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8 Freitag, 2. November, 9.05 Uhr
Оглавление„Was erlauben die sich?“, rief Arne Bock erbost aus. „Will wohl Sheriff spielen, diese Frau Wollmann. Oder die Quoten steigern?“
Übereinstimmend empfanden die drei Polizisten den vorabendlichen Bericht der Chefreporterin Daniela Wollmann von ARGUS-TV über die Wasserleiche als Affront gegen die Polizei. „Wenn sie uns wenigstens vorher darüber informiert hätte, aber so beeinflusst das eindeutig unsere Ermittlungen. Was von solchen Fällen an die Öffentlichkeit kommt, bestimmt doch wohl immer noch die Polizei.“ Rita Mesing und Siegfried Reuschel sahen sich an, lächelten in seltener Einmütigkeit jeder für sich über den Gefühlsausbruch ihres Chefs.
„Für euch ist das wohl völlig normal?“ Arnes Zorn ebbte nicht ab.
Die Enttäuschung vom Vortag über den Beginn der Ermittlungen war Arne Bock immer noch anzumerken. Mangels anderer Anhaltspunkte hatten sie begonnen, das Umfeld des Zeugen Hans Waldeck zu durchleuchten, was jedoch kein verwertbares Ergebnis brachte. Auch für einen Zusammenhang mit dem Verschwinden von Dieter Bornhöft am 3. Oktober, dessen Umstände völlig im Dunkeln lagen, gab es keinerlei Hinweis. Deshalb kam Arne die Eigenmächtigkeit des Senders gerade recht, um sich abzureagieren.
Seine beiden Kollegen kannten, anders als Arne Bock, so manches Beispiel aus der Zusammenarbeit mit ARGUS-TV, das ihnen bei Ermittlungen geholfen hatte. Besonders nachdem Daniela Wollmann drei Jahre zuvor dem bis dahin etwas verschlafenen Provinzkanal neues Leben eingehaucht hatte. Natürlich konnten sie den Alleingang des Lokalsenders nicht gutheißen, sie kannten aber den Ehrgeiz der TV-Leute und hatten mehr Verständnis für diese Aktion, als es die Vorschrift hergab.
„Weißt du, Arne, lass uns mit der Wollmann über die Sache reden. Vielleicht kann daraus eine produktive Zusammenarbeit werden. Die Aufnahmen stammen zweifellos vom Täter, und das allein ist doch schon eine bemerkenswerte Tatsache. Er will offenbar, dass alles an die Öffentlichkeit kommt. Warum auch immer. Und ARGUS-TV hat eine wachsende Reichweite, das kann uns bestimmt noch helfen. Scharfes Schießen heben wir uns für später auf. Und dass es jetzt auch hier sowas wie Pressefreiheit gibt, das habt ihr auf eurer Polizeischule doch wohl auch schon mitbekommen.“
Rita Mesing warf ihren gesamten weiblichen Charme in die Waagschale, konnte sich den Seitenhieb auf den Jüngeren aber nicht verkneifen.
Ihre lange Dienstzeit hatte zu einer inneren Ruhe geführt, die sich positiv auf das Klima im Team auswirkte. Sie hatte nun mit über fünfzig alle Karriereambitionen aufgegeben, war froh, 1990 in die neugeordnete Polizei übernommen worden zu sein und gestaltete ihr Leben mit ihrer Familie so, dass alle damit zufrieden sein konnten. Sogar ihre Kollegen und Vorgesetzten. Dabei war sie nicht selbstgenügsam, sondern nahm so manche Weiterbildungsmöglichkeit wahr. Rita ging in der Ermittlungsarbeit auf und blickte mit immer kürzerer Distanz und wachsender Vorfreude allmählich auch nach vorn zum Ende ihres Berufslebens. Sie war professionell genug, zu Arne Bock aus dem Altersunterschied kein mütterliches Verhältnis abzuleiten. Gleichzeitig registrierte sie, dass ein zaghaftes Anwachsen gegenseitigen Vertrauens zwischen ihr und ihm oft durch seine Arroganz zunichte gemacht wurde. Sie zeigte nachsichtiges Verständnis für dessen Zwang, den Chef herauskehren zu müssen, auch wenn es nicht ihrer Anforderung an Charakter entsprach. Rita fühlte sich außerdem keineswegs zu alt für Weiblichkeit, wurde dazu beim morgendlichen Blick in den Spiegel sogar immer wieder ermuntert.
Arne Bock zögerte, schluckte kommentarlos die spitze Schlussbemerkung, versuchte sich zu beruhigen. Er war ganz und gar nicht mit einer solchen nachgiebigen Haltung einverstanden. Als er gerade zu einer Erwiderung ansetzte, entschärfte ein Klopfen die Spannung, der Diensthabende trat ein und blickte in die Runde. Sein Gesichtsausdruck kündigte eine wichtige Information an.
„Hier, gerade angekommen, vielleicht interessiert euch das“. In der Gewissheit, dass es für die Kriminalisten wichtig sein würde, legte er ein Blatt Papier auf den Tisch und verließ den Raum.
Siegfried Reuschel griff spontan nach dem Blatt, las sich den Text durch und sah zu seinen Kollegen. Plötzlich packte ihn der Übermut und er sagte trocken: „Nehmt euer Zeug!“
Er verbesserte sich sofort, zog diese Bemerkung aus einer bekannten US-Krimiserie zurück, die ja auch nur dem Chef zustand und informierte die beiden anderen über die Vermisstenmeldung von Erika Walter, die besonders einen Blutfleck im Auto ihres Mannes hervorhob.
Sie blickten sich nachdenklich an. Ein Zusammenhang mit der unbekannten Wasserleiche war aus diesen knappen Informationen nicht herauszulesen.
Arne Bock ergriff die Initiative. „Schon wieder ein Vermisster. Und wieder aus der Regional-Prominenz.“ Sofort drängte sich ihm ein Zusammenhang auf.
„Das kann kein Zufall sein“, legte er sich fest.
Rita reagierte sofort. „Vermutest du etwa einen Serientäter, Arne?“
„Im Moment können wir gar nichts ausschließen“, antwortete Arne unverzüglich, der Ritas Ironie einfach ignorierte. Darauf wandte er sich an Siegfried. „Nimm dein Zeug“, hier machte er eine vielsagende Pause, „ und geh zu ARGUS-TV, versuche mehr über die Fotos und deren Urheber herauszubekommen. Aber kein Wort von dem neuen Vermisstenfall. Vorerst. Und du, Rita, sag Erwin Meister Bescheid, wir fahren sofort los, ich brauche dich als Frau zu Frau.“
Jetzt wird´s richtig spannend.
Diese laut geplanten Worte konnte Arne Bock gerade noch in seine Gedanken versenken.
Erika Walter stand noch immer unschlüssig am BMW, als die beiden Polizeifahrzeuge eintrafen. In den fast fünfundvierzig Minuten zwischen ihrem Notruf und der Ankunft der Beamten war Erika einige Male in Richtung Strand gegangen, der nur wenige hundert Meter entfernt hinter dem schmalen Waldstreifen lag. Vielleicht stimmte ja sogar, was sie der Politesse vorgeschwindelt hatte. Das Auto ließ sie jedoch nicht aus den Augen, auch die Klappe zu schließen, traute sie sich nicht, um keine Spuren zu verwischen. Von Joachim war jedoch weit und breit nichts zu sehen.
Arne und Rita traten zu Erika, stellten sich und ihre Begleiter von der Spurensicherung vor. Erika beteuerte, keinerlei Veränderungen am Auto vorgenommen und nichts berührt zu haben. Die Spurensicherer nahm das Fahrzeug in Augenschein, fotografierten den Blutfleck und veranlassten einen Transport in die Polizeiwerkstatt nach Wolgast. Die Ermittler wandten sich Erika Walter zu, der die Unruhe ins Gesicht geschrieben stand.
„Wir haben viele Fragen an Sie, Frau Walter. Wie wäre es, wenn wir zu Ihnen nach Hause fahren und uns dort in Ruhe unterhalten?“, schlug Arne Bock vor. Erika nickte schweigend, setzte sich in ihren kleinen Peugeot und fuhr voraus.
Sie saßen zu dritt um den Wohnzimmertisch, tranken von dem Kaffee, den Erika neu aufgebrüht hatte, während sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.
Sie beantwortete die Fragen der Ermittler über die Umstände des Verschwindens, ließ natürlich alle Hintergrundgedanken aus, die sie für unwichtig hielt.
Das anschließende kurze Schweigen brach dann Rita Mesing, von Arne Bock durch leichtes Kopfnicken dazu aufgefordert.
Mit vorsichtigen Worten, ständig die Reaktion von Erika Walter beachtend, begann sie.
„Frau Walter, wir prüfen bei allen Vermisstenfällen routinemäßig das Umfeld der Betroffenen.“ Sie zögerte vor den folgenden Worten.
„Dazu gehört besonders in diesem Fall auch Ihr Verhältnis zu Ihrem Mann, also die Partnerschaft.“
Rita hielt kurz inne.
„Was können Sie uns über Ihre Ehe sagen? Gibt es Probleme über das Normale hinaus, oder Dinge, die für die Ermittlung wichtig sein können?“
Erikas Miene verdunkelte sich. Rita fügte dann einen beruhigenden Satz hinzu.
„Sie verstehen, wir wollen niemandem etwas unterstellen, müssen aber wissen, woran wir sind.“
Erika hatte diese Frage befürchtet, war aber beherrscht genug, darauf zu antworten.
„Wir führen eine ganz normale Ehe, wie sie für ein Paar nach über fünfundzwanzig Jahren Gemeinsamkeit so üblich ist. Die Probleme würde ich nicht als außergewöhnlich bezeichnen.“ Ihre Stimme wurde nun lauter. „Wenn Sie glauben, ich hätte mit dem Verschwinden etwas zu tun, dann irren Sie sich gewaltig.“
Sofort griff Arne Bock ein. „Aber Frau Walter, wie kommen Sie denn darauf? Solche Fragen gehören ganz einfach zur Routine“, versuchte er die Aufregung zu entschärfen. „Sie haben uns doch erzählt, mit wem Sie gestern Abend zusammen waren. Das ist für uns leicht überprüfbar, falls wir es überhaupt für nötig erachten. Bitte beruhigen Sie sich.“
So ganz gelang es Erika nicht, sie konnte ihre Gedanken einfach nicht bändigen.
„Dürfen wir uns bei Ihnen etwas umsehen?“ Rita Mesing wollte der Situation wieder mehr Konstruktivität geben.
„Natürlich, ich habe nichts zu verbergen.“
„Darum geht es nicht, aber wir müssen zum Beispiel die Herkunft des Blutes aus dem Auto feststellen. Können Sie uns dazu die Zahnbürste Ihres Mannes mitgeben? Wir lassen zum Abgleich eine DNA-Analyse machen, wenn Sie einverstanden sind. Auch das Arbeitszimmer Ihres Mannes würden wir gerne sehen.“
Erika Walter hatte nichts gegen die Analyse, gab Rita Mesing die gewünschte Zahnbürste und führte die Ermittler in Joachims Arbeitszimmer.
Sie sahen sich im Raum um, wussten nicht, wonach zu suchen war, wollten sich nur einen Eindruck verschaffen. Der Raum im Obergeschoss befand sich auf der Giebelseite des Hauses, hatte ein großes, nach Süden gerichtetes Fenster. Offenbar liebte der Hausherr den Sonnenschein. Die Wände beiderseits des Fensters wurden bis kurz unter die Decke fast vollständig von Bücherregalen eingenommen. Im rechten Winkel zum Fenster stand der Arbeitstisch mit Flachbildschirm und Tastatur, der kleine PC nahm wenig Platz unter dem Tisch rechts neben dem Bürodrehstuhl ein. In der Ecke zwischen der Tür und einem zweiten Fenster stand ein breiter Stuhl, ein Freischwinger mit hoher Lehne, dessen dunkelblaues Polster nach häufiger Benutzung aussah. Links daneben sorgte eine Stehlampe für die nötige Beleuchtung. An der gegenüber liegenden Wand standen ein Büroschrank mit zwei Türen sowie ein offenes Regal mit zahlreichen Ordnern. Bei gutem Licht war die hellgrüne Wandfarbe kaum wahrzunehmen. Unterschiedlich große Rahmen mit Fotos und Grafiken hingen an den unverstellten Wandflächen. Alles erschien wie eine Mischung aus weiblichen Ideen und männlicher Zweckmäßigkeit.
Rita hatte das Gefühl, in diesem Raum etwas zu vermissen. Nach kurzem Nachdenken fiel es ihr ein. Hier standen keinerlei Zimmerpflanzen. Entweder scheute Walter die Pflege und wollte seine Frau nicht unnötig oft ins Zimmer lassen, oder ihm fehlte der Sinn für Natur. Sie konnte sich für keine der beiden Varianten entscheiden.
Arnes Blick fiel auf einen kleinen Stapel von Fotos auf dem Büroschrank. Ohne zunächst ein bestimmtes Ziel zu haben, fragte er Erika. „Dürfen wir die Fotos mitnehmen? Vielleicht ergibt sich daraus ein Anhaltspunkt, wir müssen jeder Spur nachgehen.“ Erika nickte nur teilnahmslos.
Arne machte mit seiner kleinen Kamera noch Aufnahmen vom Zimmer. Eine der Grafiken fiel ihm beim flüchtigen Betrachten auf, denn sie zeigte in kunstvoller, an asiatische Maltechniken erinnernder Darstellung ein ungewöhnliches Symbol. In der Mitte eines Kreises war senkrecht ein Dolch dargestellt, um den sich eine Schlange wand. Arne glaubte, etwas Ähnliches schon einmal gesehen zu haben, vor ganz kurzer Zeit.
Mit großen Augen verfolgte Erika die Prozedur und das Interesse der Polizisten.
„Wissen Sie, ob die Grafik hier schon lange hängt? Und was die Symbolik bedeuten soll?“, wandte sich Arne an Erika und bemühte sich, sein Interesse daran herunter zu spielen.
„Nein, ich bin sowieso sehr selten in Joachims Zimmer, und wenn, dann ist sie mir nicht besonders aufgefallen.“
Arne und Rita tauschten kurze Blicke, begleitet von leichtem Schulterzucken und unmerklichem Kopfschütteln. Arne wandte sich an die Hausherrin. „Vielen Dank Frau Walter, ich denke, das war es für heute. Bitte halten Sie sich zu weiteren Befragungen bereit. Wir werden alles tun, um Ihren Mann wiederzufinden.“
Mit diesen Worten verabschiedeten sich Arne Bock und Rita Mesing von Erika Walter und fuhren davon.
Für Erika wurde der Fall jetzt noch rätselhafter, wozu auch das in ihren Augen geheimnisvolle Benehmen der Polizisten im Arbeitszimmer beitrug. Sie hatten ihr bestimmt nicht alles erzählt, was sie wussten oder vermuteten.
Hatte Joachim sich etwa Feinde gemacht? Dass er in seiner Position nicht nur von Freunden umgeben war, konnte sie sehr gut nachvollziehen. Auch Erika bekam einige Andeutungen mit, wenn Joachim über Dinge sprach, die ihn bewegten. Wenn es auch sehr selten vorkam.
Oder wuchs ihm doch sein Amt über den Kopf? Wieder musste sie an die aktuellen Meldungen der Zeitung denken.
Kurz entschlossen zog Erika sich an und ging hinaus. Sie brauchte Ablenkung. Nach einer halben Stunde hatte sie den Strandzugang erreicht, die dortige Uhr zeigte 11.05 Uhr. Erstaunt registrierte Erika am Turm die Wassertemperatur von immerhin noch 10 Grad. Sie wandte sich nach links, dorthin, wo nach drei Kilometern der Schilfgürtel dem Sandstrand ein natürliches Ende setzte. Der stark aufgefrischte Westwind konnte den um diese Tageszeit wenigen Strandspaziergängern kaum etwas anhaben, denn sie wurden durch den Wald geschützt. Das hier sowieso schon flache Wasser hatte der Wind noch weiter ins Meer getrieben, so dass der Strand dadurch um zwanzig bis dreißig Meter breiter wurde. Ein Windwatt war entstanden. Sehr zur Freude der vielen kleinen Vögel, die im freiliegenden Ufersand nach Nahrung suchten. Erika hatte sie erst hier kennengelernt und im Naturschutzzentrum direkt auf der Düne erfahren, dass es sich um Strandläufer handelt.
Erikas Blick ging unwillkürlich nach oben, etwas in ihren Augenwinkeln bewog sie dazu.
Dort sah sie den Seeadler. Er flog hier regelmäßig seine Kreise. Dem großen Vogel schien der starke Wind nichts anhaben zu können. Etwas weiter entfernt sah sie ein zweites Exemplar. Erika wusste, die Seeadler beginnen die neue Familienplanung schon im Herbst. Ihre Gedanken wurden vom Wort Familie festgehalten. Etwas wehmütig dachte sie darüber nach, dass trotz aller Probleme Joachim der einzige Mensch war, der ihr nahe stand. Er war weder durch ihre Frauenrunde noch durch die weit weg wohnenden Eltern zu ersetzen. Mit Erstaunen stellte sie bei sich eine aufkommende Sorge um ihren Ehemann fest. Die Distanz war wohl viel geringer, als sie es sich selbst seit Jahren eingeredet hatte. Und erst durch eine Ausnahmesituation wurde sie förmlich darauf gestoßen. Gerade diese Überlegungen nährten eine Befürchtung, die in ihrem Inneren erwachte. Hatte Joachim etwa ein Geheimnis? Lag hier die Erklärung für sein Verschwinden? So diffus, wie diese Gedanken entstanden, so wenig greifbar waren sie in diesem Augenblick. Erika schaffte es, sie zu verdrängen.
Eine erste Auswertung der beiden Ermittler während der Autofahrt verlief ergebnislos. Für einen Zusammenhang zwischen der Wasserleiche und dem vermissten Bürgermeisters waren keinerlei Anhaltspunkte zu erkennen.
Auch zum Verschwinden des ehemaligen Offiziers einen Monat zuvor wäre ein Zusammenhang anhand von Fakten bisher nicht herzustellen und deshalb reine Spekulation. Andererseits durften sie nichts ausschließen, auch wenn die beiden Vermissten aus völlig verschiedenen Kreisen stammten.
Arne ging das Thema Ehe nicht aus dem Kopf. „Sag mal, du erfahrene Kollegin, hast du in deiner langen Ehe auch nur die üblichen Probleme wie die Frau Walter? Welche könnten das denn sein? Ich frage natürlich aus rein beruflicher Neugier“, fügte er nach einem Seitenblick auf Ritas gerunzelte Stirn hinzu. „Beruflich… solltest du dich beim Urteil über fremde Ehen lieber an einen Fachmann wenden, oder eine Fachfrau. Und was meine eigene betrifft, das geht eben nur mich etwas an.“
Arne besänftigte seine Nachbarin. „Ich will dir ja keine Indiskretionen entlocken, schon aus männlicher Höflichkeit.“ „Soso, du bist das also, der höfliche Mann. Der ist übrigens international zur Fahndung ausgeschrieben, bisher erfolglos. Wie lange bist du verheiratet? Fünf Jahre?“
„Acht.“
„Donnerwetter. Den Spruch mit den sieben Jahren lass ich jetzt mal weg, aber lass dir eines sagen.“ Hintergründig lächelnd blickte Rita ihren Chef an. „Niemand ist vor Überraschungen sicher.“
„Oh, danke, dass du mich von deiner riesigen Erfahrung zehren lässt.“
„Schon gut. Aber im Ernst. Erzähl mir bitte nicht, dass es in deiner Ehe keinerlei Probleme gibt. Wie groß die wirklich sind, welche Konsequenzen sie haben, merkst du erst dann, wenn sie überwunden sind, oder auch nicht.“
Unmerklich war Rita nun doch in den mütterlich-belehrenden Tonfall geglitten, der von ihrem Mann immer mit wortlosem Lächeln beantwortet und dadurch schließlich ausgemerzt worden war. Aber nicht alle Ehepartner wären zu einer solchen Konzentration auf das Wesentliche, auf den festen Stamm einer Beziehung fähig, die so manchen kleinen „Querast“, wie sie es nannte, verdorren ließ.
„Dann kapituliere ich als Ehe-Grünschnabel und sehe der weiteren Entwicklung gelassen entgegen.“ „Meinst du jetzt deine Ehe oder die Ermittlung?“ Arne schaute nach rechts, begann mit einem leisen Lächeln, das dann mit dem von Rita zusammen in ein lautstarkes Lachen mündete.
In die Überzeugung von seiner fachlichen Überlegenheit mischten sich hin und wieder solche Momente einer zunehmenden Vertrautheit mit Rita Mesing.
Sie könnte meine Mutter sein, dachte Arne, dem ihre Souveränität imponierte. Ein anderes Wort fiel ihm nicht ein.
Und attraktiv ist sie immer noch, stellte er überrascht fest.
Noch vor dem Mittag waren sie zurück in Wolgast.
Arne brachte die Zahnbürste für die DNA-Analyse selbst ins Labor. Ihm lagen schon fordernde Worte über die Dringlichkeit der Untersuchung auf den Lippen, als er merkte, wer Dienst hatte und er ein anderes Vorgehen wählte.
„Sag mal, Cornelia, kannst du dir die Freude eines bestimmten Kriminalhauptkommissars vorstellen, wenn er noch heute ein Ergebnis in der Hand hat? Oder noch besser, die Freude einer liebenden Ehefrau, wenn sie erfährt, dass das Blut im Auto ihres Mannes nicht von ihm selbst stammt?“
Dem Wort „liebend“ gab Bock eine leicht spöttische Färbung, die die Laborantin wohlwollend zur Kenntnis nahm, sich aber in diesem Fall über die Ursache täuschte.
Cornelia Machnit, verheiratet und noch kinderlos, reagierte erfahrungsgemäß sehr empfänglich für Schmeicheleien und war für Arne schon oft die Rettung in höchster Zeitnot. Sie lächelte charmant zurück. „Weißt Du eigentlich schon, wie und wann du alle meine guten Taten für dich wieder gutmachen kannst? Hast Glück, dass mein Auftragsbuch heute fast leer ist.“
„Wollen wir deine Frage unter uns oder zusammen mit unseren Ehepartnern ausdiskutieren?“
Arne kniff in Erwartung einer Antwort die Augen zusammen und zog die Mundwinkel leicht nach außen.
Cornelias Antwort war überraschend ernsthaft. „Das kann aber dauern, denn mein Mann ist seit voriger Woche für einige Zeit auf Dienstreise. Ohne Wochenendurlaub.“ Bei diesen Worten blickte sie sich erst um und dann Arne direkt in die Augen.
Der konnte es gar nicht fassen. Sollte sich hier eine neue Dimension eröffnen? Für Arne war es bisher nie mehr als ein Flirt.
„Wir sollten diese Situation auf jeden Fall im Auge behalten. So wie jetzt gerade.“ Arne spürte, wie er dabei war, die Kontrolle über sich zu verlieren. Und nicht nur er.
Cornelia errötete unmerklich und schwenkte zurück.
„Verschwinde jetzt, sonst schaffe ich es nicht in der von dir gewünschten unmöglich kurzen Frist“, versuchte sie mit einem verlegenen Lächeln den Abgang, ohne Arne vor den Kopf zu stoßen.
Nach dem Verlassen des Labors blieb Arne einige Sekunden stehen. Der Wortwechsel mit der Laborchefin hob seine Stimmung noch mehr.
Bei der begrenzten Auswahl in der Dienststelle war die attraktive und kluge junge Frau schon längere Zeit das willkommene Ziel seines männlichen Übermuts. Ihre heutige Reaktion bedeutete eine neue Qualität.
Mit etwas Wehmut dachte er an seine eigene Ehe, und an die sieben Jahre, auf die Rita Mesing angespielt und die er eigentlich glücklich überstanden hatte. Probleme gab es nicht erst seit ihrem Umzug an die Küste. Seine anfängliche grenzenlose Vertrautheit mit Kerstin war dabei, einem anderen Zustand zu weichen, einer Mischung aus Gewohnheit, zunehmender Selbstorientiertheit und Verwaltung der beiden Kinder. Der Lehrerberuf gab seiner Frau etwas mehr Möglichkeit zur flexiblen Tagesgestaltung als ihm. Daraus ergab sich aber oft eine Drei-zu-eins-Situation im Alltag – gegen ihn. Arne nahm sich vor, bewusst an der Erhaltung seiner Ehe zu arbeiten. In den wenigen Momenten, in denen er über die Konsequenzen einer Trennung nachdachte, wurde ihm sofort klar, dass er dann den Kontakt zu seinen Kindern verlieren würde. So oder so.
Und das schloss er für sich kategorisch aus.
Aber er konnte ja nichts dafür, dass er ein attraktiver Mann war. Die jüngsten Erfahrungen mit seiner Wirkung auf Frauen machten ihn insgesamt noch selbstsicherer.
Der Gedanke, dass seine eigene Frau sich ebenso verhalten könnte wie er selbst, kam ihm jedoch nicht.
Zurück im Büro sah sich Arne den Stapel mit Fotos aus dem Arbeitszimmer des Bürgermeisters an. Unter den vielen Bildern von offiziellen Terminen war auch eines mit genau der Symbolik von der Wandgrafik. Nur, dass es auf diesem Foto ein Tattoo auf einem menschlichen Oberarm darstellte. Jetzt wusste Arne, wo er das Symbol gesehen hatte: auf dem Körper der Toten. Ein Blick auf den Obduktionsbericht gab ihm Gewissheit. Noch ehe er über die Tragweite dieser Tatsache nachdenken konnte, öffnete sich nach einem kurzen Klopfen die Tür. Polizeidirektor Hartmut Westphal betrat das Zimmer und kam gleich zur Sache. „Schon wieder ein Vermisster. Und wieder eine Person des öffentlichen Lebens. Sehen Sie dort Zusammenhänge?“
Arne Bock hatte sich schnell gefasst. „Bis jetzt gibt es dafür keine Anhaltspunkte, auch wenn ich das, im Gegensatz zu meinen Mitstreitern, nicht grundsätzlich ausschließen kann.“
„Wir brauchen Ergebnisse, Bock.“
„Aha, kam also schon ein Hinweis von oben?“
„Wenn hier jahrelang so gut wie nichts passiert außer Diebstahl und Körperverletzung im Suff, dann können zwei, nein drei solcher Ereignisse in kurzem Abstand schon mal nachdenklich machen. Deshalb nehmen Sie das bitte nicht auf die leichte Schulter.“
„Jawoll, Herr Direktor.“ Arne erschrak selbst über die respektlose Formulierung und versuchte sofort, den Fehler gerade zu biegen. Solche Vertraulichkeit hatte er sich bisher gegenüber seinem Chef nicht herausgenommen.
„Nein im Ernst, wir haben das natürlich im Blick. Und beim aktuellen Fall sind wir mitten in der Situationsanalyse.“
Westphal blickte seinen Ermittler prüfend an, zögerte, schüttelte dann den Kopf.
„Also keinerlei Ergebnisse.“ Arne bestätigte die Einschätzung wortlos, die Bedeutung des Fotos mussten sie erst noch genau besprechen.
„Nein, ich erinnere Sie jetzt nicht an die anstehende Polizeireform. Da geht es um Standorte und um Personal.“
„Danke für das Nichterinnern.“
„Ich meine es nur gut, für … uns alle. Zurzeit wissen wir, woran wir mit unseren Leuten sind und müssen daraus das Beste machen. Damit wir uns nicht irgendwann alle in Greifswald oder Anklam wiederfinden. Obwohl unser Gebäude ganz neu ist.“
Mit erhobenem Daumen verließ Hartmut Westphal das Zimmer. Arne Bock überlegte, wie ernst sein Chef diese Aussage gemeint haben könnte. Das hätte natürlich auch Konsequenzen für ihn selbst. Er musste unbedingt den Druck erhöhen.
Wir brauchen Ergebnisse. Erschrocken merkte Arne, dass er die Worte seines Chefs laut vor sich hin sprach.
Aber der hatte Recht.