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12. Wären wir ohne politische Interventionen nicht in die Katastrophe gerutscht?

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Auf der einen Seite sollten Interventionen wie verordneter Hausarrest in weiten Teilen Europas Menschenleben retten, auf der anderen Seite sollten Interventionen wie Überbrückungsliquidität die Wirtschaft retten. Zumal die Pandemie8 noch nicht mit Gewissheit bewertet werden kann, sei hinsichtlich des ersten Ziels nur leiser Zweifel angemeldet: Die Härte der Interventionen wird wohl eher mit höherer Sterblichkeit korrelieren. Bei einer Ansteckungsdynamik vor allem in Innenräumen ist das behördliche Leeren der Straßen wohl kontraproduktiv gewesen, und die Leerung der Krankenhäuser für den erwarteten Ansturm von Pandemieopfern hatte klarerweise dramatische Nebenfolgen durch drastisch reduzierte Gesundheitsversorgung.

Die gewonnene Zeit wurde von der Politik vorwiegend zur Inszenierung genutzt. Das politische System scheint keine Spur lernfähiger geworden zu sein. Doch Wutbürger, die den schwarzen Peter nun allein den Regierungen zuschreiben, sollte man nicht für ihre Minderheitenmeinung38 loben, sondern als Teil jener unproduktiven Spinner tadeln, deren Freiheit zu spinnen zwar sakrosankt sein muss, aber individuell nicht heroisiert werden darf. Immerhin haben die meisten Privatleute die Zeit der größten Ungewissheit als Corona-Ferien konsumiert oder als Vorwand genutzt, im Job weniger zu leisten. Eine Gesellschaft, die von sorgloser Ignoranz in kopflose Panik verfallen ist, sollte nach einem völlig unverdienten Popularitätshoch für die machthabenden Politiker nun nicht im Nachhinein allzu besserwisserisch über ihre Politiker wüten, auch wenn sich die allermeisten Maßnahmen als sinnlos bis schädlich erweisen werden. Mehr Wut ist angebracht über das Sinken der eigenen Innovationskraft oder hohe Abhängigkeit von Transfers.

Die plötzlichen Einkommensausfälle setzen viele naturgemäß unter Existenzdruck, vor allem mangels eigener Liquidität31 und hoher Schuldenlast. Wenn der Schaden schon angerichtet ist, dann soll ihn die Politik zumindest reparieren – so die landläufige Einstellung.

Doch Politik kann nur das zuteilen, was aktueller oder künftiger Produktivität entspringt. Schadenswiedergutmachung durch Politik kann daher nur auf der Grundlage von einer der folgenden Prämissen funktionieren: Erstens, Politiker sind in der Lage- und Zukunftseinschätzung besser als private Entscheider. Zweitens, durch Schuldtitel können künftige Steuereinnahmen heute schon erlöst werden und der frühere Einsatz erspart später höhere Kosten oder bedeutet größeren Wohlstand. Die zwei Alternativen bedeuten also: Gegenwärtige Umverteilung25 von schlechterem Mitteleinsatz durch private Entscheider zu besserem Mitteleinsatz durch politische Entscheider oder zeitliche Umverteilung von später schlechterem privaten oder politischen Mitteleinsatz zu heute besserem politischen Mitteleinsatz.

Dass die erste Prämisse hält, erscheint aktuell nicht sonderlich wahrscheinlich. Die schockartigen9 Extremmaßnahmen sind klarer Hinweis auf falsche Lageeinschätzung durch die Politik. Gewiss, auch die Gesellschaft war nicht viel weitsichtiger, doch kann Umverteilung natürlich nie von den Kurzsichtigeren zu den Weitsichtigeren innerhalb der Gesellschaft gehen. Die Logik gebietet, dass sie nur von heute noch Wertschöpfenden zu heute nicht mehr Wertschöpfenden gehen kann.

Daher bleibt als einzige Alternative – da scheint sich auch die Politik sicher – nur die zweite Prämisse: Abwendung der Notlage durch neue Schulden22. Seit de facto zinslose Staatsanleihen34 aber das zunehmend wichtigste Zentralbank-Asset sind, bedeutet das Geldschöpfung20.

Gewiss ist die aktuelle Katastrophe nicht einfach auszusitzen. Es ist wesentlich leichter, Produktionsprozesse anzuhalten als sie wieder zum Laufen zu bringen. Grundsätzlich erlauben Kurseinbrüche und Unternehmenskonkurse das Übergehen der Produktionsstruktur in die Hände jener, welche die Zukunft besser antizipiert haben: Heute heißt das, in die Hände derjenigen, die liquider und robuster aufgestellt sind, flexibler mit neuen Situationen umgehen können und Potenziale vor anderen erkennen. Fluglinien können sich in Luft auflösen, Flugzeuge – abgesehen von merkwürdigen Ausnahmen – nicht.

Aktuell wird ein viel zu großer Teil der Produktionsstruktur von Akteuren kontrolliert, die sie falsch einsetzen, etwa den sogenannten Zombieunternehmen. Falsch bedeutet in mangelnder Übereinstimmung mit den aktuellen und künftigen Bedürfnissen und Plänen der Menschen.

Doch Krisen17 sind stets Hinweise auf negative Überraschungen – das heißt, die meisten lagen in ihrer Einschätzung falsch, was zu Schockstarre führen kann. Je weniger agil und lernfähig eine Gesellschaft, desto gravierender die Krisenohnmacht. In dieser Situation könnten Kapitalstrukturen zu schnell zerstört werden, weil der Zugang von neuen und besseren Unternehmern und Investoren stockt.

Die größte Gefahr liegt darin, dass sich ein weit unterschätzter, weil unsichtbarer Teil des Kapitals in Luft auflöst: Wissen. Entwickelte Produktionsstrukturen sind weit eher geistiger als materieller Natur. Stillstehende Produktion könnte die nötige Weitergabe, Mehrung und Erhaltung von Wissen bedrohen. Wirtschaftlich relevantes Wissen benötigt praktische Anwendung, um frisch zu bleiben, es kann schnell obsolet werden.

Leider wird dieser geistige Aspekt von den meisten übersehen. Er bedeutet nämlich nicht, dass es nun vor allem um den Erhalt von Arbeitsplätzen26 ginge.

Nahezu alle geld-, fiskal- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen werden, wenn sie sich daran orientieren, Schaden »gutzumachen«, Lernunfähigkeit belohnen, Strukturanpassungen vereiteln und nachhaltige Grundlagen der Produktivität weiter untergraben – führen also in eine Interventionsspirale54. Die einzig sinnvollen politischen Maßnahmen federn vorübergehend größte Not ab und verhindern Katastrophen des Kapitalkonsums. Alle weiteren Maßnahmen sind gesellschaftlicher Natur – können aber natürlich von Politikern, die ja Teil der Gesellschaft sind, angeregt, begleitet, gestützt werden.

Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 1, 7, 8, 9, 11, 15, 17, 20, 21, 29, 40, 53, 54, 55, 56, 58, 62

Europa auf der Intensivstation

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