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ОглавлениеMittwoch, 07. Juli
Hamburg, Haus von Professor Tiefental
In der Eilenau, im Hamburger Stadtteil Eilbek, stand ein schmuckes, kleines Reihenhaus, direkt an einem Alsterkanal gelegen. Im Vorgarten blühten Vergissmeinnicht, Tagetes und Sonnenblumen. Die dunkelbraune Eingangstür wurde von einem voluminösen Rosenbogen eingerahmt. Die Rosenranken blühten in allen erdenklichen Farben.
Die Fahrt vom Hauptbahnhof hierher dauerte nie länger, als zwanzig Minuten. So auch heute. Doch an diesem Tag hätte Petra sich gewünscht vielleicht gar nicht anzukommen. Sie war nervös, ihren alten Professor wegen so einer heiklen Angelegenheit wiederzusehen, aber auch wütend, dass er ihr niemals darüber etwas erzählt hatte, obwohl sie sich eigentlich stets alles sagten.
Petra stand unter dem Bogen vor der Tür und zögerte. Sie war unentschlossen. War es richtig ihn mit dieser über sechzig Jahre zurückliegenden Begebenheit zu belästigen? Er hatte nie über eine Exkursion im Rheinland erzählt, ganz im Gegenteil. Kamen Fragen auf, die sich mit alten Höhlen in Deutschland beschäftigten, hatte er immer abgewehrt, dass es so etwas nicht gäbe, zumindest keine von Bedeutung.
Aber er musste dabei gewesen sein. Wie hoch war wohl die Wahrscheinlichkeit, dass der im Tagebuch dieses Massmanns genannte Werner Tiefental ein Namensvetter war? Sie glaubte es jedenfalls nicht, zumal sie wusste, dass er in Köln studiert hatte. Das Tagebuch aus der Höhle hatte sie sicher in ihrer Handtasche verstaut.
Es handelte sich dabei um ihren ehemaligen Professor, da war sie sich absolut sicher! Also musste es einen triftigen Grund geben, warum Tiefental nie davon gesprochen hatte. Sicher, es gab zwölf Tote, aber warum schwieg er darüber? Petra konnte sich keinen Reim darauf machen.
Sie erhoffte sich von dem Besuch Erkenntnisse zu erlangen, die ihr weiterhelfen könnten. Irgendein Geheimnis verbarg sich hinter dem, was anno 1954 passiert war. Nur welches?
Paul Maurer saß in seinem weißen Fiat Transporter und versuchte Petra mit Gesten dazu zu bringen, dass sie endlich klingeln sollte. Er hatte sie vom Bahnhof abgeholt und hergefahren, nachdem Petra ihn von unterwegs angerufen und darum gebeten hatte. Er hatte sofort zugesagt und so für sich die Chance ergriffen, sie endlich mal wieder zu sehen. Zu lange war es her gewesen.
Paul hatte sich innerlich sehr über diesen Anruf gefreut. Er war früher das, was man als Schmalhans bezeichnen würde, aber diese Zeiten hatten sich geändert. Er hatte bis zum heutigen Tage die Hoffnung nie aufgegeben, eines Tages doch mehr, als einfach nur ein Freund von Petra sein zu können. Er wusste, dass sie auf Bodybuilder stand, zumindest hatte sie so was in der Art mal erwähnt, was mit ein Grund war, warum er irgendwann angefangen hatte regelmäßig in Fitnessstudios zu gehen. So ist aus ihm im Laufe der Jahre ein regelrechtes Muskelpaket geworden. Seine sehr dünnen, blonden Haare unterstrichen zudem noch bestimmte Muskelpartien, besonders am Hals und Nacken. Mit seiner Körpergröße von fast zwei Metern machte er einen bedrohlichen Eindruck. Er hätte sicher ohne Probleme einen gutbezahlten Job als Leibwächter bekommen.
Die Jobs waren es immer wieder, die verhinderten, dass er seine Bemühungen Petra gegenüber intensivieren konnte. Sie war ständig in irgendwelchen Höhlen irgendwo in Europa unterwegs und er selber hatte als selbstständiger Transportunternehmer auch alle Hände voll zu tun.
Aber wer weiß, vielleicht ergab sich jetzt die Gelegenheit seine Gefühle ihr gegenüber deutlicher zu machen. Vielleicht brauchte sie ihn ja noch. Warum sie so überraschend nach Hamburg kam, hatte sie ihm nicht erzählt und er hatte auch nicht gefragt. Paul wunderte sich zwar, dass sie so plötzlich und unerwartet zu Professor Tiefental wollte, aber er ging davon aus, dass sich nach dem Besuch in der Eilenau für ihn noch die Gelegenheit ergeben würde mit ihr alleine zu sein.
Schließlich überwand Petra sich und ihre Scheu, schob ihre Gedanken beiseite und drückte den runden, goldenen Knopf neben der Tür über dem auf einem ebenfalls goldenen Schildchen in schnörkeliger Schrift Tiefental stand. Es schellte drinnen, ein grässlicher, schriller Ton. Sie wartete, aber es rührte sich nichts im Haus, also versuchte sie es noch einmal. Diesmal konnte sie entfernt leise Schlurfgeräusche hören. Kurz darauf öffnete sich die Haustür, in der Professor Werner Tiefental stand.
Werner Tiefental saß in seinem Teezimmer und dachte mal wieder, wie so oft in der letzten Zeit, über die vergangenen Jahre nach. Ganz besonders über seine mittlerweile verstorbene Ehefrau. Er kam dann nicht umhin in diesen Momenten der Einsamkeit, sich stets speziell an den Tag zu erinnern, an dem sie sich kennen gelernt hatten.
Tiefental hatte sich einen frischen Tee aufgebrüht und wollte ihn gerade mit einem guten Buch genießen, wie er es jeden Nachmittag tat. Heute hatte er sich für George Orwells 1984 entschieden. Er hatte sich hingesetzt, wuschelte sich durch seine grauen Haare und strich sich über die Augenbrauen. Ein untrügliches Zeichen für Außenstehende, die ihn gut kannten, dass er das Gefühl hatte, etwas vergessen zu haben. So war es auch, nur fiel es ihm nicht wieder ein.
Tiefental nahm einen kleinen Schluck von dem noch heißen Tee, als ihm vor Müdigkeit die Augen zufielen und seine letzten Gedanken einen Weg in sein Unterbewusstsein und somit auch in seine Träume fanden. Das Buch und seine Brille lagen auf dem kleinen Beistelltisch neben seinem Sessel. Er träumte sehr lebhaft vom ersten Aufeinandertreffen zwischen ihm und seiner Frau Isolde und den Ereignissen, ohne die es dieses Zusammentreffen gar nicht erst gegeben hätte…
Eine Woche war es nun her, seit er aus der Höhle entkam. Definitiv nicht lange genug, um die schrecklichen Ereignisse auch nur ansatzweise verdrängen zu können, von vergessen ganz zu schweigen.
Der Verlust seiner Kommilitonen und vor allem seines hoch geschätzten Professors nagten an seinem Gewissen. Sicher, er war nicht Schuld an dem Unglück, aber doch fühlte er sich so. Werner war sich sicher, wenn er nur mehr Kraft aufgewendet hätte, hätte er Professor Massmann retten können. Die Schuldgefühle gegenüber seinen Kommilitonen konnte er auch nicht von der Hand weisen, auch wenn Werner nicht genau sagen konnte, was er hätte anders machen können, damit es nicht zu diesem Unglück kam.
Bislang hatte Werner es geschafft die Ärzte in der Klinik von seiner Amnesie zu überzeugen. Jetzt, nach den Tagen, die er bereits hier war und erfolgreich seinen Gedächtnisverlust vorgetäuscht hatte, würde es wahrscheinlich auch niemand mehr anzweifeln. Die Diagnose war gestellt worden und kein Arzt der Welt revidiert sich selber.
Er lag wach in seinem Krankenbett und starrte nachdenklich aus dem Fenster, es war drei Uhr nachts, was nicht weiter verwunderlich war, er schlief völlig unregelmäßig. Wenn er doch nur wieder mal eine Nacht durchschlafen könnte. Werner hatte zwar seine Schlafphasen, die aber nie länger als vielleicht zwei Stunden anhielten. Jedes Mal schreckte er aus seinen Träumen schweißgebadet auf. Träume in denen Professor Massmann immer und immer wieder in den Tiefen der Höhle verschwand.
Immer wieder das Bild vor dem inneren Auge, seine Hand nach Professor Massmann ausstreckend und ihn doch nicht halten könnend. Manchmal erwischte er ihn in seinen Träumen an den Fingerkuppen, aber eben nicht fest genug, so dass das Ergebnis stets dasselbe blieb, Massmann fiel.
War Werner wach, war es auch nicht wirklich besser, dann liefen die Geschehnisse vor seinem inneren Auge ab. Wirklich befreien konnte er sich von seinen Erinnerungen jedenfalls nicht. Und immer wieder dieses grässliche Geräusch in seinen Ohren, das Geräusch, als der Leib des Professors auf den harten Höhlenboden aufschlug. Wer schon einmal einen festen Kürbis aus der dritten Etage eines Hauses hat fallen lassen, weiß wie in etwa es sich anhörte, wenn der Körper des Professors aufschlug.
Ein Psychiater kam für Werner aber nicht infrage, um seine Erlebnisse zu verarbeiten. Niemals! Er wollte selber damit fertig werden und niemals, Nichts und Niemanden von den Ereignissen erzählen. Er hatte den Ärzten gesagt, er wäre mit seiner Studiengruppe auf eine kleine Exkursion gegangen, aber nachdem sie einen Abend zu viel getrunken hätten, es war der Tag des WM-Finales in Bern, wäre er am nächsten Morgen aufgewacht und alle anderen wären verschwunden.
Da er nicht wüsste, wo er wäre, hätte er sich auf einen beschwerlichen Heimweg machen müssen, in dessen Verlauf er sich häufiger den Kopf an irgendwelchen tiefhängenden Ästen angeschlagen hätte, kleinere Hänge hinuntergerutscht und durch Bäche gewatet wäre. Daher käme sein körperlicher Zustand. Dass er an einem für ihn unbekannten Ort aufgewacht sei, erklärte Werner mit der Vermutung, dass er im Rausch einen Nachtspaziergang unternommen haben musste.
Ein paar Wochen nach diesen Ereignissen hatte er in der Zeitung von den Vermissten gelesen, dass die Suche eingestellt worden sei und somit seine Studienfreunde für tot erklärt worden waren. Er selber wurde nur ein einziges Mal von der Polizei befragt, aufgrund der Information, die die Polizei vom Krankenhaus bekommen hatte. Den Beamten gegenüber wiederholte Werner seine Aussage, die er bereits im Krankenhaus zu den Ärzten gemacht hatte, woraufhin die Polizei ich nicht weiter befragte.
Verdrängen und vergessen, das war sein Motto gewesen, schon sein ganzes Leben.
Die Scheidung seiner Eltern, verdrängt und vergessen.
Der Tod seiner innigst geliebten Großmutter, verdrängt und vergessen.
Die Trennung seiner ersten großen (und für ihn zu dem Zeitpunkt einzig wahren) Liebe, verdrängt und vergessen.
Darin war er gut, ja, gar ein Perfektionist, Verdrängen und Vergessen; schlimme Erlebnisse einfach totschweigen, nie wieder darüber reden, so als wären sie nie geschehen, bis denn auch der Letzte keine Fragen mehr stellte.
Er schloss die Augen in dem verzweifelten Versuch doch noch etwas Schlaf zu finden. Gegen sieben Uhr würde er wieder geweckt werden, da war Frühstückszeit im Krankenhaus. Und dann gegen acht Uhr die Visite. Ob er den Arzt heute überredet bekäme, entlassen zu werden? Er musste hier raus. Raus aus dieser sterilen Atmosphäre des Krankenhauses.
Zu Hause würde er sich besser ablenken können, da war er sich sicher, ganz bestimmt. Ablenken von den Erlebnissen, den Bildern in seinem Kopf, die einfach nicht verschwinden wollten. Jedenfalls nicht hier, wo er immer wieder daran erinnert wurde, in dieser Umgebung von Verletzten, Kranken und Toten.
Sich ablenken, um besser verdrängen und vergessen zu können. Und dann geschah das Unfassbare - er schlief wirklich ein und wachte tatsächlich erst kurz vor dem Wecken zum Frühstück wieder auf. Pünktlich genug, um nicht irgendwelchen dummen Sprüchen gegenüber zu stehen, wie “oh wie schön, haben Sie doch mal endlich schlafen können”.
Am schlimmsten wäre es gewesen, wenn die Oberschwester Dienst hatte, dieses Monstrum von Weib. Hundertzwanzig Kilo auf einem Meter fünfzig Körperhöhe verteilt. Und so gewaltig der Körper, so schlecht gelaunt war sie auch jeden Tag. Ach, würde doch die Stationsschwester Isolde heute Dienst haben.
“Guten Morgen Herr Tiefental”, begrüßte ihn eine Stimme, wie von einem Engel. Welch ein Glück, es war Isolde, sein Wunsch ging in Erfüllung. Vielleicht war das ja auch ein gutes Zeichen, dass an diesem Tag noch mehr schöne Dinge passieren würden. Seine Entlassung zum Beispiel.
Was war sie doch für eine Schönheit… Lange, schwarze Haare, meistens zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, bestechende braune Augen, keine 1,60 Meter groß. Würde gut zu mir passen, dachte er bei sich. Wäre ich doch bloß nicht so schrecklich schüchtern.
“Nennen Sie mich doch bitte Werner!”, sagte er, bestimmt schon zum gefühlt hundertsten Male.
“Sehen Sie, Sie werden auch mit dem Vornamen angesprochen, Schwester Isolde. Da finde ich es nur gerecht, wenn Sie mich auch mit dem Vornamen anreden, auch wenn es bei Krankenschwestern normal ist. Also, ich bin der Werner.” Er hielt ihr seine Hand hin zum Zeichen, dass er ihr das Du anbot.
Sie schaute ihn aus ihren betörenden Augen an und schien zu überlegen. Schließlich schlug sie ein. Mit einem so bezaubernden Lächeln, das sogar Steine zum Erweichen gebracht hätte.
“In Ordnung, Herr Tief… ääähm, Entschuldigung. Werner, meinte ich natürlich! Ich bin die Isolde. Ab sofort ohne die Schwester. Aber nur, wenn wir alleine sind, einverstanden? Ich kann mir vorstellen, dass Oberschwester Johanna wenig begeistert wäre, wenn wir so vertraut miteinander sprechen. Die alte Schule, Du weißt schon.” Isolde wurde vor Scham leicht rot im Gesicht. Allerdings musste Werner feststellen, dass es ihr stand.
“Geht klar, kein Problem! Ich würde auch keinen Ärger mit diesem Drachen haben wollen.”, antwortete er mit einem breiten Grinsen und sehr erleichtert, dass diese Hürde nun endlich genommen war.
“Dann mal jetzt aber schnell her mit dem Frühstück, ich verhungere ja sonst.” Werner klatschte in die Hände und zog den Tisch über sein Bett.
Isolde legte ihm das Tablett zurecht, was sie vorher auf dem kleinen Tisch im Zimmer vorerst abgestellt hatte und ging mit einem verschmitzten Lächeln auf dem Gesicht hinaus. Der ist so süß! Hach, würde er mich doch mal zum Essen einladen. Dachte sie sich dabei und seufzte verträumt in sich hinein.
Werner hatte sich genau dies fest vorgenommen, aber wie, wenn er doch so verflucht schüchtern war. Naja, mal schauen. Nachdem sie sich jetzt duzten, würde er auch das noch hinbekommen.
Kaum hatte er sein Frühstück aufgegessen, da klopfte es auch schon an der Tür und der Arzt kam zur Visite herein. Reine Routine, seine Verletzungen waren schon sehr gut verheilt. Am Ende der Visite entschied der Arzt, dass er heute Nachmittag das Krankenhaus verlassen durfte und nach Hause konnte. Außer, es wäre ihm lieber, freiwillig noch ein paar Tage zur Sicherheit da zu bleiben. Aus medizinischer Sicht wäre es aber nicht notwendig.
Werner war überglücklich, endlich nach Hause zu dürfen. Noch länger hier bleiben? Alles, nur das nicht! Um Gottes Willen, das war doch genau das, was er sich gewünscht hatte.
Der Arzt war noch gar nicht ganz aus dem Zimmer raus, da fing Werner schon mit dem Packen an. Als er fertig war setzte sich Werner auf sein Bett und wartete, dass er seine Entlassungspapiere bekam. Er überlegte noch etwas anderes. Schließlich stand er auf, griff in seine Tasche und holte einen Stift und einen Zettel heraus. Er schrieb etwas auf und steckte sich den Zettel in die Hosentasche. Für später - vielleicht - oder auch nie…
Nach dem Mittagessen war es soweit, er durfte gehen. Sein Tasche war fertig, also machte er sich direkt auf den Weg. Als er über den Flur ging und am Schwesternzimmer vorbeikam, hielt er noch mal an und schaute, ob Isolde zufällig da war. War sie!
Sein Herz setzte für einen Moment aus, so aufgeregt war er. Sie saß am Schreibtisch, notierte etwas auf einem Patientenbogen. Sollte er einfach weiter gehen? Was, wenn sie ihn auslachte? Scheiß drauf, sagte er sich. Wenn sie nein sagte, auf welche Art und Weise auch immer, würde er es handhaben wie eh und je - verdrängen und vergessen. Er würde sie dann ja auch nie wieder sehen, wahrscheinlich. Er nahm all seinen Mut zusammen und sprach sie an.
“Isolde, ich werde jetzt gehen.“ Seine Stimme war rau und er musste sich räuspern, um den Klos aus dem Hals zu bekommen.
“Oh, Werner. Hat der Arzt Dich für gesund befunden? Ich hoffe sehr, dass es Dir bald wieder richtig gut gehen wird! Komme gut nach Hause und ruhe Dich noch ein paar Tage aus.” Ihre Augen glühten vor Glück, ihn noch einmal zu sehen. Zumindest kam es Werner so vor. Kann aber auch nur Einbildung gewesen sein.
“Danke, das werde ich tun.” Er druckste herum und wusste nicht so recht, was er noch sagen, oder tun sollte. Das seltsamste war, ihr schien es ähnlich zu gehen. Eine bedrückende Stille machte sich zwischen den beiden breit, bis Isolde aktiv wurde.
Sie hob ihre Hand, um ihm zum Abschied die Hand zu geben. Werner zog seine aus der Hosentasche und zögerte kurz. Er hatte seinen kleinen Zettel zwischen seinen Fingern versteckt und wollte ihr diesen eigentlich geben. Als sich ihre Hände berührten, klemmte er ihr den Zettel einfach zwischen ihre Finger.
Er konnte es kaum fassen. Er hatte seine Schüchternheit überwunden. Jetzt kam es darauf an, wie sie reagieren würde.
Sie schaute überrascht in ihre Hand und somit auf den Zettel, dann ihm ins Gesicht und wieder auf den kleinen Zettel in ihrer Hand und wieder Werner ins Gesicht. Er wartete geduldig, zumindest versuchte er selbstbewusst und geduldig zu wirken, und signalisierte ihr mit einem kleinen Kopfnicken, sie solle ihn sich anschauen. Sie faltete ihn auseinander und las. Es stand lediglich seine Adresse darauf und eine Frage:
Heute Abend 20Uhr zum Essen bei mir?
Sie schaute auf und strahlte ihn an, als wenn zehn Sonnen auf einmal die Erde beschienen. Ihre Augen blitzten vor Glück.
“Sehr, sehr gerne! Ich freue mich!”, brachte Isolde unter Mühen hervor. Sie gab ihm noch einen schnellen, sanften Kuss auf die Wange, dann drehte sie sich um und ging wieder an die Arbeit.
Er hatte das Gefühl zu fliegen, sein Herz machte Purzelbäume und seine Beine schienen ihn nicht mehr richtig tragen zu können. Er war verliebt! Ganz sicher. Das war keine Schwärmerei, das war Liebe! Und sie schien auch nicht abgeneigt zu sein, das war das Beste daran. Es würde ein sehr romantischer Abend werden. Jedenfalls würde er alles daran setzen, dass es einer wurde. Und das wurde er auch.
Ein halbes Jahr später war sie zu ihm in die Wohnung gezogen und weitere zwölf Monate später waren sie Herr Werner und Frau Isolde Tiefental - bis heute.
Professor Werner Tiefental erwachte aus seinem Schlummer. Er hörte im Hintergrund sogar noch die Kirchenglocken läuten. Kirchenglocken? Nein, das war seine Türklingel! Irgendjemand musste vor seinem Haus stehen. Er stand auf und ging zur Eingangstür und öffnete sie.
“Petra! Was für eine Überraschung. Komm doch rein.” Er trat zur Seite, um seine Lieblingsexstudentin hereinzulassen.
Petra und Tiefental hatten seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Uni als Studentin und Professor stets den Kontakt zueinander beibehalten. Er hatte sie immer als seine beste Studentin bezeichnet, die er je hatte.
Es hatte sich eine Beziehung im Laufe der Jahre zwischen den beiden entwickelt, die fast wie Vater und Tochter war. Entsprechend war sie auch vor zwei Jahren dabei, als Isolde Tiefental beigesetzt wurde. Isolde starb nach langer Krankheit und alle hatten es als Erlösung für sie angesehen. Sie hatte Gebärmutterkrebs und konnte keine eigenen Kinder bekommen. Die Diagnose erhielten die Tiefentals, da waren sie Mitte dreißig. Vielleicht auch ein Grund, warum Tiefental Petra als Tochter behandelte. Seitdem hatte Petra immer versucht, sich noch mehr, so es ihre Zeit erlaubte, um ihn zu kümmern.
Tiefental führte sie in sein Teezimmer, wie er es nannte. Es war sein Arbeitszimmer, in das er sich zurückzog, wenn er seine Ruhe haben wollte. Er nahm sich dann immer eine Kanne Tee mit, daher der Name, am liebsten hatte er einfachen schwarzen.
Sie setzten sich, Petra auf die alte Chaiselongue und Tiefental in seinen heiß geliebten Ohrensessel. Den hatte er schon, als Petra noch als ganz junge Studentin das erste Mal hier zu Besuch gewesen war. Und da sah er schon verdammt alt aus.
“Schön Dich zu sehen. Was führt Dich hierher? Du siehst müde und abgespannt aus.”, begann Tiefental die Unterhaltung.
“Ach, ich wollte einfach mal wieder nach Ihnen sehen und schauen, wie es Ihnen geht. Allerdings hatte ich auch viel zu tun in der letzten Zeit, Forschungen am Vesuv, das wissen Sie ja. Bis vorgestern. Da bekam ich Anruf von einem Kommissar der Mordkommission in Köln. Ich wurde gebeten nach Köln zu kommen, um bei Untersuchungen eines Unglücks, bei dem zwei Kinder umkamen, behilflich zu sein. Aber nun sagen Sie, wie geht es Ihnen Professor?” Petra fiel es schwer, den wahren Grund ihres Besuches zu nennen.
“Ach, soweit alles in Ordnung. Meine Arthritis macht mir zwar immer mehr zu schaffen, aber damit komme ich schon klar. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, auch wenn es um solche Wehwehchen geht. Nur an den Verlust Isoldes kann ich mich schwer gewöhnen, auch wenn es schon beinahe zwei Jahre her ist. Sie fehlt mir sehr. Du aber auch. Und nun raus mit der Sprache. Ich sehe es Dir doch an, Du hast was Bestimmtes auf dem Herzen, dafür kenne ich Dich zu gut!”, forderte er Petra auf.
“Haben Sie vielleicht ein Glas Wasser für mich?” Ihr Mund war trocken geworden. Wenn sie jetzt nichts zu trinken bekäme, würde sie wahrscheinlich kein Wort mehr herausbringen.
“Wasser!? Habe ich nicht da, außer Leitungswasser, wenn Du magst. Ach was, ich mache uns einen schönen Earl Grey. Bin gleich wieder da und dann erzählst Du mir, was wirklich los ist.” Tiefental erhob sich aus seinem Sessel, strich sich über seine Halbglatze und kratzte sich am Hinterkopf in den grauen Haaren. Er ging in die Küche, um das Teewasser aufzusetzen.
Petra hörte ihn mit Tassen und Kannen hantieren. Sie schaute sich derweil in seinem Lieblingszimmer um. Es hatte sich hier kaum etwas verändert in all den Jahren. Immer noch die gleichen Auszeichnungen und Fotos an den Wänden. Nahezu alle Fotos zeigten ihn mit Isolde, oder auch seine verstorbene Frau alleine.
Kurze Zeit später kam Tiefental wieder zurück, einen Teewagen vor sich her schiebend mit einer Kanne dampfenden Tee und zwei Tassen darauf, sowie je ein kleines Gefäß mit Zucker und Milch. Er setzte sich wieder in seinen Sessel und goss beiden eine Tasse ein. “So Petra! Und nun erzähle!”
Dem Professor konnte sie noch nie etwas vormachen. Es war schon immer so gewesen, dass er irgendwie spüren konnte, wenn etwas nicht stimmte. Sie holte tief Luft, nahm all ihren Mut zusammen und begann zu erzählen.
Zunächst noch mal von ihrem Auftrag in Italien und dem Anruf aus Köln. Dann kam sie zu ihren Entdeckungen, die sie gemeinsam mit dem Kommissar in der Höhle gemacht hat. Schließlich vom Fund des Tagebuches.
Dem Professor fiel es schwer seine Gemütsregung zu verstecken, aber irgendwie schaffte er es doch. Er war geschockt und ängstlich. Würde nun doch noch die ganze Wahrheit über die Dinge, die damals passiert waren ans Licht kommen? Wieso musste ausgerechnet Petra diejenige sein, die da was gefunden hat? Er riss sich zusammen, damit nichts Verräterisches an seinem Verhalten lag. Vielleicht konnte er seine Beteiligung doch noch irgendwie weiter verheimlichen.
“Und wie soll ich Dir helfen? Oder warum bist Du deswegen zu mir gekommen?”, versuchte er es mit einer unverbindlichen Frage.
“Indem Sie mir sagen, was Sie damals da unten gefunden haben.” Weiß sie doch schon mehr, als ich hoffe? Bitte lieber Gott, lass es nicht so sein!
“Wie kommst Du darauf, dass ich etwas darüber wissen könnte?”, versuchte Tiefental von sich abzulenken.
Petra stand auf, ging zu ihrer Handtasche, nahm das Tagebuch des Professor Massmann heraus und schlug es auf der ersten Seite auf, dort wo die Namen der Studenten standen und reichte es dem Professor, zeigte mit dem Finger auf seinen Namen.
“Deswegen!”, sagte sie leicht aufgebracht. “Weil Sie dabei waren!” Petra setzte sich wieder, sichtlich erleichtert, dass es nun raus war.
Professor Tiefental sackte in seinem Sessel zusammen. Nun war es wohl doch wahr geworden, dass jemand von den Ereignissen erfahren hatte. Und dann auch noch ausgerechnet Petra! Irgendwie hatte er es immer gewusst, dass dieser Tag einmal kommen würde. Sollte er noch weiter leugnen? Das hatte keinen Sinn. So wie er Petra kannte, so kannte auch sie ihn. Sie würde es merken, sollte er lügen. Aber verschweigen? Ja, er musste ja nicht alles erzählen. Oder würde sie es merken, wenn er etwas ausließe, oder gar lügen würde? Ziemlich sicher. Die komplette Wahrheit war dann wohl doch die beste Variante. Na ja, die Kisten lasse ich besser außen vor, das würde sie mir doch nicht glauben. Also begann er zu erzählen.
Tiefental begann mit der Stunde, in der Professor Massmann ihnen mitteilte, was er vorhatte und fragte, wer denn Lust hätte mit dabei zu sein. Dann, aus unerfindlichen Gründen, begann er in einem schier endlosen Redeschwall zu erzählen, nachdem die ersten Worte nur sehr stockend kamen. Es schien fast wie eine Befreiung für ihn zu sein.