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2. Was ist Europa?

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Europa ist ein Begriff aus Mythologie, Geographie und Geschichte. Solche Begriffe berühren Identitäten4 und sind daher besonders sensibel.

Die auffälligste Besonderheit, die diesen Subkontinent auszeichnen könnte, ist für mich, dass er die Wiege der modernen Welt ist, einer Welt dichter und weitreichender Verbindungen52, eine Welt exponentiell wachsender11 Dynamik28.

Andere Teile der Welt folgten dieser Modernisierung. Heute ist unser Teil der Welt vielleicht noch immer dichter verbunden als andere, aber in dieser Hinsicht längst nicht mehr so besonders. Und wenn wir die Dynamik28 betrachten, die Geschwindigkeit neuer Verbindungen und Kombinationen, dann fällt Europa zurück.6 Viele Ort sind heute dynamischer, doch bislang hat kein Ort der Welt den Westen – Europa und seine jüngeren und energischeren Nachkommen USA57 und Israel – bei der Innovation43 deutlich abgehängt. China58 zeigt beeindruckende Dynamik, ist aber noch am Aufholen.

Dass Teile Europas früher eine moderne Dynamik aufwiesen als Teile Chinas, die zivilisatorisch meistens weiter entwickelt waren, ist eine europäische Besonderheit. Sie ist in dem Sinne spezifisch europäisch, dass die Elemente und Indizien dieser besonderen Entwicklung im Laufe der Geschichte recht breit über den Subkontinent verstreut waren.

Europa scheint stets unter auffälliger Spannung gestanden zu haben, dicht gepackt und doch nicht eins. Spaltung und Einigung waren ständige Gegensätze, die einander bedingten. Die Geographie trennte das Nahe und verband das Ferne: Die Vielfalt getrennter Täler erhielt eine besondere Sprachen- und Dialektvielfalt, doch die Zahl schiffbarer Flüsse und Binnenmeere (Nordafrika war einst zum europäischen Kern zu zählen) begünstigte den Fernhandel. Die Gespaltenheit nährte religiöse und intellektuelle Einigungsbewegungen, welche wiederum neue Spaltung erzeugten.

Diese Spannung entlud sich oft in Wahn und Blutvergießen, doch sie erwies sich als fruchtbar. Hinreichend Einigkeit für den Austausch von Ideen und Gütern, hinreichend Spaltung, um zu verhindern, dass keiner der vielen Irrtümer jemals den gesamten Subkontinent erfasste – zumindest nicht bis zu den Weltkriegen. China war geeinter, homogener und fiel zurück, weil zentralistische Fehler gravierendere Auswirkungen hatten: als etwa mit einem Schlag die Entdeckungs- und Handelsreisen der viel höher entwickelten chinesischen Flotte durch ein Verbot beendet wurden.

Haben wir zu viel Spaltung in Europa oder zu viel Einheit? Beides, denn die fruchtbare Spannung droht verloren zu gehen, weil die Geduld für Widersprüche sinkt und alles dem Mittelmaß untergeordnet wird. Es ist das Manko der Politik mit ihren Kompromiss-»Lösungen«, die für alle gleich zu gelten haben. Wir bräuchten Einigung ohne Einheitlichkeit und Widerspruch ohne Spaltung39.

Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 1, 3, 7, 40, 45, 48, 53, 58, 66

Europa auf der Intensivstation

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