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Sommer 1954

Höhle bei Köln

Ein kleines Transistorradio plärrte vor sich hin. Der Empfang war nicht der Beste, aber das störte die Zuhörer kaum.

Gespannt lauschten die Studenten der Übertragung, die immer wieder von statischen Störungen unterbrochen wurde, des Endspieles der Fußballweltmeisterschaft aus Bern. 2:2 stand es zwischen den hoch favorisierten Ungarn und Deutschland. Die Deutschen hatten bereits mit 0:2 zurückgelegen und niemand hatte daran geglaubt, dass noch etwas möglich war. Zumal in der Vorrunde bereits diese Begegnung stattfand und Deutschland mit 3:7 verloren hatte. Aber sie kämpften sich zurück und schafften den Ausgleich, waren gerade wieder im Angriff.

“…aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, er schießt… TOR! TOR! TOOOR!”, schallte die Stimme von Herbert Zimmermann aus dem Radio und verkündete das soeben erzielte 3:2 für Deutschland. Ein grenzenloser Jubel tönte durch die Weiten der Höhle, echote von den Wänden und Decken wider, drang durch die unzähligen, verzweigten Gänge.

So erreichte der Jubel natürlich auch Professor Cornelius Massmann, der in einem der Gänge saß und an seinem Tagebuch schrieb. Genervt schüttelte er seinen Kopf, ob dieser, aus seiner Sicht überflüssigen Gefühlsregung, für diesen, leider, wie er fand, immer populärer werdenden Sport.

Kurze Zeit später folgte ein noch lauterer Jubel, als zuvor von seinen Studenten. Diesmal hielt er auch viel länger an und es schien, als würde das Gestein um ihn herum ebenfalls protestieren. Es wirkte auf Massmann so, als würde es zu beben und zu zittern beginnen.

So konnte er sich nicht konzentrieren, aber er war ja selber schuld, hatte er es doch erlaubt, dass sie sich diese Übertragung anhören durften. Natürlich war es nicht ganz ohne Eigennutz. So erhoffte sich der Professor eine gesteigerte Moral, durch die, für seine Studenten, willkommene Abwechslung.

Plötzlich lugte einer von ihnen um die Ecke. Es war der junge Werner Tiefental, einer seiner hoffnungsvollsten Studenten, immer vorn dabei, wenn es um Sonderaufgaben ging, immer bereit auch in seiner Freizeit viel und intensiv für das Studium zu arbeiten. Aus dem wird mal ein großer Forscher, vielleicht tritt er ja auch in meine eigenen Fußstapfen, dachte Professor Massmann bei sich.

Werner war total außer Atem, als er um die Ecke geflitzt kam. Sein Gesicht war hochrot angelaufen, so dass sein Kopf durch die hellblonden, fast weißen Haare, aussah, als stecke eine Tomate in einer Mozzarella Kugel.

“Herr Professor, Herr Professor, es ist nicht zu glauben! Wir haben die Ungarn geschlagen, 3:2! Stellen Sie sich das bloß vor! Die unbesiegbaren Ungarn! Wir sind Fußball-Weltmeister!”, spie er die Worte hervor, immer wieder nach Luft ringend.

“Lieber Werner, was bringt uns das für die Wissenschaft, für die Menschheit? Können wir dadurch irgendetwas lernen?” Massmann war die Ruhe in Person. Er konnte Sport im Allgemeinen nichts abgewinnen. Für ihn war das nichts weiter, als reine Zeitverschwendung.

Werner war wie vor den Kopf gestoßen. Hatte er doch gedacht, dass der Professor sich doch ein wenig freuen würde. Aber durch diese Reaktion wurde deutlich, dass das Desinteresse nicht gespielt, sondern durch und durch ehrlich war.

“Nichts, Herr Professor. Aber überlegen Sie doch mal, was das vielleicht für Deutschland bedeuten könnte, wie viel wohler und stolzer jetzt dadurch die Menschen wieder sein könnten. Wie viel glücklicher und vielleicht auch befreiter die Menschen wieder an die Arbeit gehen.”, versuchte Werner bei Massmann doch noch etwas Positives aus dem Sieg herauszukitzeln.

“Deine Freude in allen Ehren, aber zu großer Nationalstolz hat uns vor nicht einmal zehn Jahren fast ins Verderben gestürzt! Ich hoffe sehr, so etwas nie wieder erleben zu müssen. Wenn also dieser Sieg zu gesteigertem Stolz führen sollte, wäre ich doch glücklicher, hätten die Ungarn gewonnen. Und nun bedenke bitte noch Eines: Wir sind seit fast drei Wochen hier unten, es sollten nur zehn Tage werden. Wir haben uns offensichtlich verlaufen, die Kompasse funktionieren nicht mehr, die Orientierung fällt schwer, da hier jeder Gang dem Anderen gleicht, selbst die Malereien, die wir gefunden haben, sehen alle nahezu identisch aus. Unsere Vorräte gehen langsam zur Neige. Wir wollten diese Höhle ein wenig erforschen, doch nun haben wir nur noch ein einziges Ziel, einen Ausgang hier heraus zu finden. Also, Werner, lasse mich bitte meine Notizen zu Ende führen, vielleicht habe ich etwas Wichtiges übersehen auf unserem bisherigen Weg, was uns helfen kann hier herauszukommen. Gehe zurück zu den Anderen. Wartet dort auf mich, ich brauche nicht mehr lange.” Massmann beugte sich wieder über sein Tagebuch in einer Art, die keinen weiteren Widerspruch duldete.

“Ja, ist in Ordnung Herr Professor. Ich habe nur gedacht… Aber ich habe mich wohl geirrt. Entschuldigen Sie, dass ich Sie gestört habe.” Werner ging etwas traurig und zerknirscht zurück. Fast konnte er einem leidtun.

Als er sich wieder seinem Tagebuch widmete, hoffentlich in Ruhe diesmal, bekam der Professor wieder das Gefühl, als würde die Höhle leicht erzittern. Ein lautes Gejohle ertönte, was nur bedeuten konnte, dass Werner wieder bei den Anderen angelangt war, und diesmal war es keine Einbildung. Die Höhle begann aus sich heraus zu beben. Wurde das etwa durch die Schwingungen des Jubels hervorgerufen? Völlig gleichgültig woher das Beben kam, es war nicht mehr zu ignorieren und es klang gar nicht gut! Es war wie ein Rumpeln aus der Tiefe. Noch schien es weit weg zu sein, aber da es erst leiser war, musste man davon ausgehen, dass es näher kam, sich langsam nach oben, oder näher heran arbeitete. Professor Massmann packte seine Sachen zusammen und eilte zu seinen Studenten, seine Notizen, die er noch gar nicht richtig angefangen hatte, konnte er auch später aufschreiben. Das bisschen, was er bisher notiert hatte, würde ihm zumindest eine Hilfe sein später das Ganze weiter auszuführen.

Als er um die Ecke kam, bot sich ihm ein sonderbarer Anblick. Seine sonst so ruhigen und disziplinierten Studenten tanzten wie Derwische um das Lager, lagen sich vor Freude in den Armen und tollten wie kleine Jungs über den Boden. Das Radio quäkte immer noch vor sich hin, aber keiner hörte mehr zu. Es schien, als würde niemand mehr etwas wahrnehmen, was um sie herum geschah. Selbst das immer lauter werdende Poltern im Gestein schien keiner zu hören.

Professor Massmann erhob seine Stimme, so laut er konnte:

“Ruhe!”, brüllte er aus Leibeskräften. Niemand reagierte, also setzte er noch mal an, diesmal noch energischer. “Ich sagte RUUUHEEE!!!”

Langsam verstummte die Gruppe seiner zwölf Studenten. Sie schauten ziemlich verwirrt auf ihren Professor, der mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck vor Ihnen stand. Alle warteten gespannt auf das, was nun kommen möge. Er schaute wie geistesabwesend Löcher in die Luft.

“Herr Professor, alles in Ordnung mit Ihnen?”, fragte Werner mit leichter Beunruhigung in der Stimme.

“Pst, hört ihr das?” Massmann legte einen Zeigefinger an die Lippen und hielt den anderen in die Höhe. Alle senkten die Köpfe und horchten. Ein tiefes Brummen war zu hören, begleitet durch leichte Erschütterungen, die das Lager erfüllten. Mittlerweile war die Lautstärke so angeschwollen, dass sie diesmal wahrscheinlich selbst den Jubel der Studenten übertönt hätte.

“Packt alles zusammen! Wir müssen weg, SOFORT!”, schrie Massmann seinen Studenten zu und war auch schon dabei seine wichtigsten Sachen einzupacken.

Es bedarf keiner weiteren Aufforderung, nachdem nun auch die ersten Steine begannen, von der Decke zu rieseln. Eiligst wurden sämtliche Utensilien notdürftig in Rucksäcke und Tragetaschen verstaut. Als alles irgendwie untergebracht war, machte sich eine gewisse Ratlosigkeit breit.

“Wohin sollen wir gehen, in welche Richtung?”, fragte Dieter, einer der ruhigsten aus der Gruppe.

“Ja, wir wissen doch gar nicht aus welcher Richtung das Geräusch kommt und was es ist. Und was machen wir mit den Kisten? Die Können wir doch nicht hier lassen!”, setzte Anton nach.

“Wartet. Lasst mich versuchen zu hören aus welcher Richtung die Geräusche kommen.”, bat Massmann. Der Professor konzentrierte sich und horchte in die Höhle hinein. Es war schwer festzustellen, woher das Grollen in dem Gestein kam. Schließlich aber hatte er sich für eine Richtung entschieden.

“Kommt mit, hier entlang.”, rief er und marschierte los.

“Aber in der Richtung sind wir noch überhaupt nicht gewesen.”, widersprach einer der Studenten, wieder war es der sonst so stille Dieter.

“Wir haben keine Wahl. Das Zentrum dessen, was auch immer da vor sich geht, scheint aus genau der anderen Richtung zu kommen. Verirrt haben wir uns sowieso schon. Also los!”, forderte Massmann die Gruppe auf, ihm zu folgen.

“Aber unsere Funde, die Kisten! Wollen Sie die etwa hier zurücklassen? Das können wir nicht machen! Das sind bedeutende Funde, die wir hier gemacht haben!”, rief Werner und wiederholte damit den Einwand, den Anton bereits gemacht hatte. Er machte nicht den Eindruck ohne die Kisten gehen zu wollen.

Die Funde. Das waren in fünf Holzkisten verstaute, mumifizierte Tierleichen, sowie zwei etwas größere. In diesen befanden sich die wohl erstaunlichsten Funde, die jemals aus archäologischer Sicht gemacht wurden.

Eines verband alle Funde miteinander, das erstaunliche Aussehen, als wären all diese Lebewesen erst vor kurzem gestorben. Manchmal, seitdem die Leichen verpackt waren, schien es sogar so, als würde von innen leise gegen die Kisten geklopft.

Zunächst hatte sich eine gewisse Angst unter den Expeditionsteilnehmern breit gemacht, aber das Klopfen dann irgendwann nicht weiter beachtet und auf die Zeit in der Dunkelheit geschoben und als Einbildung abgetan. So etwas konnte ja auch gar nicht sein, völlig irrational!

Alle Funde wurden in relativer Nähe zueinander gemacht. In einer verschütteten und abgeschotteten Kammer, die mit einem seltsamen Rauch gefüllt war, der nicht einmal entwich, nachdem sie die Kammer geöffnet hatten. Dieser Umstand war es, der den Professor dazu bewegt hatte, es irgendwie zu schaffen, den Rauch mit in die Kisten zu bekommen und dann die Kisten so luftdicht wie möglich zu verschließen. Er war davon überzeugt, dass es mit diesem Rauch zusammenhängen müsse, dass die Leichen so gut erhalten waren.

“Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, leider. Es steht zu befürchten, dass hier alles einstürzt. Wir müssen uns beeilen von hier fort zukommen. Wenn wir hier raus gekommen sind, werden wir versuchen unseren Weg zu rekonstruieren und dann die Artefakte bergen. Und jetzt keine Widerrede mehr und schnell weg!” Massmann verlor langsam die Geduld.

So liefen sie also noch tiefer, in einen ihnen völlig unbekannten Bereich, in die Höhle hinein. Das Grollen wurde immer lauter. Steine, die von der Decke brachen, waren zu hören, erste Wände, die einstürzten.

Es war ohne Frage sehr bedauerlich, dass sie die Artefakte zurücklassen mussten. Welche Bedeutung diese für die Wissenschaft gewesen wären, mag man sich gar nicht ausmalen. Aber hier ging es jetzt um das Leben eines jeden einzelnen. Sie liefen völlig orientierungslos durch das Labyrinth der Gänge. Das Grollen und Beben schien aber dennoch immer näher zu kommen.

Plötzlich gab es einen ungeheuren Erdstoß, die gesamte Höhle wackelte. Durch diesen Stoß wurde die flüchtende Gruppe umgeworfen, sie fielen übereinander, weitere Wände und Decken stürzten ein. Eine Staubwolke breitete sich aus. Als der Staub sich wieder etwas gelegt hatte, war es irgendwie etwas heller in dem Gang geworden.

Professor Massmann blinzelte sich die letzten Staubkörnchen aus den Augen und sah sich um. Dort, etwa zwanzig Meter über ihnen war ein kleiner Schlitz im Gestein zu erkennen, durch den, so schien es jedenfalls, ein wenig Sonnenlicht in die Höhle drang. Der Weg dort hinauf allerdings führte über lose Steinhaufen, die so aussahen, als wenn sie bei dem kleinsten unbedachten Schritt in sich zusammen fallen konnten. Auch der Schlitz sah nicht besonders groß aus. Ob sie da überhaupt durch kommen konnten? Konnte man den Spalt vergrößern? Andererseits mochte die Größe durch die Entfernung aber auch täuschen.

“Du bist der Kleinste und Schmalste von uns, Werner. Meinst Du, Du schaffst es heil dort hinauf, um nachzuschauen, ob wir da herauskommen?”, fragte Massmann.

Werner blickte hinauf in die Richtung, in die der Professor zeigte. “Es wird sicherlich nicht leicht, aber unser aller Leben steht auf dem Spiel! Ich denke, dass das zu schaffen sein wird.”, antwortete dieser.

“Sei vorsichtig!”, rief ihm Massmann hinterher.

Er musste es schaffen. Durch das letzte Beben waren alle anderen Wege verschüttet worden. Dies war jetzt der letzte Ausweg. Entweder es klappte, oder sie würden hier alle verhungern und verdursten. Also machte sich der 1,68m große, einundzwanzig Jahre alte Werner Tiefental an den Aufstieg.

Es war noch beschwerlicher, als es ausgesehen hatte. Ständig rutschten Steine aus ihrer Position und fielen polternd hinunter. Dazu kam, dass immer wieder kleinere Beben das gesamte Höhlensystem zum Wackeln brachten.

Nach einer knappen Stunde hatte er es fast geschafft, als ein neues Beben einsetzte. Nur diesmal schien es gar nicht mehr aufhören zu wollen. Es war nicht so schwer, wie die ersten, dauerte aber länger an. Werner musste sich festhalten, um nicht in Gefahr zu kommen wieder runter zu rutschen.

“Aufpassen da unten! Es könnten gleich ein paar größere Brocken auf Euch zu kommen!”, warnte Werner seine Mitstreiter.

“Wie weit hast Du es denn noch?”, wollte Anton wissen.

“Ich weiß es nicht genau, zwei bis drei Meter vielleicht noch. Ich kann aber schon etwas draußen erkennen. Da ist eine große, brach liegende Fläche, sieht fast wie eine Wüste aus.”

“Klettere weiter und schau nach, ob Du den Spalt breiter bekommst. Wir passen hier unten schon auf!” Massmann hoffte auf das Beste, das dieser Albtraum bald ein Ende haben würde.

Wäre ja nicht so schlimm, wenn ihn seine Kräfte nicht langsam verließen, aber er musste es schaffen. So kletterte Werner mit einer weiteren Kraftanstrengung weiter in die Höhe.

Als er nur noch wenige Zentimeter vom Spalt entfernt war, verstärkte sich das Beben, was immer noch nicht aufgehört hatte. Jetzt wurde es so stark, dass alles zu schaukeln begann. Große Steine lösten sich aus ihrer Position und fielen. Mit gewaltigem Poltern fielen sie zu Boden, doch dazwischen gesellte sich ein Geräusch wie ein Klatschen von berstenden Knochen, woraufhin hysterisches Geschrei einsetzte.

Werner hielt in seiner Bewegung inne, drehte sich um und guckte nach unten. “Was ist passiert?”

“Hermann und Alfred sind zerquetscht worden!” kam die Antwort von Dieter. “Beeil Dich, das Beben wird immer heftiger.”

Geschockt von der Nachricht setzte Werner seinen Aufstieg fort, wurde aber jäh unterbrochen, als ein ohrenbetäubendes Krachen einsetzte. Die ganze Höhle begann in sich zusammenzubrechen, der Boden stürzte ein und hinterließ ein riesiges und endlos scheinendes Loch. In Panik versuchten der Professor und die restlichen Studenten den Hang hinauf zu Werner zu klettern, zu kriechen, oder sich zumindest irgendwo einen festen Halt zu suchen. Aber ihnen wurde buchstäblich der Boden unter den Füßen weggerissen.

Werner versuchte verzweifelt zu ihnen zu gelangen, immer größer wurde das Loch. Kurz bevor er bei seinem Professor angelangt war, rutschte dieser ein Stück hinunter. Werner bekam ihn gerade noch zu fassen und konnte ihn so vor dem Absturz retten. Unter lautem Geschrei, vermischt mit dem Geräusch aneinander schlagende und zerplatzende Steine, fielen seine Kommilitonen in die Tiefe. Keiner würde das überleben können. Lediglich der Professor hing noch an Werners Hand.

Werner schloss die Augen. Das Geräusch der auf dem Grund auftreffenden Menschenleiber war zu laut, um es ignorieren zu können. Es wird ihm immer im Gedächtnis bleiben. Das Geräusch von brechenden und splitternden Knochen kam noch hinzu. Werner riss sich innerlich zusammen. Er musste wenigstens seinen Professor retten.

“Herr Professor, ich ziehe Sie jetzt rauf zu mir, Sie müssen nur ein wenig mithelfen. Alleine schaffe ich das nicht!”

“Ich kann nicht helfen, ich bin mit meinen Kräften am Ende. Das hier hinauf Klettern war zu anstrengend für mich. Hier, nimm mein Tagebuch, damit Du vielleicht noch einmal hierher kommen kannst, um unsere Seelen zu retten und auch um die Artefakte zu bergen. Sieh es als mein Erbe an, mein Vermächtnis an die Wissenschaft! Schreibe in Deinen Worten einen Bericht über unsere Erlebnisse.”

Mit diesen Worten löste der Professor seine Hand von der Werners und schwang mit der anderen sein Tagebuch, um es Werner in die noch offene Hand zu legen. Er hatte es die ganze Zeit festgehalten, um es nicht zu verlieren.

“Herr Professor, NEEEEIN!”

Werner konnte nichts mehr tun, Professor Massmann fiel und fiel.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Werner den Aufschlag hörte. Wieder dieses platschende Geräusch und die splitternden Knochen, als der Körper seines Professors auf dem Grund zerplatzte. Ihm drehte sich dabei fast der Magen um.

Er starrte auf seine Hand, auf das Tagebuch von Professor Cornelius Massmann. Wenn schon nicht der Professor selbst, dann wenigstens soll, wie er selber gesagt hat, sein Vermächtnis in Form seines Tagebuches überleben.

Ohne lange weiter zu überlegen stand Werner auf und drehte sich zu dem Spalt um. Totale Entschlossenheit sprach aus seinem Gesicht und so machte er sich erneut an den Aufstieg. Ein neuerlicher Erdstoß warf ihn jedoch ein Stückchen zurück. Hierbei rutschte ihm das Tagebuch aus der Hand. Das Buch fiel zu weit hinunter, um es wieder zu holen. Das wäre zu gefährlich geworden. Nun war auch das Erbe des Cornelius M. verloren. Er sah noch wie es sich zwischen zwei Steinen verkantete und dort liegen blieb.

Jetzt begann sich auch der Boden unter seinen Füßen zu bewegen. Mit dem Aufbringen all seiner letzten Kräfte stemmte er sich hoch zu dem Spalt, suchte nach einem Halt und als er den gefunden hatte, zog er sich hoch und quetschte sich durch. Es funktionierte gerade so. Er war im Freien und kroch so schnell er konnte von dem Spalt weg. Weg von der Höhle, weg von dem Beben, weg von dem Grauen, welches er soeben erlebt hatte.

Als seine Kräfte ihn schließlich komplett verließen, sank er zusammen. Völlig erschöpft lag er da, die Beine ganz dicht an den Körper gezogen, wie ein Baby. So schlief er ein.

Es war bereits Nacht geworden, als er wieder erwachte. Er zitterte am ganzen Körper, aber nicht vor Kälte, sondern wegen der Erinnerungen an das Erlebte.

Es war eine schöne Sommernacht. Nicht weit weg von dem Platz, an dem Werner erwachte, schien ein Bach zu fließen. Er schleppte sich dort hin, um ein wenig Wasser zu trinken. Der Staub von dem Einsturz steckte ihm noch in der Kehle.

Wo war er hier? Er kannte sich hier nicht aus. Orientierungslos schaute er sich um. Es gab keinerlei Anzeichen für das Erdbeben. Hier oben sah alles völlig normal aus. Hatte er sich das alles nur eingebildet? Oder würde er gleich aus einem bösen Traum erwachen? Er kniff sich in den Arm. Nein, geträumt hat er nicht. Er war also wirklich jetzt und hier an diesem Bach. Aber was war passiert? Er schaute an sich hinab. Die Kleidung war aufgeschürft und komplett staubig. Stellenweise hatten sich kleinere Steinchen in seinen Kleidern verfangen. Also musste es doch wahr sein und keine Einbildung.

Aber würde ihm jemand diese Geschichte glauben, wenn doch ganz offensichtlich hier draußen nichts auf ein Erdbeben hinzuweisen schien? Dann gab es noch das Problem, dass niemand von dieser Expedition wusste, sie hatten alles auf eigene Faust organisiert. Jetzt waren Semesterferien und es sollte eine kleine Sonderexkursion werden. Aber gerade wegen der Ferien würde keiner vorerst vermisst werden.

War er doch alleine in dieser Höhle gewesen und sein Gedächtnis spielte ihm jetzt bloß einen Streich? Er wusste es einfach nicht, war völlig durcheinander.

Was er aber wusste, war, dass er verletzt war und in ein Krankenhaus musste. Also ging er los, ohne eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Wäre sowieso sinnlos gewesen, da er sich hier nicht auskannte.

Als die Morgendämmerung langsam begann einzusetzen erreichte er eine Landstraße. Erleichtert so etwas wie Zivilisation gefunden zu haben setzte er sich an den Straßenrand und wartete. Nicht viel später waren Scheinwerfer in der Ferne zu erkennen. Das Auto kam näher und Werner stand unter Schmerzen auf, um dem Fahrer zu winken, damit dieser anhielt.

Der Fahrer stoppte und kurbelte das Fenster runter. Als er Werner sah, erschrak er. Er muss ihm beinahe wie ein Gespenst vorgekommen sein. Auf jeden Fall, nach dem Gesichtsausdruck zu schließen, musste Werner noch viel schlimmer aussehen, als er sich fühlte.

“Du meine Güte! Was ist denn mit Ihnen passiert? Sind Sie irgendwo von einem Berg gefallen, oder gar von jemand überfallen worden?”, fragte der Mann hinter dem Steuer.

“Nein, nicht überfallen. Ich bin tatsächlich von einem Hang gerutscht während meiner Nachtwanderung.”, log Werner. Er war zu dem Entschluss gekommen, das Erlebte zu verdrängen. Zumindest es zu versuchen.

“Wären Sie so nett und können mich in das nächstgelegene Krankenhaus fahren?”

“Selbstverständlich!” Der Fahrer öffnete die Beifahrertür, damit Werner sich ins Auto setzen konnte. Erleichtert ließ er sich in den Sitz fallen. Er wollte nur noch schnell weg von diesem Ort und schwor sich niemals wieder hierher zurückzukehren. In diesem Moment ahnte er jedoch nicht, dass er es doch eines Tages tun würde.

Die Höhle

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