Читать книгу Europa auf der Intensivstation - Rahim Taghizadegan - Страница 10

7. Welche Rezepte verschreibt der Autor Europa?

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Ein Europa2 als handelnde Akteurin, das gibt es nicht und kann es nicht geben. Die Europäische Union5 ist eine der vielen politischen Akteurinnen und gewiss nicht die wendigste. Rezepte verschreiben – das ist ein naiver Blick auf politische Probleme.

Die Rezeptpflicht, die Legitimität, Rezepte zu verschreiben, die auch befolgt werden, beruht auf der Autorität der Wissenschaft16, der Wirksamkeit von Pharmazeutika und dem Versagen der Prävention. Leider ist Wissenschaft, insbesondere Sozialwissenschaft, kein Konsensverfahren mit klaren Entscheidungen, sondern ein Widerstreit gegensätzlicher Argumente. Experten als »Götter in Weiß«, die Entscheidungen abnehmen, Statiker zum Bau gesellschaftlicher Brücken, die nicht einstürzen, weil ihre Kalküle unbestritten und fehlerlos sind: Solche Sehnsüchte führen nur zu verhängnisvollen Irrwegen.

Wie in der Medizin grassiert in der Politik eine Hybris der Ingenieure – Sozialingenieure. In der Medizin trägt der Ingenieuransatz zumindest ein wenig, denn das komplexe System Mensch enthält mechanische Bauteile und chemische Flüsse, welche einige mechanische und chemische Reparaturen zulassen. Heilung geschieht jedoch auch hier als spontaner Prozess des selbsttätigen Wiedereinpendelns eines komplexen Systems, wenn vorübergehende Störungen beseitigt sind. Der Arzt reinigt die Wunde, damit sie verheilen kann, aber er heilt keine Wunden.

Gesellschaft ist ein noch komplexeres System, denn sie ist die Potenzierung von Einzelmenschen durch Interaktion. Für die Europäische Union5 Rezepte zu verschreiben, mit der sie die Gesellschaft reparieren könnte, ist eines jener Wunschbilder, wie sie nur in Blasen18 gedeihen können – in den Echokammern einer Gedankenwelt fern der Realität.

Wir müssen also Akteure definieren, dann können wir über Handlungsanleitungen nachdenken. Handeln können zunächst Individuen64. Gemeinsames Handeln ist auf drei Wegen möglich: über spontane Koordination, organisierte Koordination und Zwang. Spontane Koordination entsteht über die Wechselwirkung zwischen Individuen mit Familie, Freunden, Bekannten, Kunden, Kollegen etc. – also in freiwilligen Beziehungen. Organisation ist meist Koordination von Interessen und kann zu Institutionen53 führen. Zwang ist als legitimes Mittel dem Staat62 vorbehalten. Kleinere politische Einheiten wie etwa Gemeinden65 sind Spezialfälle, weil in ihnen alle drei Formen des gemeinsamen Handelns zusammentreffen.

Dieses Buch will nicht Heilung versprechen, sondern Hoffnung machen. Heilsversprechen sind gefährlich, denn sie führen zur Illusion, dass die Spaltung39 unserer Gesellschaften durch kollektives Heil überwunden werden könnte. Was wir tun können, ist, realistische Handlungsmöglichkeiten zu erkennen, und das bedeutet zunächst Verständnis der Realität. Politisches Handeln wütend zu debattieren, also Interventionen12 vor Erkenntnis und Verständigung zu fordern, ist sinnlos und vergrößert nur unproduktive Spaltung. Am wichtigsten wäre, die Vielfalt der Perspektiven, Ansätze, Handlungsmöglichkeiten in produktive Spannung überzuführen: Was können wir tun, ohne die Illusion vorauszusetzen, erst eine Mehrheit auf ein Ziel eingeschworen zu haben?

Die Kraft Europas könnte darin liegen, statt leblose Einigkeit in Kompromiss, Alternativlosigkeit oder Zwang zu suchen, die lebhafte Spannung wiederzufinden, die Raum für völlig konträre Perspektiven lässt, für frische Experimente und innovative Wagnisse, ohne die Kosten des Scheiterns der meisten neuen Ansätze zu sozialisieren. Aus dem Dickicht der hier verfolgten – eng miteinander verflochtenen – Themen blitzen an vielen Stellen Andeutungen zu solchen Auswegen hervor.

Politische Lösungen vertreten oft die Ideologie der Machete: des Auswegs, der einfach durchs Dickicht geschlagen wird, wenn wir uns nur auf die Richtung einigen könnten. Solche Lösungen wären lächerlich, wenn sie nicht so gefährlich wären. Auch ein erreichter Konsens bedeutet keine Allwissenheit – und einen Konsens über die Zukunft erreichen zu können, wäre ein Hinweis auf kollektive Verblendung und Mitläufertum.

Verbesserungen folgen aus Entdeckungen, nicht aus Verordnungen. Erst müssen wir das Dickicht durchdringen, seine Komplexität respektieren, die dunklen Flecken erkennen, dann erst können wir Wege hinaus finden. Auswege gibt es stets viele, aber noch mehr Sackgassen. Je kleiner und wendiger, desto weniger Kratzer.

Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 1, 66


Europa auf der Intensivstation

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