Читать книгу Flut über Peenemünde - Rainer Holl - Страница 10
7 Freitag, 2. November, 7.00 Uhr
ОглавлениеDie polternden Geräusche passten nicht zu den Männerhänden auf ihrem Körper. Als sie dagegen protestieren wollte, war ihr Mund wie zugeschnürt. Ihre gerade begonnenen Lustschreie verwandelten sich plötzlich in metallischen Lärm. Dann erst erwachte Erika Walter und begriff, dass ihr Traum aufgehört hatte. Und dass es Freitag war.
Wie jeden Freitag wurde sie vom Müllauto aus dem Schlaf gerissen. Pünktlich gegen 6.45 Uhr ersetzte das Fahrzeug jeden Wecker in der schmalen Straße, in der solche Geräusche auch um die Ecke durch das hintere Fenster dringen.
Der Abend in ihrer Frauenrunde hatte für Erika erst nach Mitternacht sein Ende gefunden, die Stimmung war wie immer prächtig. Eine Mischung aus älteren und jüngeren, in Partnerschaft und alleine lebenden Frauen sorgte für die nötige Atmosphäre, jede konnte ihre Erfahrungen aus dem – oder ohne das – Zusammenleben mit Männern beitragen.
Nach einigen Minuten Zögern und der Hoffnung, dass die verbliebene Müdigkeit wenigstens den Schlaf erhält, ergab sich Erika in das Unausweichliche und wälzte sich unwillig aus dem Bett. Mit genau der Laune versehen, die jemand hat, der zu früh und nicht freiwillig einen viel zu kurzen Schlaf beenden musste, begab sie sich aus ihrem Schlafzimmer nach unten in die Küche. Bei gutem Willen begründete sie die Tatsache getrennter Schlafzimmer gerne als Zeichen von Individualität, eine andere Sicht würde das als Spiegelbild ihrer Ehe bezeichnen. Joachim und sie hatten sich damit arrangiert, wer den Vorschlag gemacht hatte, musste jetzt keiner von beiden mehr. Es war nichts, worüber sie sich den Kopf zerbrachen.
In Erwartung eines frischen Morgenkaffees öffnete Erika die Tür zur Küche – und wurde enttäuscht. Die Kaffeemaschine war leer, ganz entgegen der Gewohnheit von Joachim, etwas mehr Kaffee aufzusetzen, als er trinken wollte. Diese kleine Gefälligkeit wuchs mit den Jahren in seinem Verständnis zu einer selbstlosen Tat gegenüber seiner Ehefrau heran, kurz bevor er gegen 6.30 Uhr das Haus in Richtung seines Büros verließ und sich dabei bemühte, keinen Lärm zu machen.
Erika wollte schon ihre Enttäuschung mit der zu ihrer Laune passenden akustischen Stärke entfalten, besann sich aber und stieg die Treppe wieder hinauf. Vielleicht hatte der ältere Herr ja einfach verschlafen. Die gute Stimmung vom Vorabend kehrte zurück. Sie wollte ihren Ehemann ausnahmsweise einmal sanft aus dem zu langen Schlaf holen und den kleinen Triumph auskosten. Leise öffnete sie Joachims Schlafzimmertür und – sah ein unberührtes Bett! Die Möglichkeit, dass Joachim nach dem Aufstehen selbst das Bett gerichtet hätte, schloss sie aus, das war ihm noch nie passiert.
Der erste Schreck wich einem Gefühl von Selbstberuhigung. Wurde er etwa gestern unerwartet in Anspruch genommen und musste auswärts übernachten? Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger glaubte sie an diese Möglichkeit, dann hätte er wenigstens eine Nachricht hinterlassen. Bei ihrem Aufbruch am gestrigen Abend gab es dazu keinerlei Anzeichen.
Wo war er?
Warum rief sie ihn nicht einfach auf seinem Handy an? Sie war so durcheinander, dass sie an diese Möglichkeit zunächst gar nicht gedacht hatte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ihre Kontakte sich immer mehr verselbstständigten, jeder praktisch sein eigenes Leben führte.
In der Vorfreude, die Unsicherheit würde sich jetzt auflösen, wählte sie seine Nummer. Eine elektronische Stimme verkündete, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Also hatte er das Handy ausgeschaltet oder nicht rechtzeitig aufgeladen?
Oder…? Die Ungewissheit wuchs.
Mittlerweile war es 7.30 Uhr geworden. Erika wollte wissen, was los war, wo Joachim sich jetzt aufhielt.
Sie überwand sich und rief in seinem Büro in der Stadt Usedom an, wo er um diese Zeit schon angekommen sein musste. Woher immer er auch dahin gefahren war.
„Der Bürgermeister? Aber der hat doch heute um neun Uhr eine Beratung in Peenemünde, da lohnt es sich nicht, vorher hierher zu kommen. Hat er das nicht erzählt?“ Die Sekretärin staunte über die Nachfrage.
Erika Walter tat so, als hätte sie es vergessen und beendete schnell mit einer Entschuldigung das Gespräch.
Ihre Unruhe wurde damit nur größer.
Sie setzte sich auf ihren Stuhl in der Küche und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Auf Frühstück hatte sie jetzt keinen Appetit, aber der Kaffee musste sein. Sie nahm zwei Messlöffel Kaffeebohnen, mahlte sie mit der kleinen Maschine zu Pulver, kippte alles in eine große Tasse und goss kochendes Wasser dazu. Türkisch gebrühter Kaffee gehörte zu ihren absoluten Lieblingsgetränken, sie gönnte ihn sich eigentlich nur in guter Stimmung – oder wenn sie diese besonders nötig hatte. Erika Walter konzentrierte sich mühevoll auf den Genuss und spürte ihre Lebensgeister wieder erwachen. Sie wirkten gleichzeitig wie Verkehrsregler auf einer belebten Gedankenkreuzung.
Es war nicht ungewöhnlich, dass Joachim später oder nachts gar nicht nach Hause kam, aber bei aller Distanz in ihrer Beziehung, er informierte sie immer vorher darüber, damit sie sich keine Sorgen machen sollte.
Ob die Gründe, die er dafür vorgab, immer stimmten, stand auf einem anderen Blatt, das Erika gar nicht lesen wollte.
Beim Kaffeetrinken überflog sie nebenbei gewohnheitsmäßig die Zeitung, die sie schnell noch im Morgenmantel aus dem Briefkasten neben der Haustür gezogen hatte.
Zwei Themen ragten aus dem Lokalteil heraus, die beide in ihrer Bedeutung weit über die Aufreger hinausgingen, von denen die Küsten-Rundschau gewöhnlich beherrscht war.
Der Fund einer Wasserleiche am Peenestrom und immer noch die Gerüchte über erneute Pläne, den Deich zurückzubauen.
Das wird den Herrn Bürgermeister bestimmt beides interessieren, dachte Erika bei sich.
Plötzlich sprang dieser Gedanke zu ihren aktuellen Sorgen über und bildete ein noch stärkeres Kraftfeld.
Hatte das vielleicht mit Joachims Abwesenheit zu tun?
Erika blickte auf die Küchenuhr, die auf 8.30 Uhr zuging.
Sie rief nach kurzem Zögern im Museum Peenemünde an.
„Ja, Ihr Mann steht auf der Teilnehmerliste, Frau Walter. Warten Sie, ich frage nach, ob er schon hier ist. Meist nutzt er ja die Zeit davor für kurze Gespräche.“ Die Chefsekretärin kam nach wenigen Sekunden zurück. „Er ist noch nicht hier, soll er Sie anrufen, wenn er kommt?“
„Nein, danke, ist gut gemeint, so wichtig ist es dann doch nicht.“
Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte das Telefon. Eine Mobilfunknummer.
„Walter?“, meldet sich Erika mit fragendem Tonfall.
„Guten Morgen, ich bin Politesse und gerade in der Ostseestraße unterwegs. Hier steht ein blauer BMW-Geländewagen. Sagen Sie, fährt Ihr Mann nicht so einen?“ Sie nannte das Kennzeichen.
„Ja, der gehört uns, also meinem Mann. Was ist denn mit dem Auto?“
Erika durchzuckte ein unbestimmbares Gefühl, sie wusste in dem Moment nicht, ob sie sich freuen sollte. Die Entscheidung wurde ihr dann sofort abgenommen.
„Dachte ich mir doch, dass es Ihrer ist, deshalb rufe ich Sie gleich direkt an. Ihre Nummer habe ich von meinem Büro bekommen. Das Auto steht hier mit offener Heckklappe.“
„Oh, vielen Dank für die Information“, brachte Erika gerade noch heraus und meinte, eine Erklärung dafür vorbringen zu müssen. „Mein Mann ist wohl kurz zum Strand und hat vergessen, sie zu schließen. Ich fahre aber vorsichtshalber sofort hin. Wer weiß, wie lange er weg bleibt.“
„Das wäre schön, ich muss nämlich weiter.“
Die Politesse beendete das Gespräch mit nachdenklichem Gesicht. Sie hatte erwogen, gleich die Polizei zu informieren, entschied sich dann aber anders. Vielleicht würde sich alles ganz schnell aufklären, und dem neuen Bürgermeister blieben unnötige Schwierigkeiten erspart.
Für Erika war jetzt jedoch alles klar. Irgendetwas konnte hier nicht stimmen. Sie schlüpfte nur schnell in Pulli, Jeans und Jacke, fuhr mit ihrem kleinen Peugeot, ausnahmsweise ohne sich zu schminken, sofort zu der angegebenen Stelle.
Sie hielt neben dem BMW an, stieg aus, betrachtete die immer noch geöffnete Heckklappe. Das Fahrzeug stand mit dem Heck dicht an den Büschen, so dass von der Straße aus beim Vorbeifahren kaum zu erkennen war, dass die Klappe offen stand. Erika warf einen Blick in den Kofferraum und erkannte einen kleinen roten Fleck auf der Bodenmatte.
Sie erschrak, blickte sich um, wilde Gedanken flogen ihr durch den Kopf.
Dann wählte sie mit ihrem Handy die 110.