Читать книгу Europa auf der Intensivstation - Rahim Taghizadegan - Страница 3
Einleitung: Widersprüchliche Deutungen und Omen
ОглавлениеAnfang 2020 befand ich mich ausgerechnet in Singapur, als die COVID-19-Pandemie ausbrach. Ich konnte so aus nächster Nähe den Beginn der öffentlichen Wahrnehmung und politischen Reaktion verfolgen. Die mangelnde Transparenz Chinas und die an SARS gewachsene Erfahrung Singapurs weckten mein Interesse in besonderem Maße: Ich richtete für eine Weile den größten Teil meiner Aufmerksamkeit auf dieses Thema.
Meine Absicht war, bis zum Frühjahr in Asien zu überwintern. Um das Risiko für meine Familie zu senken, verließ ich Asien früher als geplant und setzte den Urlaub in den Tiroler Bergen fort. Das Virus reiste schneller als ich: Tirol wurde zum überraschenden Epizentrum. Diese bittere Pointe war nur der Auftakt eines Jahres voller Widersprüche.
Ich sollte ein Buch über die Zukunft Europas schreiben. Die Pandemie hätte da ein guter und aktueller Aufhänger sein können. Doch der Fokus auf die Tagesaktualität hat mir die Laune gehörig verdorben und mich mehrmals dazu bewogen, die Arbeit an diesem Buch einzustellen. Mir schwirrt noch immer der Kopf von dem rapiden Wechsel der »Narrative« oder – neudeutsch – »Spins«, die immer wütender als Wahrheiten verkündet werden. Heute treten die gegensätzlichsten Spins parallel auf, da die Feedback-Schleife des digitalen Informationsaustauschs praktisch verzögerungslos läuft.
Sonst entziehe ich mich so gut es geht dem Nachrichtenstrom, der keinerlei Mehrwert liefert, sondern nur Seelen vergiftet. Die Zeit ist vorbei, als es nur den einen prominenten Nachrichtenableser gab, der eine verbindliche Referenz für Alltagsgespräche bot. Die Explosion an Informationsquellen, Perspektiven und Erzählungen war eine große Befreiung. Doch wahre Freiheit ist eine Bürde, und die meisten flüchten vor ihr. Zuflucht vor der neuen Komplexität und erfahrbaren Vielfalt der Welt bieten Filterblasen – und in diesen tobt es immer unerbittlicher.
Vermutlich wird meine Perspektive zwischen den lauteren aufgerieben. Ich fasse dennoch den Mut, trotz grassierender Denkverbote und virtueller Hetzjagden auf Andersdenkende ein heißes, polarisierendes Thema anzufassen. Es geht mir um die Frage nach der Zukunft Europas. Werden wir auf einen Scherbenhaufen blicken, wenn die aktuellen Aufreger wieder in den Hintergrund treten und den Blick freigeben?
Dabei geht es mir nicht um Utopien, nicht um wütendes Politisieren, sondern um die Frage nach den nachhaltigen Lebensbedingungen dieses zuletzt so gesegneten und glücklichen Fleckens Erde. Doch die allzu kurzfristige Perspektive und der oberflächliche Vergleich verleiten zum Irrtum der »besten aller Welten«, den Voltaire einst als Widerstand gegen Weiterentwicklung und Vernunftgebrauch so gekonnt persifliert hat.
Ich hatte zunächst angenommen, dass die Schockstarre nach den Pandemie-Maßnahmen zu Selbstzweifeln und Reflexion führen würde. Doch bevor noch der Schaden sichtbar werden konnte, drängt sich eine Deutung in den Vordergrund, die ich in ihrer Selbstgefälligkeit für gefährlich halte:
Italien und Spanien versagten als typische »Südländer« und machten Europa zum Epizentrum der Pandemie. Die höher entwickelten Länder Europas, allen voran Österreich und Deutschland, zeigten aber bald, wie sich durch effektive staatliche Interventionen die Pandemie rasch unter Kontrolle bringen lässt. Die großartigen Gesundheitssysteme, die rasch agierenden Behörden und der soziale Zusammenhalt beweisen wieder einmal die Überlegenheit der EU gegenüber dem Rest der Welt, insbesondere den USA. Zum Glück informierten die europäischen Massenmedien, insbesondere die der öffentlichen Hand, die Bevölkerung in sachlicher und umfassender Weise, sodass die Zustimmung zu den gebotenen Maßnahmen sehr hoch war. Die weltweite Führungsposition in den Wissenschaften bot die nötige Kompetenz, auf welche Politiker zurückgreifen konnten, um die öffentliche Gesundheit, auch gegen Wirtschaftsinteressen, zum Leitmotiv ihres Handelns zu machen. Der plötzliche Einkommensausfall im Zuge der Pandemie kam aus heiterem Himmel und hätte eine schwere Wirtschaftskrise verursacht, wenn die Politik nicht alle Mittel mobilisiert hätte, um den Schaden einzugrenzen. Hauptsächlich über höhere Staatsverschuldung, um die Steuern nicht erhöhen zu müssen, wurde Not-Liquidität zur Verfügung gestellt. Die Maßnahmen gingen in die richtige Richtung, waren aber nicht ganz ausreichend. In solchen Fällen müssen wir dankbar sein, dass Finanz- und Geldpolitik für rasche Liquidität sorgen können.
Gegen diese Deutung richtet sich am stärksten die Gegenposition derjenigen, die jegliches Vertrauen in Politik, Medien und Wissenschaft verloren haben.
Es ist alles ein abgekartetes Spiel. Europas Politiker haben eine künstliche Panik geschaffen, um ihre eigenen Interessen gegen die der Bevölkerung durchzusetzen. Experten, die von Massenmedien und Politik ausgeblendet – fast schon verheimlicht – wurden, hatten von Anfang an darauf hingewiesen, dass das Coronavirus ein gängiger Grippevirus und damit genauso ungefährlich ist. Die Krise ist eine Folge aktiver und bewusster Wirtschaftszerstörung, die Alibi und Ablenkung bieten soll, damit sich organisierte bösartige auf Einzelinteressen fixierte Eliten auf Kosten der Allgemeinheit weiter bereichern können, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Diese Abrechnung stand kurz bevor. Der Zechpreller schlägt die Wirtschaft kurz und klein, um ungeschoren davon zu kommen.
Die erste Deutung, die von größtem Vertrauen in die Institutionen getragen wird, lässt sich nicht einfach durch Behauptungen widerlegen, die vor allem auf allergrößtem Misstrauen beruhen. Die Nachkriegsordnung Europas ging mit einer Phase des Wohlstands und Friedens einher, die – auch wenn in der Geschichte Kausalität stets eine unbewiesene Behauptung ist – zu Vorsicht mahnt, die Legitimität dieser Ordnung nicht leichtfertig zu untergraben. Die nationalen und supranationalen Strukturen Europas verdienen es, mit Respekt betrachtet zu werden.
Doch dieser Respekt muss selten eingefordert werden, außer es geht bergab. Menschen hängen intuitiv am Status quo, wenn sie sich nicht für die Verlierer desselben halten. Die konservative Sorge um den Bestand von Institutionen kann zu Erstarrung führen, sodass es irgendwann mit Gewissheit bergab geht, bis sich Institutionen nur noch mit Gewalt Respekt verschaffen können – und ihn damit endgültig verlieren.
Noch ist die Perspektive des völligen Misstrauens eine Minderheitenperspektive. Sie scheint in einem der wohlhabendsten und friedlichsten Teile der Welt völlig verrückt, wenn nicht gemeingefährlich zu sein. Das Misstrauen in die Misstrauenden ist groß, der Respekt für ihre Positionen gering. Doch ich halte die Zunahme des Misstrauens für ein wichtiges Omen.
Ein anderes Omen ist der Bewusstseinswandel, der schon lange vor der aktuellen Wirtschaftskrise eingesetzt hat. Das Vertrauen in die Zukunft hat sich gewandelt in eine düstere Ahnung, die wenig in Worte gefasst wird. Diese Ahnung zeigt sich in der Antwort auf die Frage: Glauben Sie, dass es Ihren Kindern besser oder schlechter gehen wird als Ihnen selbst? Die Antworten darauf werden seit geraumer Zeit immer negativer.
Ich halte nichts von Angstmache auf der Grundlage esoterischer Vorzeichen. Dennoch sehe ich diese Omen als ernstzunehmende Anstöße, über die Zukunft nach der aktuellen Krise nachzudenken. Ich werde keine Utopie entwerfen, kein politisches Programm, sondern versuchen, Argumente zu bieten, die hoffentlich zugleich ungewöhnlich und überzeugend genug sind.
Ich halte kritische Argumentation für die Grundlage der Erkenntnis und einer Ordnung freier Menschen. Dabei geht es nicht darum, welche Welt wir uns wünschen, sondern ob wir die Welt, die wir teilen, gemeinsam begreifen können – in allen ihren Facetten, die unseren Wünschen und Interessen so oft widersprechen. Ich habe mich daher dazu entschieden, das gesamte Buch über kritische Fragen zu strukturieren– wie ein offenes Gespräch über all die konträren Deutungen der Zeit.
Eine kurze Anleitung für den Leser: Ausgehend von der Einstiegsfrage verweisen Begriffe auf Themen für weitergehende Fragen. Die Hochzahl neben Wörtern verweist also nicht auf eine Fuß- oder Endnote, sondern auf die Nummer jener Frage, die das entsprechende Thema behandelt. Der Leser ist also völlig frei, thematisch zu springen. Dieses Buch müssen Sie nicht von vorne bis hinten lesen, sondern können es in genau der Reihenfolge und Tiefe lesen, die Ihren Interessen entspricht. Am Ende jeder Frage finden Sie die Fragen, die auf die gerade aufgeschlagene verweisen – Sie können also auch einfach zurückspringen. Damit handelt es sich um das wohl erste Buch mit bidirektionalen Verweisen. In den digitalen Formaten können Sie über das Klicken von Links weiterspringen, im physischen Format blättern Sie einfach zur jeweiligen Frage – dazu sind die Fragennummern sichtbar angeführt.
Ich werde versuchen, Argumente, denen ich widerspreche, mit Empathie und Respekt zu behandeln. Auch das unausgesprochene Argument gegen die Argumentation, gegen den Zweifel und die Kritik. Umso schärfer wende ich mich gegen die – meiner Einschätzung nach – dominante Position, die nicht aus einer begründeten Ablehnung von Kritik und Argument hervorgeht, sondern sich oft bloß für besonders »kritisch« hält: jene der Selbstgefälligkeit, die eigentlich Angst ist. Angst vor wirklichem Widerspruch, vor der peinlichen Blöße. Es ist die Angst der Mitläufer. Diese Mischung aus Selbstgefälligkeit und Angst ist eine weitaus gefährlichere Seuche als COVID-19. Sie könnte »Europa«, diese Ahnung einer geographischen Verdichtung positiver Besonderheiten, tatsächlich zu Grabe tragen.
Jene, die ihre düsteren Ahnungen schon ernster nehmen, sollen durch meine Argumente ein wenig von der Panik befreit werden: nicht durch Schönreden der Zustände, sondern durch argumentatives Durchdringen. Gute Philosophie ist ein Programm, Angst zu verlieren, nicht weil die Welt in rosarotes Licht getaucht wird, sondern weil das Verstehen der Schatten ihre Bedrohlichkeit mindert. Doch dieses Buch ist kein »Philosophieren« im heutigen Sinne, nicht das sprachlich kunstvolle Aneinanderreihen von Wunschbildern, sondern soll eher als »ökonomisches« Argumentarium wahrgenommen werden: Mein Augenmerk gilt dem Austausch realer Menschen und der für sie relevanten Probleme. Mit welcher Art von Krise haben wir es zu tun, wie könnte sie weitergehen und was könnte danach kommen? Gibt es Auswege und Alternativen? Wie gut geht es uns wirklich, wie schlecht könnte es uns noch gehen? Woher kommen die Widersprüche unserer Zeit und wohin führen sie?
Doch beginnen wir das Gespräch auf Augenhöhe, lieber Leser. Ich halte Sie im Zweifelsfall für vernünftig und anständig, auch wenn Sie mir in vielen Punkten widersprechen werden. Eine gemeinsame Basis können wir in Zeiten der Zerrüttung und Spaltung kaum noch voraussetzen. Sie halten mich im Zweifelsfall für jemanden, der etwas zu verkaufen hat, vielleicht eine Ideologie, Ausreden und Alibis für Interessen, zumindest ein Buch. Es ist also durchaus vernünftig, gleich mit dem Widerspruch zu beginnen. Nur zu: Europa auf der Intensivstation, ist das nicht eine Übertreibung?¹