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3 Mittwoch, 31. Oktober, 20.30 Uhr
ОглавлениеJe tiefer die Stiefel im taunassen Gras versanken, desto mehr stieg die Stimmung von Hans Waldeck. Er ignorierte die ins Gesicht schlagenden nassen Zweige. Seine kleine gedrungene Gestalt bewegte sich geschmeidig und fast unhörbar durchs Revier. Alle seine Sinne waren auf Empfang gestellt. Besser noch als früher jedes technische Gerät in seinem Cockpit konnte Hans sofort auf alles reagieren, was sich in seiner Umgebung tat. Er ging förmlich auf in der Umgebung, die er während seiner Dienstzeit beim Jagdfliegergeschwader immer besser kennen und schließlich lieben gelernt hatte. Seine treue Hündin Dina bekam wie immer den Vorzug vor Falko, dem jungen Husky-Rüden. Dessen stahlblaue, durchdringende Augen flößten zwar Respekt ein, er war jedoch für die Jagd nicht geeignet. Zu wild, zu schwer zu beherrschen.
Die Hündin mit ihrem dunkelbraunen glatten Fell fühlte sich ganz in ihrem Metier. Sie war in ihre Rolle hineingewachsen, als Gehilfin ihres Herrn, mit der Aufgabe, Wild sofort zu bemerken und unauffällig zu signalisieren, damit der Jäger sich auf das Waidwerk konzentrieren konnte.
Endlich hatte Hans wieder Zeit und Muße und vor allem beste Bedingungen für sein größtes Hobby. Der klare sonnige Tag hatte gutes Büchsenlicht für den Abend angekündigt. Das wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen.
Schießen war schon immer eine Passion im Leben von Hans Waldeck. Das Gefühl, wie Auge, Kimme, Korn und Finger am Abzug eins wurden, den richtigen Moment abwarteten, das Ziel trafen, mit wenig Kraft, aber viel Konzentration fatale Wirkung erzielten, faszinierte ihn seit seiner Kindheit. Das eingespielte Paar aus Jäger und Hund näherte sich lautlos dem Schilf am Ufer des Peenestroms, bewegte sich jetzt in nördliche Richtung immer nahe am Wasser. Allmählich wurde das Gelände etwas freier und damit trockener. Der Nordstrand, eine etwa hundert Meter breite Lücke im ansonsten baumbestandenen Ufer, wurde im Sommer gern als Badestelle genutzt. Dina beschleunigte jetzt ihre Schritte und lief zielstrebig in Richtung Wasser. Lächelnd gönnte Hans seiner treuen Hündin dieses Vergnügen. Ja, sie kennt die Gegend genauso gut wie ich, dachte er, und konnte zu seiner Freude keine andere Person entdecken.
Plötzlich zog Dina beharrlich und ungeduldig an der Leine. Weder der Gegenzug von Hans Waldeck noch sein kaum hörbar gezischtes Kommando „Platz!“ zeigten Wirkung. Hans war kurz davor, ungeduldig zu werden, bisher hatte er sich immer auf seine Hündin verlassen können, ihr Gehorsam war Garant für ihr gutes Verhältnis.
Hans gab dem Zug der Hündin schließlich nach und ließ sie, die Leine jedoch straff haltend, laufen wohin sie wollte. Gleichzeitig suchte sein Blick sorgfältig die Umgebung ab und er lauschte auf jedes Geräusch.
Kein Mensch. Vielleicht ein totes Tier, vermutete er.
Direkt am Ufer blieb die Hündin vor einem Busch stehen und blickte zu Hans auf, ohne Laut zu geben. Ihre Augen schienen zu sagen: Hier ist etwas für mich, für dich, also für uns.
Hans sah sich immer noch ergebnislos um, was auch Dina bemerkte. Sie spürte, dass ihr Herr einen deutlicheren Hinweis brauchte und versenkte ihre Schnauze direkt in den Busch. Sie suchte etwas, fand es schließlich – und zog daran. Hans nahm seine Taschenlampe zu Hilfe, leuchtete so unauffällig wie möglich – und dann erstarrte er vor Schreck.
Dina hatte eine menschliche Hand zwischen ihren Zähnen. Er ließ den Lichtschein über die Wasseroberfläche unmittelbar neben den Ästen des Busches gleiten, musste näher treten und leuchtete direkt von oben ins Wasser, um die Reflexion zu vermeiden. Er sah einen unbekleideten menschlichen Körper im flachen Wasser liegen, konnte ihn aber nicht im Ganzen beleuchten, musste es schrittweise tun. Das Licht der Taschenlampe zeigte ihm, dass er hier die Leiche einer Frau gefunden hatte.
Dina ließ auf das entsprechende Kommando die Hand wieder los, war völlig verunsichert. Nicht nur wegen dieses ungewohnten Fundes mit dem unbekannten Geruch, der keinem der ihr bekannten Beutetiere entsprach, sondern auch wegen der Reaktion ihres Herrn. Vorsichtshalber blieb sie einfach sitzen und wartete, was passieren würde. Hans lobte seine Hündin mit leisen Worten.
Als der schmale Schein der Taschenlampe schließlich den Kopf der Toten traf, der sich zwischen den Gräsern am Ufer verborgen hatte, erschrak Hans erneut.
Er sah kein Gesicht.
Große Teile des Schädelknochens leuchteten gespenstisch hell im Mondlicht. Die ursprünglich wohl blonden Kopfhaare erschienen durch ihre Nässe dunkel.
Und noch etwas erkannte er: der rechte Arm der Leiche war mit einem dünnen Plastikseil an dem Busch befestigt.
Hans Waldeck versuchte, seine Gedanken zu ordnen, zwang sich zur Ruhe, strich seiner Hündin über Kopf und Rücken.
Plötzlich erschrak er und blickte sich hastig um. Wenn nun…
Hans schoss durch den Kopf, die Person, die für die Leiche verantwortlich war, könnte noch in der Nähe sein und ihn beobachten.
Aber Dina zeigte keinerlei Anzeichen dafür, dass ihre empfindliche Nase die Witterung eines anderen Lebewesens wahrgenommen hätte. Das beruhigte Hans schließlich. Er war es gewöhnt, in allen Situationen selbständig zu handeln. Doch nun fühlte er sich herausgefordert. Er nahm sein Mobiltelefon aus der Innentasche der winddichten Jacke und wählte die 110. Nach dem Telefonat blieb ihm nichts übrig, als der Bitte des Beamten zu folgen und an Ort und Stelle zu warten.
Erste Überlegungen suchten sich den Weg, er versuchte, eventuelle Zusammenhänge herzustellen. Doch auch ein nochmaliges vorsichtiges Ableuchten der Leiche mit der Taschenlampe brachte kein Ergebnis. Er wusste nicht, wer die tote Frau war. Hans Waldeck hatte den Berufsweg eines Offiziers hinter sich, das Sterben war dabei immer gegenwärtig. Der Tod des Gegners, des Kameraden, der eigene – obwohl der Verdrängungsreflex immer besser funktionierte. In seinen fünfundzwanzig aktiven Dienstjahren hatte Oberstleutnant a.D. Hans Waldeck nicht einen einzigen Toten zu Gesicht bekommen.
Und nun die Frau ohne Gesicht. Hilflos.
Endgültig.
Zu den Tieren, die durch Schüsse aus seinem Jagdgewehr ihr Leben beendeten, zog Hans Waldeck keinerlei Parallelen. Ihn bedrückte am meisten, dass er in dieser Situation nichts unternehmen konnte und durfte. Auch Dina war verunsichert, schmiegte sich leise jaulend an die Beine ihres Herrn.
Eine knappe halbe Stunde später näherten sich zwei Fahrzeuge. Hans gab wie vereinbart Lichtzeichen, die Polizeifahrzeuge hielten, die Beamten stiegen aus, nahmen die Personalien des Zeugen auf und baten ihn, noch zu warten. Dann nahmen sie den Fundort in Augenschein und sperrten ihn weiträumig ab.
Nach wenigen Minuten stellte sich einer der Beamten, kaum älter als dreißig Jahre, als Hauptkommissar Arne Bock vor.
„Herr Waldeck, ich denke, wir nutzen die Gelegenheit und Sie beantworten mir gleich einige Fragen zum Fund der Leiche.“
Sie setzten sich dazu in eines der beiden Einsatzfahrzeuge.
Der Kommissar hatte mit gemischten Gefühlen diesen unerwarteten Einsatz am späten Abend aufgenommen. Er konnte dafür zwar eine Verabredung nicht einhalten, fühlte sich jedoch herausgefordert, denn Leichenfunde waren in dieser Gegend fernab von den Metropolen nicht gerade alltäglich.
Er taxierte den Jäger unverhohlen und versuchte, ihn in eine seiner bevorzugten Kategorien einzuordnen. Dabei bemerkte er, wie sein Gegenüber ihn ebenfalls eindringlich musterte. Bock entschloss sich zu einer betont sachlichen Strategie, baute auf die Bereitschaft des Zeugen.
„Schildern Sie bitte zunächst genau, wie Sie die Leiche gefunden haben.“
Hans Waldeck begann eine ausführliche Beschreibung seiner Pirsch. Bock unterbrach ihn nicht, obwohl er manchmal kurz davor war, den Redefluss des Jägers zu kanalisieren. Erst am Ende fragte der Kommissar nach.
„Ihr Jagdrevier ist doch bestimmt ziemlich groß“, was Waldeck durch ein Nicken bestätigte. „Wie oft sind Sie denn hier unterwegs? Und wann war es das letzte Mal?“
Hans Waldeck überlegte nur kurz. Er war ein sehr genauer Mensch und führte Buch über seine Pirschjagden. „Das war vor genau drei Wochen, aber leider erfolglos.“
„Können es auch vier Wochen gewesen sein? Vielleicht am dritten Oktober?“
Aus der Reaktion auf solche Überraschungsfragen hatte Bock schon oft neue Erkenntnisse gewinnen oder die Befragten verunsichern können. Schließlich war an dem betreffenden Tag ein Mensch verschwunden. Doch dieses Mal hatte er kein Glück. „Ausgeschlossen, da war ich gar nicht auf der Insel.“ Hans Waldeck blickte den Kommissar fragend an, der aber darauf nicht reagierte.
„Gut.“ Arne Bock ließ offen, ob er Waldeck glaubte und fragte weiter. „Ist Ihnen während des Weges hierher etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Nein, gar nichts. Die Leiche ist ja offensichtlich an den Fundort transportiert worden, was sich aus der Befestigung am Busch schließen lässt. Und die Zufahrt ist für jeden erreichbar, die Einheimischen kennen den Weg zum Nordstrand.“
Bock lächelte innerlich über den Hobbydetektiv, der offenbar vor ihm saß. Der erste Eindruck sprach für übereifrig.
„Haben Sie Ihr Haus zu Fuß verlassen?“
„Nein, da würde ich zu viel Zeit verlieren. Ich bin mit dem Auto bis zum Peenemünder Hafen gefahren, zur nördlichen Zufahrt. Außerdem muss ich ja meine Strecke“, er hielt kurz inne, und übersetzte dann aus der Jägersprache, „also meine Jagdbeute irgendwie transportieren.“
„Haben sie vielleicht während Ihrer Pirsch Fahrzeuggeräusche aus Richtung der Fundstelle gehört, oder ist Ihnen auf dem Weg zum Hafen ein Fahrzeug entgegengekommen?“
„Nein, auch da muss ich Sie enttäuschen. In der kurzen Zeit, die ich von Peenemünde bis zum Abzweig Richtung Hafen brauchte, habe ich überhaupt kein Fahrzeug gesehen. Und während der Jagd ist mir aus Richtung Nordstrand keinerlei Geräusch aufgefallen. Auch meiner Dina nicht.“ Bei diesen Worten klopfte Hans Waldeck der neben ihm sitzenden Hündin anerkennend auf die Schulter.
Bis hierher entsprachen die Antworten durchaus den nicht sehr hohen Erwartungen des Kommissars, der die nächste Frage nach kurzem Zögern anschloss.
„Wer wusste davon, dass Sie heute zur Jagd gehen würden?“.
Hans Waldeck überlegte bei dieser Frage.
„Meine Frau natürlich, und wie üblich der Revierförster. Um unerwünschten Überraschungen vorzubeugen, informiere ich ihn jedes Mal, meist im Laufe des jeweiligen Tages.“
„Sagen Sie ihm auch, wohin genau Sie gehen werden?“
„Ja, soweit ich das vorher absehen kann. Manchmal wechsle ich auch den Standort im Laufe der Pirsch. Das ist wie beim Pilze sammeln. Sammeln Sie Pilze?“ Bock war viel zu sehr auf die Befragung konzentriert, um darauf einzugehen.
„Wenn jemand sieht, dass Sie um diese Zeit das Grundstück mit dem Auto verlassen, kann er sich dann denken, wohin Sie fahren?“
Endlich begriff Hans Waldeck. „Sie meinen, mich könnte jemand beobachtet haben?“
„Genau das meine ich. Und?“
„Schon möglich“, sagte Hans leicht zögernd und dachte darüber nach, wer ihm vor der Abfahrt über den Weg gelaufen war. Seine Augen verrieten jedoch nichts.
„Darauf habe ich nicht geachtet. Natürlich geht der normale Mensch nicht davon aus, unter Beobachtung zu stehen.“
Der normale Mensch sicher nicht, dachte Bock aus einer Eingebung heraus.
„Auch wenn die Frage angesichts des Zustandes der Leiche makaber klingt, haben Sie den Eindruck, diese Frau gekannt zu haben?“
„Nein, den Eindruck habe ich nicht“, kam die exakte Antwort.
Zielführende Fragen hatte der Kommissar im Moment nicht mehr. Der Zeuge schien wirklich nicht mehr zu wissen, als er ihm entlocken konnte. Dennoch blieb bei Bock ein Rest Skepsis, wie immer bei solchen Befragungen.
„Gut, Herr Waldeck, zunächst danke ich Ihnen für die Hilfe. Sie können dann gehen. Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, was uns weiter bringt, hier ist meine Karte. Und Sie werden sich bestimmt für weitere Fragen unsererseits bereithalten.“
Bock verwendete das Wort uns absichtlich in doppeldeutigem Sinne, denn er hatte sehr wohl den Ehrgeiz Waldecks bemerkt, als Partner anerkannt werden zu wollen.
„Selbstverständlich, Herr Kommissar“, erwiderte Hans mit innerlich zufriedenem Lächeln.
Die Leiche wurde nach einer vorläufigen Untersuchung des Umfelds geborgen und abtransportiert, mit dem Tageslicht am kommenden Morgen sollte die gründliche Untersuchung weitergehen.
Hans Waldeck begab sich auf dem kürzesten Weg zu seinem Auto. Für die Jagd war ihm die Lust vergangen, das Büchsenlicht auch zu schwach geworden. Enttäuschung über den misslungenen Jagdabend ergriff den Mann.
Plötzlich aufkommende Befürchtungen, welche Konsequenzen sein Fund für ihn persönlich haben würde, wollte er verdrängen, was ihm jedoch nicht gelang.
Als er seinen Hof erreicht hatte, dachte Hans Waldeck nochmals an die Fragen des Beamten. Ob der etwa meinte, gerade ich sollte gestern Abend an genau dieser Stelle die Leiche finden? Eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein. Aber wer sollte das arrangieren können? Er hielt es für ein zu gewagtes Gedankenexperiment dieses jugendlichen Ermittlers.
Und die Frage nach dem dritten Oktober machte ihn erst nachträglich stutzig, als er sich daran erinnerte, dass sein ehemaliger Vorgesetzter genau an diesem Tag verschwunden war, was natürlich für Aufsehen gesorgt hatte. Der Schuss des Kommissars ins Blaue hinein bedeutete also, es gab noch immer keine Spur.
Als Arne Bock kurz vor Mitternacht nach Hause kam, lag das neu bezogene Haus im Wolgaster Ortsteil Mahlzow im Dunkeln, seine Frau Kerstin schlief schon.
Er ging leise in sein Arbeitszimmer, fuhr den Laptop hoch und loggte sich in seinen Chat ein. Er hatte Glück, die Nutzerin mit dem Nick Zauberfrau war noch online, obwohl sie sich schon für eine frühere Zeit verabredet hatten. Die folgenden Minuten gaben Arne die Gewissheit, dass seine Fähigkeiten, auf die besonderen Bedürfnisse von Frauen die richtigen Worte zu finden, sich immer mehr verbesserten. Er würde diese Zauberfrau wohl nie treffen, kannte nichts von ihr als Worte. Die Umrisse und das Profil ihres Körpers entstanden nach seinen Wünschen ausschließlich in der eigenen Fantasie. Als er sich völlig in den Umgang seiner Hände mit der vollendeten Weiblichkeit und deren rauschhafte Reaktion versenkte, genoss er wie schon so oft diese faszinierende archaische Form der Erotik.