw-Fahrer, waren aber auch ein paar Weltenbummler, die sich nach und nach ebenfalls an der Theke der Bar einfanden.

Ein guter Zeitpunkt, um sich kennenzulernen, und ich musste feststellen, dass nicht nur ich einen verrückten Traum lebte. Da war zum einen eine junge Frau, die sich irgendwo in Sibirien ein Pferd mieten oder kaufen wollte, um damit um einen großen See zu reiten, zwei junge Kerls, die schon seit Jahren ihren Urlaub damit verbrachten, in großen Städten im Osten die Fußballstadien zu besichtigen, ein älteres Ehepaar aus Kanada, das drei Monate im Jahr in der Weltgeschichte rumreiste und last, but not least ein weiteres älteres Ehepaar, das mit dem Wohnmobil wohl schon den ganzen Osten einschließlich Orient bereist hatte. Also, für Gesprächsstoff war gesorgt, und so bemerkten wir gar nicht, wie die Leinen gelöst wurden und sich das Schiff langsam vom Festland in die mittlerweile dunkle Nacht hinaus ins Schwarze Meer schob.

Ukraine ade, Georgien, ich komme …


Dorfleben in der Ukraine.


Angekommen in Kiew.


Endlos lange Straßen mit ordentlichen Steigungen.


Geschafft. Ankunft in Odessa am Schwarzen Meer.


Auffahrt zur Fähre nach Batumi (Georgien).

Andere Länder, andere Straßen

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