Читать книгу Wächterkind - Ralf Oswald - Страница 10
ОглавлениеDer Aufbruch
4000 Fuß über Rheinland-Pfalz.
Noch immer bohrte sich der Typhoon senkrecht durch die tiefschwarzen Wolken. Im Cockpit herrschte Nacht, ein sanftes türkis-grünes Licht beleuchtete die Konsolen und die Beschriftungen der einzelnen Schalter.
„Ist dir was aufgefallen, Mika?“
„Was meinst du?“
„Achte auf das Wetter. Normalerweise sollten uns Windböen hin- und herrütteln.“ Mika sah nach draußen in die undurchdringlichen Wolkenfetzen und warf einen Blick auf seine Instrumente.
„Stimmt. Hier bewegt sich kein Lüftchen, das ist eigentlich unmöglich.“
Ein kurzer Summton erklang dreimal hintereinander, der an das Wecksignal eines alten Radioweckers erinnerte.
„Ah, soeben kam die Flugroute. Die Waypoints werden vom Navigationscomputer aufgearbeitet.“
„Mal sehen, wo sie uns hinschicken“, entgegnete Carlos. Er aktivierte einige Tastschalter. Sofort erwachte eines der Displays zum Leben.
Die Waypoints stellten verschiedene Streckenpunkte dar. Wie Stecknadeln, die in eine Landkarte gesteckt sind, markierten sie Orte, die mit einem bestimmten Auftrag verbunden sind wie zum Beispiel Rendezvous-Manöver oder Kampfaufträge. Alle Waypoints waren nummeriert und auf dem Display durch eine dünne Linie verbunden.
„Hey, über dem Bodensee findet ein Rendezvous statt. Dort werden wir uns ein paar anderen Jungs anschließen.“
„Mhmm.“ Carlos scrollte in der Liste. „Dann gehts weiter nach ..., dann über ...“ Carlos verstummte. „Hey, du wirst es nicht glauben. Die schicken uns nach Pakistan!“
„Pakistan?“, entfuhr es Mika. „Was geht denn da ab?“
„Ich hab’ nicht die geringste Ahnung.“
Der Typhoon stieg immer höher - 8000 Fuß, 8050 Fuß, 8100 Fuß. Das Donnern der Triebwerke war im Cockpit unter dem Helm und dem Einfluss der schallabsorbierenden Gehörschutzstopfen nur noch als dumpfes Prasseln zu hören. Bei 8500 Fuß bemerkte Mika zum ersten Mal hellere Wolkenfetzen.
„Denk diesmal an deinen Blendschutz.“
„Ist doch schon lange unten“, log Carlos und klappte hastig die verspiegelte Displayschale vor seine Augen. Danach ging es sehr schnell. Noch zwei, dreimal flackerten die ersten Lichtfetzen durch die Wolkenfront, dann durchbrach der Typhoon mit einem Schlag die Wolkendecke. Mika und Carlos starrten in einen stahlblauen Himmel, in dem sich berghohe Wolkentürme formten. Dahinter erstreckte sich eine gewaltige schwarze Ebene, sie wirkte unecht, undurchdringbar, wie die Grenzfläche zu einer anderen Welt.
„Hast du so etwas schon mal gesehen?“, fragte Carlos.
„Hmm, ja. Ich glaube, in irgendeinem Kubrik-Film. Oder, nein, warte! War es einer dieser Emmerich Filme? Nein, es war irgendwo anders ... ich hatte in meinem Traum ...“, plötzlich verstummte Mika mitten im Satz.
Eine Stimme im Com meldete sich: “GT-34, hier ist Braveheart, Staffelführer der Staffel Violett. Ich kommandiere die 15 Eurofighter, 12 Tornados und 9 Tomcats, die ich hier im Schlepptau habe. Ich nehme an, dass ich mit Daywalker spreche.“
„Passt schon.“
„Was?“
„Ja, Roger!“
“Daywalker, ich habe die Order, die Führung der gesamten Staffel an Sie zu übergeben. Mir wurde aufgetragen, Ihnen von General Taylor eine Aufzeichnung zu übermitteln. Achtung, Übertragung läuft”.
Wieder summte es dreimal, auf dem rechten Display erschien die Meldung “Incoming Message”.
Mika sah, dass es sich um eine Audiodatei handelte.
“Daywalker,” begann Braveheart, “General Taylor ließ ausrichten, dass jeder der Teilnehmer dieser “Expedition”, wie er den Einsatz nennt, dieses Audiofile hat, sie waren der letzte, der es erhalten hat. Sobald Sie Ihre Nachricht starten, beginnt damit der synchrone Ablauf auf allen Maschinen. Sind Sie bereit?”
“Bereit”, antwortete Mika und startete das Audiofile. Zeitgleich startete es in jedem internen Com der anderen Maschinen.
“Hallo Mike”, erklang eine Stimme über das interne Com, “hier ist Ana. General Taylor hat mich als Einsatzleiterin ernannt und mir aufgetragen, dir Deine Order auf diese Weise zu erteilen. Diese Order geht hiermit auch an alle Einsatzteilnehmer, die mich im Augenblick hören. Wir wählten diesen Weg, um eine absolute Funkdisziplin zu gewährleisten, um dadurch Euren Auftrag geheim zu halten. Du kennst mich seit Langem, jetzt hör mir genau zu. Ich will, dass wir uns absolut klar verstehen, denn es wird keine weitere Kommunikation zwischen uns geben. OK?“
Es waren genau diese einfachen, unverblümten Worte, die jedem ein mulmiges Gefühl in der Magengegend vermittelte.
„Wir haben vor nun genau 95 Minuten vom Nachrichtendienst eine unglaubliche Mitteilung erhalten. Demzufolge ist heute Morgen um Nullsiebenhundert Zulu eine Staffel von 39 Bombern verschiedenster Bauart aus den Gebirgshangars in Pakistan gestartet.
Die verschiedenen Aufklärungsberichte der vergangenen Wochen haben mit einem Mal einen Sinn ergeben. Es gab Gerüchte, dass die weltweite Terrorgruppierung der Gotteskrieger einen gewaltigen Anschlag plant. Es gab bisher aber absolut nichts Konkretes. Doch nun hat es sich bestätigt: Eine Schwadron der Gotteskrieger ist mit selbstgebauten Atomgranaten unterwegs. Man sagt, die Piloten seien Selbstmordkrieger, Ruhm und Ehre wären ihnen und ihren Familien sicher.
Das war das Letzte, was sie per Satellit übermitteln konnten, bevor man sie entdeckte!
Also, nochmals: zirka 39 Bomber sind im Anflug auf Europa. Jeder dieser Bomber transportiert einen Atomsprengkörper mit unbekannter Sprengkraft. Unsere Spezialisten gehen davon aus, dass selbst der kleinste davon ausreicht, um z.B. Hamburg mitsamt Umgebung in einem Rutsch auszuradieren. Es handelt sich um Sprengkörper einfachster Bauart. Das bedeutet, dass sie keinen komplizierten Sprengkopf haben. Es ist also möglich, die feindliche Flotte zu zerstören, ohne das eine Bombe hochgeht. Kein einziges Flugzeug darf durchbrechen.“
Schweigen.
“Bei den Bomben handelt es sich um mindestens 55 kg angereichertem Plutonium, zum Teil aus unseren eigenen Atomkraftwerken. Woher wir das wissen? Nun, das Plutonium hat eine gewisse Signatur, die ..., aber das ist jetzt nebensächlich. Sie fragen sich, wie die Kerle an unser Plutonium kamen? Auch das ist jetzt erstmals egal.
Tatsache ist, dass sich Hunderte von Freiwilligen gefunden haben, ihrer „Heiligen Sache“ zu dienen, indem sie das Plutonium in kleinen Gummisäckchen ins Land geschmuggelt haben. Alle Sicherheitsbehörden suchen dort nur nach Waffen, Metallen oder nach Rauschgift. Bei Plutonium springt aber kein Scanner an. Auf diese Art und Weise sind über 2000 kg Plutonium nach Pakistan geschleust worden.
Doch jammern ist nun zu spät. Wir müssen jetzt handeln.
Bei Waypoint 4, über dem Bodensee, werden sie sich mit der spanischen und italienischen Staffel verbinden, in etwa fünfunddreißig Maschinen verschiedener Typen sein. Die jeweiligen Staffelführer sind bereits eingewiesen. Es herrscht bis dahin absolute Funkstille, es sei denn es geschieht irgendetwas, was die Mission gefährdet. Viel Glück. Ende.“
Mika meldete sich ein letztes Mal:
„Roger and Out“.
Die Sonne befand sich knapp über dem Horizont und beleuchtete schräg von vorne die 37 Kampfjets, die sich wie ein großer Vogelschwarm in Richtung Süden bewegte. Doch anders als bei Zugvögeln wichen sie nicht dem Winter aus, sondern versuchten, einen solchen zu vermeiden. Einen sehr langen Winter.