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10. Warum wurde Europa zum Epizentrum?

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Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen Letalität14 und hoher Virenlast sowie Anhäufung von Risikogruppen. Das bedeutet: Alte Menschen in geschlossenen Räumen sind das wesentlichste Element des Epidemiegeschehens.

Womöglich wird letztlich der größte Teil des norditalienischen Horrors dem staatlich gesteuerten Sammeln von Infizierten in Spitälern und Altersheimen zuzuschreiben sein, wenn jemals eine Aufklärung des Geschehens gelingt. Ähnliches ist in New York geschehen.

Die Italiener hatten allerdings auch Pech: früher einsetzende Ansteckungsdynamik bei noch geringerem Wissensstand und noch geringerer Aufmerksamkeit. Höhere Anzahl von Mehrgenerationenhaushalten; vielleicht hat auch die körpernähere Kultur eine Rolle gespielt – eigentlich Dinge, die für die Italiener sprechen. Am stärksten wirkte wohl ohnehin spontane »soziale Distanz«, nachdem die Sorge in der Gesellschaft gewachsen war. Auch diese freiwillige Vorsicht setzte in Italien erst später ein, wirkte aber in den anderen europäischen Staaten – darunter auch Schweden, wo sich die Ausbreitung nach bereits geweckter Sorge vollzog.

Italien wurde als Tourismusdestination52 – so wie Deutschland als Industriedestination – früh von Infizierten besucht; für die Schuldzuweisungen an die Modeindustrie, in der relativ viele Chinesen – oft illegal – arbeiten, gab es keine weiteren Belege. Italien hatte auch relativ früh die direkte Einreise aus China unterbunden, was angesichts moderner Mobilität relativ wirkungslos ist. Völlige Grenzschließungen hätte man damals ausnahmslos für Irrsinn gehalten.

Mittlerweile müssen wir auch Ansteckungs- und Todes-Epizentren unterscheiden. Hohe Todeszahlen verweisen auf große Ansteckungsdynamik unter überdurchschnittlich alten und kranken Menschen. Hohe Ansteckungszahlen entstehen durch »Superspreader«: längere Nähe in geschlossenen Räumen mit viel Atemaustausch durch lautes Sprechen, Singen und intensivem Mundkontakt.

Das Epizentrum Ischgl in Tirol war eines der Ansteckung, die Todeszahlen vor Ort sind überraschend niedrig – statistisch unter der Relevanzschwelle. Verbindungen zu Todes-Epizentren anderswo sind bislang nicht belegt, zumal nach Ischgl der ­Fokus schon auf der Pandemie lag und die Vorsicht entsprechend größer war.

Warum lag das Epizentrum der Pandemie nach China58 nicht in Asien? Die dynamischsten Orte mit dem höchsten Verkehr aus China – Singapur, Hongkong und Taiwan – waren nach vergangenen Epidemien vorbereitet. Es gab keinen Mangel an Schutzausrüstung, mehr Vorsicht in der Gesellschaft und frühes Nachverfolgen möglicher Ansteckungsketten auf höchstem technischen Niveau.

Letzteres ist in Europa aus Gründen des Datenschutzes13 nicht möglich. Die Ansteckungsdynamik durch das Verhalten freier Menschen war aber kaum der Kern des Problems. Die Übersterblichkeit hätte wohl durch früheren Schutz der Risikogruppen vermindert werden können. Und auch das hätte vor allem die Unterlassung einer Gefährdung durch mangelhafte Prozesse im Gesundheitssystem bedeutet, durch welche die dichte Ansammlung von Alten und Kranken in geschlossenen Räumen in Europa eher die Regel als die Ausnahme ist.

Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 8

Europa auf der Intensivstation

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