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4 Donnerstag, 1. November, 7.55 Uhr

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Kriminalhauptkommissar Arne Bock schlug fast übermütig die Autotür zu und betrat so gelöst wie lange nicht den modernen, quaderförmigen Bau der neu erbauten Polizeidienststelle an einer belebten Kreuzung in Wolgast. Er fühlte sich von elementarem Tatendrang getrieben.

Endlich eine Herausforderung!

In seinem Büro deponierte er nur die kleine Schultertasche und schlenderte sofort ins Chefzimmer des Dienststellenleiters zum morgendlichen Rapport. Wie erwartet erhielt er wenige Minuten später auch offiziell die Verantwortung für den Vorgang, wie es amtsdeutsch hieß, „Wasserleiche Peenestrom“. Es war nicht sein erster Fall als leitender Ermittler, aber der bisher schwerwiegendste. Unsicherheit ließ der schlanke dunkelhaarige Mann mit dem klitzekleinen Bauchansatz gegenüber Polizeidirektor Hartmut Westphal nicht erkennen.

Westphal hatte den Wechsel von der grünen zur blauen Uniform gleich zu einer Größenanpassung genutzt, was Arne Bock nur ein Schmunzeln entlockte. Nach seinem Verhalten als Chef der Dienststelle zu urteilen, strebte Westphal offenbar an, dass diese Position in Wolgast nicht die letzte seiner Laufbahn werden sollte. Arne Bock behielt seine Meinung dazu lieber für sich. Erst seit einem Jahr war der Dreiunddreißigjährige hier in der nordostdeutschen Provinz. Nach der Ausbildung hatte er sich zunächst dagegen gewehrt, in diese abgelegene Region versetzt zu werden, was vor allem an seiner Familiengeschichte lag. Als Kind war der kleine Arne aus seinem Wohnort Berlin regelmäßig zu Besuch auf Usedom. Arne gewann damals diese schöne Insel lieb. Und die schmucke Uniform seines Großvaters Reinhard Henkelmann, der ihm noch mehr zur vertrauten Bezugsperson wurde, nachdem sein Vater tödlich verunglückt war.

Später kam der jugendliche Arne allmählich in Konflikt mit dem früheren Idol. Was als normale Distanzierung eines Teenagers zur älteren Generation begann, verstärkte sich noch, als sein Großvater die neuen Bedingungen nach der politischen Wende völlig ablehnte. Arne suchte nach einer eigenen Meinung über die untergegangene DDR, erkannte neue Möglichkeiten und geriet so manches Mal in eine fruchtlose Diskussion mit dem Ex-Offizier.

Mit wachsender Reife setzte Arne auf die Vernunft beider Seiten. Erfolgreich, wie sich bald zeigte. Er stellte schließlich selbst den Versetzungsantrag nach Wolgast und begann sich seinem Großvater wieder zu nähern.

Vom Umzug an die Küste war seine Frau Kerstin zunächst begeistert. Schon bald hatte sie ihre Entscheidung aber bereut. Ihre bayrische Heimat rangierte hier an der Ostsee unter den beliebtesten deutschen Dialekten eher im hinteren Viertel, und ihre Schüler vor allem in den mittleren Klassen waren dieser Tatsache gegenüber mindestens ebenso rücksichtslos und ungebildet wie so mancher Erwachsene. Sogar als „Schwäbin“ wurde sie bereits denunziert. Und die immer noch enge Verbindung von Arnes Großvater zu seinem früheren Staat ging ihr bald nur noch auf die Nerven.

Ergebnis war schließlich eine sich verstärkende Distanzierung, verbunden mit einer immer mehr körperlosen Partnerschaft mit Arne, wozu auch die noch sehr betreuungsbedürftigen Kinder ihren Teil beitrugen.

„Ich setze großes Vertrauen in Sie, Bock“, hatte ihm Westphal Mut gemacht. „In der Vermisstensache Bornhöft kommen wir im Moment nicht weiter, sie steckt immer noch in der Sackgasse, ohne verwertbare Hinweise. Also volle Kraft auf diesen Fall. Zunächst haben Sie die Kollegin Mesing und den Kollegen Reuschel als Unterstützung, sie sind bereits informiert worden. Heute Abend erwarte ich Ihren ersten Bericht.“

Das spurlose Verschwinden eines früheren hohen Offiziers aus Karlshagen hatte einige Tage lang Wellen geschlagen, danach verloren sich die Reaktionen in Mutmaßungen und Gerüchten ohne Substanz. Arne vermutete jedoch etwas Großes hinter dieser Vermisstensache, ja er wünschte es sich sogar, natürlich nur aus beruflichem Ehrgeiz.

Zunächst befasste er sich mit den vorliegenden Informationen des Vorabends und ließ auch sein Gespräch mit Hans Waldeck nochmals Revue passieren. Als die Spurensicherer gegen 9 Uhr vom Fundort eintrafen, staunte deren Leiter Erwin Meister nicht schlecht, mit welcher Ungeduld er von Arne Bock noch auf dem Flur empfangen und zu den Ergebnissen ausgefragt wurde.

„Willst du einen neuen Ermittlungszeit-Ergebnisrekord aufstellen, lieber Arne?“ Arne Bock mochte den in sich ruhenden Erwin Meister, der oft mit klugen Hinweisen die Ermittlungen beförderte.

„Ich will dir nur den Weg in mein abgelegenes Eckbüro abnehmen und dir jetzt gleich die Zeit für einen entspannenden Morgenkaffee ohne Zeitdruck geben.“

Beide lächelten wortlos, gaben damit ihrem gegenseitigen Respekt Ausdruck. Arne nahm die Unterlagen entgegen und vertiefte sich in die mageren Ergebnisse. Danach bat er die beiden ihm zugeteilten Kollegen zu sich.

Schon nach kurzer Dienstzeit in Wolgast fühlte er sich seinen älteren Kollegen überlegen. Doch bislang war er noch auf die lange Berufserfahrung und vor allem die gute Milieukenntnis seiner Mitstreiter angewiesen.

Er schaute sich in dem nüchtern und zweckmäßig eingerichteten Büro um. Durch die Lage an der Ecke des Gebäudes hatte er gute Aussicht in zwei Richtungen, die im Winkel angeordneten Fenster gaben dem Raum ein helles Erscheinungsbild.

Als Rita Mesing und Siegfried Reuschel zusammen sein Büro betraten, nahmen sie ohne Aufforderung am Beratungstisch Platz, auch Bock setzte sich hinzu.

„Also liebe Kollegen, wir werden gemeinsam diesen Fall zu lösen haben, im bewährten Teamgeist. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.“

Diese förmliche Einleitung hielt Arne Bock für angemessen, um seine Rolle als Chef von vornherein klarzustellen.

„Ich denke, wir freuen uns auch darauf, nicht wahr, Siegfried?“ Siegfried Reuschel nickte nur abwesend. Rita Mesings Bemerkung war betont sachlich gehalten, so dass Arne auch bei größter Mühe keine Ironie heraushören konnte. Trotzdem blieb er misstrauisch. Mit Recht, wie er sogleich vernahm.

„Du wirst uns sicher zuerst über die Befragung am Fundort der Leiche informieren, oder?“

Arne reagierte schnell, lächelte den Sarkasmus von Siegfried Reuschel weg, der offenbar Probleme damit hatte, ihn als Autorität zu respektieren.

„Fangen wir lieber von vorne an“, fasste Arne zusammen.

Auch die sorgfältige Untersuchung am Peenestrom durch die Spurensicherung bei Tagesanbruch hatte keinerlei Ergebnisse gebracht, die Schlussfolgerungen in irgendeine Richtung zuließen. Von den vielen Reifenspuren waren keine isoliert oder als jüngeren Datums identifiziert worden. Und der Sand war zu locker, um Spuren zu bewahren. Eventuelle Handlungsabläufe konnten deshalb nicht rekonstruiert werden. Das Umfeld des Fundorts wurde nach Blutspuren untersucht, allerdings ohne Erfolg. Sie wären aber auch sehr leicht nachträglich zu beseitigen gewesen. Den Obduktionsbefund aus Greifswald erwartete Arne Bock nicht vor dem Abend.

Dann erst gab Arne den Inhalt des Gesprächs mit Hans Waldeck wieder.

„Ach, ein Edeladler ist also auch im Spiel“, entfuhr es Siegfried Reuschel nach Nennung des Namens. Arne stutzte kurz, als er auf diese Weise erfuhr, dass der Jäger ein früherer Offizier war. Den neidvoll-anerkennenden Kosenamen für Piloten kannte er von seinem Großvater.

Er musste schnell wieder die Kontrolle zurückgewinnen.

Ein Beamter betrat nach kurzem Klopfen das Büro und übergab Arne eine Mappe.

„Hier. Von der Uni Greifswald.“

„Jetzt schon?“, staunte Bock und bedankte sich. Ein solches Tempo waren die Polizisten von der Greifswalder Rechtsmedizin nicht gewohnt. Sie konnten nicht wissen, dass gerade in diesen Tagen der Bereitschaftsdienst mit ständiger Anwesenheit im Labor getestet wurde. Mangels anderer Arbeit bekam die diensthabende Ärztin die Leiche noch vor Mitternacht auf den Tisch, und hatte die gesamte Nacht zur Verfügung. Arne Bock nahm die Blätter an sich und überflog sie. Er ließ dabei seine beiden Kollegen einfach zusehen, spürte ihre Neugier ebenso wie ihren Unmut darüber. Dann blickte er beide an, als ob alles selbstverständlich wäre und fasste das Obduktionsergebnis des Rechtsmedizinischen Insti­tuts der Universität Greifswald zusammen.

„Das Alter der Frau wird auf dreißig bis vierzig Jahre geschätzt. Todesursache ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Genickbruch durch die Einwirkung stumpfer Gewalt auf die Halswirbelsäule. Durch das Fehlen von Blutspuren konnte diese Tatsache bei bloßer Anschauung nicht erkannt werden.“

Siegfried Reuschel hakte hier ein.

„Gibt es genauere Hinweise, auf welche Weise die tödliche Verletzung entstanden sein kann?“

Arne suchte in den Papieren nach einem Ansatz, die Frage zu beantworten.

„Nein, dazu gibt es keine Aussage.“ Er fuhr fort.

„In der Lunge war kein Wasser. Die Frau muss also schon tot gewesen sein, als sie in die Peene gelegt wurde. Das am Gesichtsknochen fehlende Gewebe wurde eindeutig post mortem entfernt. Ursache wahrscheinlich Tierfraß, da an den sehr unregelmäßigen Wundrändern keine Spuren menschlicher Werkzeuge oder Instrumente feststellbar waren.“

„Tierfraß?“ Rita erstaunte diese Aussage. „Würde ein Tier nicht zunächst … andere Stellen bevorzugen?“ Sie zögerte, suchte nach einer geschickten Formulierung. „Ergiebigere?“

„Ich kann mich nicht so gut in einen Aasfresser hineinversetzen“, gab Arne zurück, während er seine Mundwinkel leicht nach außen zog.

„Geben denn Bissspuren Anhaltspunkte auf ein bestimmtes Tier?“ Auch Siegfried beteiligte sich an der Rätselei.

„Nein.“ Arne fand dafür im Bericht keinen Ansatz.

In diesem Moment fiel ihm der Seeadler ein, den er bei seinen Besuchen auf der Insel regelmäßig beobachten konnte. Er wollte jedoch die Spekulationen nicht weiter auffächern. „Die Spurensicherung hat übrigens keine Hinweise darauf ergeben, ob der Tatort in der Umgebung oder ganz woanders zu vermuten ist. Wir haben also viele Lücken zu schließen“, stellte Arne fest.

„Den Zeitpunkt des Todes datiert die Pathologin auf den 30. Oktober zwischen 12 und 24 Uhr. Es ließ sich nicht mit ausreichender Genauigkeit feststellen, wie lange die Frau schon tot war, ehe sie ins Wasser gelegt wurde. Daher die lange Frist.“ Arne unterbrach kurz, registrierte die Anspannung seiner Mitstreiter und setzte fort.

„Im Blut fand sich ein Alkoholgehalt von 0,5 Promille, passend dazu im Magen Reste von Rotwein. Über die Sorte steht hier nichts.“

Keiner nahm das Lächeln von Arne auf.

„Und“, Arne hob die Augen und sah mit der Gewissheit in die Runde, jetzt mehr Aufmerksamkeit zu erregen, „die Frau hatte nicht lange vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr. Spermaspuren einer Person wurden sichergestellt, eine DNA-Analyse des Sekrets, und natürlich der Frau selbst, sind bereits in Arbeit.“

Dem Bericht lagen die Abbildungen von zwei Tattoos bei, die auf den Oberarmen der Toten noch recht gut zu erkennen waren. Arne schloss den Bericht mit dem Hinweis, dass im gesamten Bundesland bisher keine Vermisstenmeldung vorlag. Das hatte eine entsprechende Anfrage bereits unmittelbar nach dem Leichenfund ergeben.

Mit entschlossener Miene und lauter Stimme setzte Arne Bock zu einem kurzen Resümee an.

„Fassen wir zusammen. Weibliche unbekannte Leiche, dreißig bis vierzig Jahre alt, Todesursache Genickbruch durch stumpfe Gewalt, der Handlungsablauf kann nicht sicher rekonstruiert werden. Die Begleitumstände sprechen dafür, dass die Tat zumindest nicht am unmittel­baren Fundort verübt wurde. Verwertbare Spuren außer dem handelsüblichen Plastikseil, eine Wäscheleine, wurden nicht gefunden.“

„Wenn es überhaupt eine Straftat war“, meldete Siegfried Reuschel Bedenken an.

Fragend blickten die anderen beiden zu ihm.

„Und wenn jemand einfach die Leiche gefunden und dort festgebunden hat, damit sie nicht wegtreibt?“

Arne Bock war für einen Moment unsicher, wie er dieser offenbar völlig aus der Luft gegriffenen Vermutung des älteren Kollegen begegnen sollte. Ein kurzer Blick zu Rita Mesing zeigte ihm, dass auch sie die Bemerkung nicht ernst nahm.

„Du liest zu viel Fachliteratur, Siegfried“, entschloss er sich für unverbindliche Ironie. Reuschel jedoch blieb bei seinem Zweifel. „Solange wir keinen eindeutigen Beweis für eine Tötung haben, müssen alle Möglichkeiten offen bleiben. Die Frau kann ja schließlich auch gestürzt sein.“

Siegfried Reuschel pflegte den Ruf eines Querulanten, der selbst nahe liegende Tatsachen immer wieder in Frage stellte. Seine Kollegen bekamen den Eindruck, er mache das aus Prinzip, um Aufmerksamkeit zu erregen. Manche schoben es darauf, dass er mit allen Karriereambitionen mehr oder weniger freiwillig abschließen musste und sich in den zehn verbleibenden Jahren bis zu seiner Pensionierung etwas Narrenfreiheit leisten wollte. Als Ausgleich für verpasste Chancen, denn 1989 stand er auf dem Sprung zu höheren Aufgaben bei der Bezirksbehörde der Volkspolizei. Andererseits war er bemüht, den Bogen nicht zu überspannen und seinen Status aufs Spiel zu setzen. Und damit sein erst vor wenigen Jahren bezogenes Eigenheim an der Wolgaster Spitzenhörnbucht, mit einem unvergleichlichen Blick auf Peenestrom und Klappbrücke.

Arnes Strategie war es, die positive Seite dieser Pedanterie zu nutzen, den Genauigkeitswahn. Wenn möglich vermied er unnötige Konfrontation, hatte schon mehrfach durch Ignorieren so manche destruktive Äußerungen von Siegfried Reuschel ins Leere laufen lassen. Eine persönliche Beziehung konnte er bisher zu Siegfried nicht herstellen, zu oft musste er die kleinen Nadelstiche gegen seine Autorität abwehren.

„Gut, wir kommen hier nicht weiter und müssen warten, bis die Identität der Leiche festgestellt wurde. Und das kann ohne Vermisstenmeldung und Registrierung der DNA mühsam werden“, beendete Arne Bock die Runde.

Rita Mesing verließ zusammen mit Siegfried Reuschel das Zimmer ihres Chefs. Sie hatte schon zu einer Bemerkung über das forsche Agieren des jungen Kommissars und die tollkühne Vermutung ihres Kollegen angesetzt, ließ es jedoch sein, als sie das teilnahmslose Gesicht an ihrer Seite wahrnahm.

Arne begab sich zu seinem Chef Hartmut Westphal und informierte ihn über den Stand der Dinge. Westphal nahm die Information wortlos mit einem eher als Skepsis zu deutendem Kopfnicken entgegen, was Arne mit einem Anflug von Trotz als neue Herausforderung annahm.

Die eben vernommenen Beiträge seiner Kollegen waren ja auch eher dürftig und ideenlos. Er musste einfach höhere Forderungen stellen, ohne dabei selbst als hilflos zu erscheinen.

Wieder in seinem Büro angekommen, blickte er auf seinen PC und spürte plötzlich ein Verlangen, sich in den Chat einzuloggen. Aber auf dem polizeilichen Computer war das ausgeschlossen.

Flut über Peenemünde

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