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ОглавлениеMittwoch, 07. Juli
Köln, Hotel „Domblick“
Petra erwachte in ihrem Zimmer in der dritten Etage des Hotels Domblick vom penetranten Läuten des Zimmertelefons. Noch ein wenig durcheinander, weil sie sich erst orientieren musste, wo sie war, nahm sie den Hörer ab und meldete sich mit einer völlig verschlafenen Stimme.
Kommissar Welp war am anderen Ende der Leitung. Er bat sie, sich mit ihm in einer halben Stunde im Frühstücksraum des Hotels zu treffen, damit er ihr weitere Informationen zu dem Unfall und der ECTA geben konnte, die er gestern am Telefon noch zurückgehalten hatte.
Nachdem sie aufgelegt hatte, zog sich Petra die verschwitzten und zerknitterten Sachen vom Vortag aus. Sie war tatsächlich nicht einmal in der Nacht wach geworden, sie trug sogar noch ihre leichte, dünne Jacke, die sie am Vorabend nach dem Betreten des Zimmers nicht ausgezogen hatte. Danach ging sie unter die Dusche, bevor sie sich etwas Frisches anzog und sich auf den Weg in den Frühstücksraum begab.
Sie verteilte ihre eingepackten Klamotten wild durcheinander auf dem Bett und suchte sich etwas Passendes heraus. Trotz dessen, dass sie keinen großen Wert auf bestimmte Sachen legte, oder auf farblich abgestimmte, fiel es ihr doch stets schwer, sich für etwas zu entscheiden. Sie wählte schließlich eine lange, graue Leinenhose und eine gelbe Bluse. Dazu ihre braunen Wanderschuhe. Die waren zwar warm, aber in denen fühlte sie sich am wohlsten. Socken ließ sie aufgrund der Temperaturen weg.
Als sie runter kam, blickte sie sich im Frühstücksraum um auf der Suche nach dem Kommissar. Der Raum war verhältnismäßig groß, ausgestattet mit zehn Tischen für jeweils vier Personen. Es waren lediglich zwei besetzt und an einem saß ein Mann alleine. Petra war sich sicher, dass es sich bei diesem Herren um den Kommissar handeln musste.
Petra ging auf den Tisch zu und stellte sich vor. Zweifellos war dies ein Kriminalbeamter. Wer würde denn sonst bei solch einem Wetter in einem grauen Trenchcoat herumlaufen. Touristen mit Sicherheit nicht.
Sie blickte in müde, graublaue und tief liegende Augen, die von wuchernden, silberfarbenen Augenbrauen bedeckt wurden. So alt wie der Mann vor ihr wirkte, hatte sie ihn aufgrund der Stimme vom Telefon her gar nicht erwartet. So konnte man sich täuschen.
Kommissar Welp bat sie, doch Platz zu nehmen und nach kurzen, gegenseitigen Begrüßungsfloskeln, versuchte Welp die Sachlage Petra etwas genauer zu erläutern. Er berichtete ihr von Problemen, die bei beiden Bauabschnitten der geplanten Trasse gleichzeitig auftraten, sowie etwas detaillierter von dem Unfall der Kinder Westerfeld.
“Das ist es, worum es geht. Die ECTA will Gewissheit, dass ihre Bauarbeiten nichts mit dem Unfall zu tun haben und wir, die Polizei, will die Todesfälle, bzw. deren Ursache geklärt haben und ausschließen können, dass da unten nicht doch jemand haust, der die Kinder runter gelockt und umgebracht hat. Für uns bedeutet das einen gewaltigen Spagat hinzulegen zwischen Ermittlungen und parallel darauf zu achten, dass nichts von der ECTA und deren Bauproblemen an die Öffentlichkeit dringt.
Die ECTA wird halt mit Steuergeldern bezahlt und somit hat die Politik da ihre Hände mit im Spiel, was mir ehrlich gesagt, nicht passt, weil dadurch unsere Arbeit erschwert wird. Nichtsdestotrotz müssen wir darauf Rücksicht nehmen. Bei der Gelegenheit. Kennen Sie vielleicht jemanden, der sich mit Gesteinen auskennt?” Man merkte Welp an, wie sehr er sich wünschte, nicht unter diesem Druck stehen zu müssen. Er schnaufte einmal tief durch, nachdem er geendet hatte.
“Ich weiß, ehrlich gesagt, immer noch nicht wie ich Ihnen helfen könnte, aber das mag sich ändern, wenn ich in der Höhle war und mir selber ein Bild gemacht habe. Also würde ich vorschlagen, dass wir jetzt genau das machen sollten, uns die Höhle anschauen.” Petra versuchte auf ihre innere Stimme zu hören, ob sie helfen konnte, oder ob es nur verschwendete Zeit war, die sie besser in Neapel verbracht hätte. Die Frage des Kommissars nach einem Geologen blieb vorerst unbeantwortet. Petra war mit ihren Gedanken bei der Höhle, was sie da erwarten würde und dem Hin- und Hergerissen sein, ob es richtig war, hier zu sein.
“Mein Wagen steht draußen. Wenn Sie wollen können wir sofort los.”, erwiderte Welp etwas erleichtert. Er hatte schon irgendwie damit gerechnet, dass Petra ihm doch noch absagen würde.
“Gut, ich hole nur noch meine Tasche aus dem Zimmer. Warten Sie draußen?”, fragte Petra und war auch schon aufgestanden und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer ohne eine Antwort des Kommissars abzuwarten.
Welp nickte kurz zur Antwort, was Petra nicht mehr sah. Er stand auf und ging ebenfalls.
Auf dem Weg nach draußen kramte er in seinem Mantel, holte eine Schachtel Zigaretten raus und zündete sich eine an. Ihm fiel es als Kettenraucher, er rauchte seit seinem fünfzehnten Lebensjahr, immer noch verdammt schwer, sich an das bestehende Nichtrauchergesetz zu halten. Der Drang in Restaurants, Kneipen, oder eben auch Hotelgasträumen sich eine Zigarette anzuzünden war nach wie vor sehr ausgeprägt. An ganz schlimmen und stressigen Tagen hatte er es auf fast drei, manchmal sogar vier Schachteln gebracht.
Petra kam aus der Hoteltür, ihre beige Tasche über der Schulter hängend und stieg zu ihm ins Auto. Als sie die Tür öffnete kam ihr sogleich ein Schwall Zigarettengestank entgegen. Na toll! Sind denn alle Polizisten in Köln Raucher? Schweigend fuhren sie los und erreichten nach einer knappen Stunde den Eingang zur Höhle.
Naturschutzgebiet bei Engelskirchen
Ohne viele Worte zu verlieren machten sich Petra und Kommissar Welp an den Abstieg in die Höhle, der über eine lange Feuerwehrleiter führte. Welp trug immer noch seinen Trenchcoat, obwohl er mittlerweile einige Schweißperlen auf der Stirn hatte. Es schien ihn aber nicht zu stören. Als sie unten angekommen waren, schaltete Petra ihre Taschenlampe ein, um sich ein erstes Bild von den Gegebenheiten zu machen.
“Kommen Sie Dr. Althing, hier entlang.”, sagte Welp und führte sie in einen der Gänge. Petra blieb immer wieder stehen, um sich stellenweise die Malereien etwas genauer zu betrachten und machte sich Notizen dazu. Welp konnte nicht deuten, was sie davon hielt. Petra zeigte keinerlei Regungen, an denen man hätte etwas ablesen können.
Nach etwa dreihundert Metern kamen sie an eine Kreuzung, von der aus weitere fünf Tunnel tiefer in die Höhle hineinführten. Kaum eine Wandfläche war frei von Malereien.
“Haben sie vielleicht eine Karte dieser Gegend dabei?“, fragte Petra den Hauptkommissar.
“Ich glaube schon, warten Sie.” Er kramte in den Weiten seines Mantels, konnte sich allerdings keinen Reim darauf machen, was Petra mit einer Karte des Naturschutzgebietes anfangen wollte. Tatsächlich hatte er eine dabei und reichte sie Petra mit einem fragenden Blick, den sie aber entweder nicht wahrnahm, oder einfach ignorierte.
“Was haben Sie damit vor?”, wollte der Kommissar wissen und beugte sich mit über die Karte, die Petra ausgebreitet hatte.
“Ich möchte versuchen unseren Weg, den wir jetzt gehen, einigermaßen genau festzuhalten.”, antwortete Petra leicht geistesabwesend. Sie malte Linien ein, markierte zwei Punkte und betrachtete sich dann nachdenklich die Karte. Dann deutete sie auf einen der Gänge.
“Wir gehen jetzt dort weiter.“, bestimmte sie und marschierte auch schon los. Der Kommissar folgte ihr.
Auch in diesem Tunnel zeigten sich weitere Malereien an den Wänden. Nach ein paar Metern weiter verschwenkte der Gang leicht nach rechts, bevor er wieder ziemlich gerade verlief. Es dauerte nicht lange, da kamen sie an die nächste Kreuzung. Petra blieb stehen, zeichnete erneut etwas auf der Karte ein, hob den Kopf, als wenn sie sich orientieren wollte und ging dann weiter.
Der Hauptkommissar folgte Petra durch den Tunnel wie ein kleines Kind, das in einem Spielzeugladen fasziniert von Regal zu Regal ging. Er konnte seine Blicke kaum von den Wänden mit den unzähligen Malereien lassen.
“Wie bekommt man nur solche Bilder in der Dunkelheit hin? Und woher die Farben nehmen?”
“Farben kann man aus den Steinen gewinnen. Jeder Stein färbt ab, wenn man ihn über einen anderen zieht. Haben Sie als Kind nie irgendwas mit Steinen auf den Weg gemalt?”
“Ja, doch. Klar, stimmt schon.”
“Und wenn man kleinere Steine zerbröselt und mit anderen vermischt, bekommt man wieder andere Farben. Ist eigentlich ganz einfach, wenn man weiß, wie. Was mich nur wundert, ist diese unglaubliche Intensität der Farben. Die ältesten gefundenen Höhlenmalereien sind etwa zehntausend Jahre alt. Diese hier jedoch wirken um Einiges jünger, aus Zeiten, in denen das künstliche Herstellen von Farben schon bekannt gewesen ist.“
Nun kam ihr die Frage nach dem Geologen wieder in den Kopf. „Wo wir gerade bei Steinen sind. Sie hatten mich nach jemanden gefragt, der sich damit auskennen würde. Ja, ein alter Schulfreund von mir. Dr. Franz Greiner. Er arbeitet für das geologische Institut in Hamburg.”
“Das hört sich doch gut an, dann rufen wir ihn an, sofort nachdem wir hier wieder raus sind. Können Sie sich denn für ihn verbürgen? Ich meine, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber wie gut ist er in seinem Fachgebiet?“ Welp klang skeptisch. Dass sich das so schnell ergeben sollte, wäre zu schön, um wahr zu sein.
„Er gehört zu den führenden Geologen auf dem Gebiet. Er ist mehr, als gut, da können Sie Gift drauf nehmen!“ Die Erwiderung von Petra ließ keinerlei Zweifel an ihrer Meinung über Franz offen. „Und lassen Sie sich nicht davon täuschen, dass er ein sehr, sehr guter Freund von mir ist. Da mache ich in der Beurteilung keine Unterschiede.“
„Ihr Wort in Gottes Gehörgang, wie man so schön sagt. Aber nun noch mal zu Ihren Theorien wegen der Malereien. Es klang so, als wenn Sie damit andeuten wollten, dass hier ein Urmensch, ein Neandertaler, oder so etwas, bis heute überlebt haben könnte, ohne jemals die Oberfläche betreten zu haben?”, witzelte Welp.
“Sehr witzig! Natürlich nicht, Herr Kommissar! Wie sollte das auch gehen. Ich habe jedenfalls noch von keiner Methode gehört, die so etwas möglich machen würde. Und schon gar nicht, dass die Menschen vor zehntausenden von Jahren es gekonnt hätten.”
Petra schüttelte verständnislos den Kopf. Scheint wohl doch zu stimmen, dass Polizisten nicht unbedingt die hellsten Köpfe sind. Welp merkte an der Reaktion von Petra, dass der Spruch wohl etwas unpassend war. Aber er hatte es durchaus ernst gemeint, auch wenn er es mit einem Grinsen gesagt hatte. Glücklicherweise, wie er jetzt feststellen musste.
“Schauen Sie da vorn, da kommt wieder eine Kreuzung!”, bemerkte Petra. Etwa fünfzig Meter vor Ihnen gabelte sich der Weg in zwei Richtungen.
“Das war ja ein kurzer Spaziergang. Also umdrehen, oder? Wenn wir noch weiter gehen, verlaufen wir uns irgendwann.” Welp machte bereits Anstalten umzukehren.
“Warten Sie, ich will nur mal schnell in die Tunnel hineinleuchten. Oder haben Sie etwa Angst? Ich dachte immer Polizisten lassen sich durch nichts erschrecken und wären absolut furchtlos, die Cowboys der Moderne. Sollte ich mich etwa getäuscht haben?“ Petra machte es Spaß den Kommissar ein wenig zu veralbern. „Ich will nur kurz hineinleuchten und sehen, ob man was erkennen kann, was da kommt.” Sprach es und näherte sich einem der beiden Gänge. Petra leuchtete kurz hinein, schien nichts Interessantes zu sehen und ging zu dem anderen Gang.
Petra leuchtete nun in den Gang geradeaus. Welp hatte sich neben sie gestellt, weil er selber sehen wollte, was da wohl sein mag. Der Spruch wegen der Angst schmerzte ihn schon ein wenig. Wenn die wüsste.
Zum Hauptkommissar war er geworden, weil er es immer verstand, andere in die gefährlichen Situationen zu schicken, aber selbst davon weg zu bleiben und später die Lorbeeren einzuheimsen. Gerade in Höhlen, dunklen und engen Räumen hatte er massive, klaustrophobische Ängste. Als Kind wurde er fast einen ganzen Tag lang in einem Erdloch gefangen gehalten. Es sollte ein Spiel sein. Die Kinder des Hochhauses gegen den Rest aus der Siedlung. Die “Hochhäuser” hatten in einer Sandkiste eine Art Verlies gebaut und Welp wurde gefangen genommen und saß in diesem Loch fest. Damals hatte er so furchtbare Angst bekommen, dass diese Panik vor engen Räumen bis heute geblieben ist. Aber das konnte Dr. Althing ja nicht wissen.
Nun stand er neben ihr und guckte auf den Lichtschein, den die Taschenlampe in den Tunnel warf. Beide verharrten stumm mit dem Blick auf das, was dort hinten von der starken Lampe angestrahlt wurde.
Sie wechselten einen Blick, der ausreichte, dass sie sich einig waren weiter zu gehen. Je näher sie dem kamen, was sie im Lichtschein erkannt zu haben glaubten, umso mehr bestätigte sich Petras Verdacht.
Der Gang selber sah nicht viel anders aus, als die anderen, durch die sie bisher gegangen waren. Das Gestein an den Wänden und Decken schimmerte in einem schönen Farbenkontrast. Man hätte nicht genau sagen können, in welchen Farben. Unterlegt wurde diese Pracht von stellenweise fast schwarzem Gestein und überdeckt wurde es auch hier von einer Vielzahl von Malereien.
Doch das, was am Ende dieses kurzen Ganges von der Kreuzung aus nur schemenhaft zu erkennen gewesen war, wurde stetig deutlicher. Nun waren sie dicht genug herangekommen, dass sie ein ausgebranntes Lagerfeuer erkennen konnten und als sie noch weiter kamen, wurde deutlich, dass sich dieses in einem großen Gewölbe, einer Art Sackgasse, befand.
Als Petra und Kommissar Welp das Gewölbe erreicht hatten schauten sie sich um. Überall lagen alte Sachen herum. Jacken, Taschen, Ruck- und Schlafsäcke. Essensdosen und Getränkeflaschen.
“Wo sind wir denn hier gelandet?”, fragte Welp verblüfft. „Sieht wie eine Kulisse für Indiana Jones aus.“
“Auf jeden Fall so, als wenn hier ein Expeditionsteam gewesen war. Muss aber schon eine ganze Weile her sein, schauen Sie sich die Sachen an, die sehen aus wie aus den Vierziger, oder Fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.” Petra hatte nach der ersten Überraschung angefangen, sich die Dinge, die hier herumlagen, genauer anzusehen.
“Scheint aber, als wenn sie es eilig gehabt hätten von hier zu verschwinden. So quer durcheinander, wie das hier herum liegt.”, erwiderte der Kommissar.
“Da haben Sie Recht, den Gedanken hatte ich auch schon. Als wenn irgendetwas passiert ist, sie vor irgendetwas, oder irgendwem, flüchten mussten.” Petra nahm sich eine der Essensdosen und betrachtete sie. Drehte sie in ihren Händen, begutachtete jede einzelne Seite dieser metallenen Dose auf der Suche nach einem Hinweis, aus welchem Jahr sie stammte.
“Hm, von der Art her, würde ich die Dose in der Zeit des zweiten Weltkriegs einordnen, vielleicht kurz danach.” Nachdenklich legte Petra die Dose wieder dahin zurück, von wo sie sie aufgenommen hatte.
Es sah wirklich wie eine alte Lagerstatt aus, aber eine Idee hatte auch Welp nicht. Er dachte an Kriminalfilme, in denen Verbrecherbanden ihren Unterschlupf in versteckten Kellern, oder verlassenen Häusern hatten. War dies hier auch so etwas in der Art? Nein, nein. Dann hätten wir davon schon Verdachtsmomente gehabt.
“Es müssen so um die zehn Personen gewesen sein, wenn man von den Schlafsäcken ausgeht. Vielleicht finden wir irgendwo einen Hinweis, wer hier war.”, forderte Petra den Kommissar auf, ihr beim Durchsuchen der Gegenstände behilflich zu sein. Sie durchsuchten die Sachen, drehten Töpfe um, hoben die Schlafsäcke an, durchwühlten die herumliegenden Klamotten und das erkaltete Lagerfeuer.
“Gucken Sie mal hier, ein altes Radio! Ob das noch funktioniert?”, rief Kommissar Welp zu Petra hinüber und hielt dabei ein kleines, altes Gerät in die Höhe. Er versuchte es einzuschalten, aber außer starkem, statischem Rauschen war nichts zu hören.
“Scheint kaputt zu sein.” Welp wollte es schon wieder weglegen, als Petra auf eine Idee kam.
“Warten Sie mal … ein Radio? Da ist doch bestimmt ein Stempel, eine Gravur, oder so was hinten drauf. Wann, wo, von wem hergestellt. Zeigen Sie mal her!” Petra streckte die Hand nach dem Gerät aus. Welp gab ihr das alte Telefunken Radio. Sie drehte es um - nichts. Auf der Unterseite vielleicht? Da! Da war eine Plakette unter das Gerät geschraubt, unter anderem mit dem Herstellungsjahr.
“1953.”, verkündete Petra stolz. „Also musste irgendeine Gruppe, ob nun Wissenschaftler, oder Abenteurer, in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hier gewesen.“, schlussfolgerte sie.
“Ist Ihnen denn irgendetwas über eine Höhlenforschung in den Fünfzigern in diesem Gebiet bekannt, Dr. Althing?” Welp war sich immer noch nicht sicher, ob es sich nicht auch um eine Räuberbande, oder Obdachlose handeln konnte.
“Nein, nichts aus dieser Gegend, nicht mal in Deutschland generell. Das würde ich wissen!”
“Und Spuren bis hierher, die auf eine Gruppe Menschen hingedeutet hätten, haben wir auch keine gesehen. Da frage ich mich, wo könnten die hergekommen sein.”, sagte Welp.
“Dann müssen sie aus einer anderen Richtung hierher gelangt sein. Ich würde vorschlagen, wir gehen noch ein Stück weiter und erkunden einen der Gänge.”, schlug Petra vor.
Sie schauten gemeinsam auf die Karte und einigten sich auf den Gang, der ungefähr nach Norden führte, sofern die Eintragungen, die Petra vorgenommen hatte, stimmten. Nach nur etwa zweihundert Metern stießen sie auf eine weitere Halle. Diese war ein wenig kleiner, als die, in der sie das Lager gefunden hatten. Dafür war diese noch bemerkenswerter. Es verschlug ihnen förmlich die Sprache, in Angesicht dessen, was sie hier vorfanden. Sieben Holzkisten verschiedener Größe und, wie es schien, luftdicht verschlossen, zumindest ließ eine helle Masse, die zwischen den einzelnen Leisten klebte, darauf schließen.
Weitere lose Bretter lagen im Umkreis der Kisten herum, wohl zu dem Zweck, im Bedarfsfall noch mehr Kisten bauen zu können. Allerdings fanden sich keinerlei Hinweise auf den Inhalt, keine Beschriftungen.
“Was haben wir denn hier? Eine Vorratskammer, einen vorsintflutlichen Kühlschrank? Was meinen Sie, Frau Dr. Althing? Schauen wir nach, was drinnen ist?” Welps Ermittlerinstinkt schien geweckt worden zu sein.
“Warum nicht? Da wird uns schon nichts entgegen springen.” Petra ging zu der kleinsten der Kisten und besah sie sich, wie sie geöffnet werden könnte. “Haben Sie zufällig etwas dabei, womit man die aufbekommen kann?”
“Warten Sie!” Welp kramte in seinem Trenchcoat, holte sein Schweizer Taschenmesser raus und warf es Petra rüber. “Hier, etwas anders habe ich nicht! Damit müsste es doch gehen.”
“Danke.” Petra klappte den Schraubenzieher aus und versuchte damit die Kiste zu öffnen. Sie stocherte in der Masse zwischen den Brettern herum, die weicher war, als es aussah.
“Geht’s?”, fragte Welp.
“Schwer, aber ich glaube schon.” Petra hatte den Punkt gewechselt, an dem sie ansetzte. An der Seite tat sich nichts und so versuchte sie es am Deckel. Langsam öffnete sich ein kleiner Spalt. Gelblicher Rauch quoll in Wölkchen aus der kleinen Öffnung der Kiste heraus. Petra wich verblüfft zurück. Damit hatte sie nicht gerechnet. So viel zum Thema, es springt ihnen nichts entgegen.
Sie trat wieder an die Kiste heran und versuchte weiter den Deckel von ihr zu lösen. Schließlich gelang es ihr. Sie riss den Deckel herunter und der Rauch entwich komplett mit einem seltsam zischenden Laut und raubte Welp und Petra für einen Moment die Sicht auf den Inhalt. Nachdem sich der Rauch soweit verzogen hatte, dass man wieder etwas erkennen konnte, schauten sie hinein.
“Was sind denn das für Vögel?”, meinte Welp während er mit Wedeln versuchte den letzten Rest des Rauches zu vertreiben.
“Bartgeier.”, antwortete Petra tonlos.
“Bartgeier? Noch nie gehört. Die sehen aus, als wären die gerade erst da rein gepackt worden. Sind die überhaupt echt?” Tatsächlich sahen die beiden Vögel lebendig aus, als würden sie schlafen, oder wären betäubt worden.
“Die sind seit rund zehntausend Jahren ausgestorben. Merkwürdig.” Ratlos blickte Petra auf die beiden Vögel. Wie konnten Tiere, die seit so langer Zeit ausgestorben waren, so frisch und lebendig aussehen? Hatte das was mit diesem Rauch zu tun, der da aus der Kiste kam?
“Lassen Sie uns doch mal sehen, was sich in den anderen Kisten befindet.”, schlug Welp vor, stand da und überlegte, welche sie nehmen sollten. Er war jetzt doch neugierig geworden.
“Vielleicht sollten wir erst noch die Höhle weiter absuchen. Wer weiß, was sich hier noch alles verbirgt.” Petra war vorsichtig und auch etwas ängstlich geworden. Ihr war nicht wohl bei der Sache, jetzt weitere Kisten zu öffnen. Hatte der Kommissar da vorhin mit seinem Spruch über den überlebenden Urmenschen doch in irgendeiner Weise Recht gehabt?
“Wie Sie meinen, Sie sind die Expertin.” Es schwang eine gewisse Enttäuschung in der Antwort des Kommissars mit.
Petra legte den Deckel wieder auf die Kiste mit den Vögeln. Danach machten sie sich auf, weiter in die Höhle vorzudringen. Der Gang, der von diesem Raum aus fortführte, verlief in einer ziemlich geraden Linie auf eine weitere Kreuzung zu.
“Links, oder rechts?” Welp schaute Petra fragend an. Mit einem Blick auf die Karte entschied sie nach links zu gehen. Etwas weiter machte der Gang eine scharfe Rechtskurve und führte dann wieder geradeaus.
Nach einer Weile kamen sie an eine Stelle, an der es nicht mehr weiter ging. Der Weg wurde von Steinbrocken versperrt, auf der linken Seite erhob sich eine steile Wand und gegenüber tat sich ein Abgrund auf. Welp schritt auf diesen zu und leuchtete nach unten.
“Oh mein Gott!”, entfuhr es ihm. “Ich glaube wir haben die Leute gefunden, dessen Lager das war.” Er erhielt keine Antwort.
Etwa dreißig Meter unter ihm sah er einige, beinahe komplett verweste, aber eindeutig menschliche, Leiber liegen, in sich verkeilt, Beine über Köpfe, Arme über Bäuche, verdrehte und abgetrennte Gliedmaßen. Es sah wie ein Wollknäuel aus, was erst auseinander und dann notdürftig wieder zusammengerollt wurde. Überall waren Köpfe, Arme und Beine zu sehen. Verrenkte und miteinander verflochtene Körper, sogar getrocknetes Blut war zu erkennen. Hier und da schien es, als stünden Knochen wie verwaiste Fahnenmasten empor.
Wie gebannt starrte Welp auf diesen wilden Haufen. Auszumachen, um wie viele Personen es sich handelte war unmöglich. Aber wo war Dr. Althing? Welp drehte sich um. Er sah sie auf einem kleinen Felsvorsprung der Steilwand sitzen, ein Buch in der Hand. Er ging auf sie zu.
”Wo kommt das Buch denn auf einmal her?” Welp setzte sich neben Petra auf den Vorsprung und schaute ebenfalls mit hinein.
”Ich habe da oben, zwischen den Steinen, etwas gesehen, was eben nicht nach einem Stein aussah. Dann bin ich da rauf und habe das hier gefunden.” Petra deutete auf eine Stelle, etwa zweieinhalb Meter in der Höhe.
”Und was steht drin?” Welp beugte sich über das Buch, doch Petra zog es zur Seite, weil sie ihn nicht hineinblicken lassen wollte. Stattdessen beantwortete sie die Frage des Kommissars.
”Es gehörte einem Professor Cornelius Massmann, wie aus dem Einband hervorgeht, es scheint ein Tagebuch zu sein. Ich habe noch nicht viel gelesen, nur die erste Seite. Da steht was von einer freiwilligen Exkursion, als Ferienzusatzseminar, hierher in dieses Höhlensystem, Sommer 1954. Und die Namen der Studenten, die dabei gewesen sind.”
”Dann wissen wir zumindest schon mal, wer da unten liegt.”
”Das werden aber nicht alle sein. Wenigstens einer hat überlebt.” Petra fiel es schwer, zu sprechen, ein dicker Klos saß ihr im Hals fest.
”Wie kommen Sie darauf? Sie haben das Wirrwarr da unten nicht gesehen. Da kann man niemanden identifizieren, schon gar nicht auf einen Blick feststellen, um wie viele Personen es sich handelt.“, gab Welp zu bedenken.
Petra hielt ihm nun doch das Buch hin und deutete auf einen bestimmten Namen in der Liste, die von diesem Massmann notiert worden war.
Werner Tiefental
Wer sollte das sein? Der Name sagte ihm nichts. Welp schaute Petra verständnislos ins Gesicht, sie war blass geworden und hatte kleine Tränen in den Augen.
“Und woher wollen Sie wissen, dass dieser Werner Tiefental überlebt hat?”, fragte er.
Es dauerte einen Moment, bis Petra sich gefasst hatte und antworten konnte: “Er war mein Professor an der Uni. Daher weiß ich, dass zumindest er überlebt hat.”, antwortete sie mit zitternder Stimme.
”Ich muss sofort nach Hamburg!”, setzte sie entschlossen hinzu.