Читать книгу Wächterkind - Ralf Oswald - Страница 4
ОглавлениеDie Basis
WHAAAAM!
Eine gewaltige Erschütterung erfasste das Cockpit, das gleichzeitig von einem blendend hellem Blitz begleitet wurde. Ein dreifaches Piepen erklang und eine unsichtbare Stimme schnarrte monoton: „MISSILE! MISSILE! MISSILE!“
„Verfluchter Mist“, rief Mika und riss den Stick nach links und brachte dadurch den Kampfjet in die Rückenlage. Gleichzeitig zog er den Stick scharf zu sich heran und leitete einen Sturzflug ein.
„Wahrscheinlich ist die Rakete eine AMRAAM“, meldete Carlos. „Entfernung achthundert Meter, schnell näher kommend.“
Er blickte über seine Schulter nach hinten. Was er sah, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.
„Cara del curo, verdammt!“ Die fremde Rakete klebte noch an ihren Fersen.
Carlos drückte einige Schalter auf der rechten Konsole. Mehrmals war ein dumpfes Klack-Boff zu hören. Carlos wusste, dass in diesem Moment kleine Kartuschen aus dem Spender in der rechten Tragfläche nach hinten ausgestoßen wurden. Drei Sekunden später würden mehrere kleine Magnesiumsonnen mit über dreitausend Grad für die Rakete ein neues Ziel darstellen. Carlos zählte mit: „Drei, Zwei, Eins ...“, eine kurze Pause erfolgte, in der ein blendendes Licht entstand. „Mierda!“
Abrupt änderte Mika erneut die Flugrichtung und schob gleichzeitig den Schubregler bis zum Anschlag nach vorne. Donnernd erwachten die Nachbrenner zum Leben und leiteten einen rasanten Steilflug ein. Der fremde Lenkflugkörper war immer noch hinter ihnen.
„AMRAAM immer noch auf Verfolgungskurs. Abstand dreihundert Meter.“
Carlos schluckte hörbar.
„Noch zweihundert Meter ..., ACHTUNG, KONTAKT IN FÜNF SEKUNDEN!“
Mika riss den Steuerknüppel nach hinten. Sofort bäumte sich der Jet auf und begann, senkrecht nach oben zu steigen.
„Kontakt in DREI ..., ZWEI ..., EINS ...“
Die sich schnell nähernde Rakete erkannte den heißen Triebwerksausstoß des Jets und errechnete, dass sie nun nahe genug war. Sie explodierte. Eine kleine Sonne begann zu leuchten und eine gewaltige Glutwolke bereitete sich aus. Das letzte, was Mika sah, war das Licht! Doch kurz vorher erkannte er noch, wie sich in den Glutwolken ein Gesicht zu formen begann. Große, längsgeschlitzte Pupillen blickten ihn an. Weißes Haar wurde von glühenden Turbulenzen durcheinandergewirbelt. Blaue Lippen wurden aufgerissen und formten die letzten Worte, bevor die lodernde Glutwolke alles zerriss:
„MIKAAH, HILF MIR!“
Mika zuckte zusammen, als die letzten Ausläufer eines gewaltigen Blitzes den Raum erhellten. Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Atem ging rasselnd, und während sich seine Hand am Tisch festkrallte, versuchte er zu erkennen, wo er sich befand.
„Was für ein Albtraum“, dachte er.
Mika war an seinem Schreibtisch eingeschlafen.
OK, der Staffelarzt hatte ja gesagt, dass sich seine Albträume bald ändern würden. Nun, im Prinzip hatte er Recht, sie sind schlimmer geworden!
Ein gedämpfter Donner grollte über den Stützpunkt. Vor wenigen Minuten war Mika am Tisch eingeschlafen, aber er hielt immer noch die Fotos in der Hand.
Eigentlich spendete die Kerze viel zu wenig Licht, um irgendwelche Einzelheiten deutlich erkennen zu können, doch das war auch nicht notwendig, schon hundert Mal zuvor hatte er die Bilder gesehen, er kannte jede Einzelheit, jedes kleine Detail.
Mikas Atem wurde ruhiger.
Sehr langsam, beinahe schon andächtig, griff er nach dem obersten Bild des Stapels, den er in der linken Hand hielt, und steckte es nach hinten.
Die Eiswürfel in dem Glas waren schon lange geschmolzen. Das aufwändig verzierte Glas bildete in diesem schmucklosen Raum ein Fremdkörper. Es handelte sich um ein geschliffenes, achteckiges Kristallglas, in dessen Boden von unten der Kopf einer Meduse eingraviert war. Das flackernde Kerzenlicht bewirkte, dass sich gold-gelbe Lichtreflexe in den Facetten des Gesichts der Meduse brachen, und es hatte den Anschein, als ob der Kopf von einem lodernden Flammenkranz umrahmt wurde. Hin und wieder brachen sich violette Reflexionen einiger entfernter Blitze im Glas, doch außer der Meduse schien dies keiner zu bemerken.
Der alte Player in der Ecke trällerte den Oldie „Behind Blue Eyes“, doch das nahm Mika nicht wahr.
Er hob den Kopf an und sah durch das kleine Fenster nach draußen. Am Horizont war ein leuchtendes Band zu sehen, begrenzt von Gewitterwolken. Bald würde die Sonne aufgehen, doch wie es aussah, würde man durch das aufziehende Gewitter davon nichts sehen. Wieder zeigte sich am Horizont für mehrere Sekunden das ungewöhnliche Wetterleuchten. Es wird einen Sturm geben, dachte Mika. Wie damals.
Erneut nahm er das oberste Foto und steckte es bedächtig nach hinten. Wie lange war es her? Heute ist ... Dienstag, nein, schon Mittwoch. Also ist es dreihundert ... achtundsiebzig Tage her. Es folgte ein kurzer Blick auf die Uhr, ... und zwei Stunden. Ein verzerrtes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. Es ist doch schon seltsam, wie innerhalb einer Sekunde alles ganz anders werden kann. Alles, was mir etwas bedeutet hatte, ist weg.
Er griff nach dem Glas und hielt es in der Hand. ALLES IST WEG! Und das hier ist nun mein Zuhause, stellte er fest.
Mikas Blick löste sich von dem Lichtspiel am Horizont und begann, im Zimmer umherzustreifen. Schmucklose, funktionelle Vierkantstahlmöbel, wie sie in der gesamten Armee benutzt wurden. Zumindest hatte er nie etwas gravierend anderes gesehen. In der Ecke stand eine selbst gekaufte Ikea Kommode, Modell Oereson oder so ähnlich, auf dem die Tag und Nacht eingeschaltete Kaffeemaschine stand. Längst hatte sich der letzte Kaffee in einen braunen Belag verwandelt, der in einer weiteren Schicht die Glaskanne überzog. Über der Kommode hatte Mika ein paar Filmposter aufgehängt, das größte davon war eine seltene Version des Films GLADIATOR, welches er auf einer Filmbörse in München erstanden hatte.
Damals war er mit Anne dort gewesen. Und wieder musste Mika schlucken, um die aufsteigende Enge im Hals loszuwerden.
Anne!
Sein glasiger Blick starrte ins Leere, als sich vor seinem inneren Auge das Bild einer dunkelhaarigen Frau zeigte. Er begann zu lächeln. Braune Augen blickten ihm entgegen. Wie vermisste er diese Augen.
Sie wurden größer und schienen Mika regelrecht aufzusaugen.
Doch plötzlich veränderten sich die Pupillen. Sie zogen sich spaltförmig zusammen, bis sich eine katzenartige Pupille gebildet hatte. Mika zuckte, doch im nächsten Moment war die Erscheinung bereits verschwunden und das Foto zeigte wieder die Frau, die er liebte.
In seinen Gedanken hielt sie zwei Eintrittskarten für die Bavaria Filmstudios hoch und wedelte damit vor seiner Nase, um sie grinsend hinter ihrem Rücken zu verstecken. Oft hatte sie ihn aufgrund seines Filmticks aufgezogen. Mika hatte das Ganze nie als Spleen gesehen, sondern immer nur als sein Hobby bezeichnet.
Spleen ...!
Mit diesem Gedanken blickte Mika in die entgegengesetzte Ecke des Raumes, wo sein Stubenkamerad sich etwas individueller eingerichtet hatte. Ein kompletter, lederner Brustharnisch und ein aufwändig verzierter Helm eines Samurais hingen an der Wand. Darunter hing ein dreifach geteilter Waffenständer, in dem sich jedoch nur zwei Schwerter befanden - Katanas, wie er sie nannte. Den Abschluss bildete eine kleine Kommode, dasselbe Ikea-Modell wie Mika selbst eine hatte, nur in Schwarz, die er in so eine Art Schrein verwandelt hatte: - zig bunte Teelichter, Buddhastatuen, Blütenblätter, Teeschalen, aus denen er einen ungenießbaren grünen Pulvertee trank und Essstäbchen von Wongs Heimservice dekorierten die flache Kommode. Das konnte man einen Tick nennen, dachte Mika.
Mikas Gedanken gingen zurück zu Anne und dem Wochenende, das sie zusammen in München verbracht hatten. Die Kiddies bei der Oma zu lassen, um seit Langem mal alleine zu sein, war eine tolle Idee gewesen. Mika blätterte in seinem Bilderstapel weiter. Zwei blonde Mädchen im Alter von Fünf und Sieben blickten ihm aus dem Bild entgegen.
Das Foto hatte Anne ihm gemailt, als sie zusammen mit den Kids am 10. Juni ihre Eltern in Madrid besuchte. Mikas Lächeln hatte sich in eine starre Maske verwandelt, als er an das Datum dachte. Riesig erschienen die Schlagzeilen vor seinen Augen: 11. JUNI, TAG DES UNTERGANGS.
Mika starrte auf das Foto.
Vor seinem inneren Auge bildete sich im Hintergrund des Fotos eine leuchtende Kugel. Grell, so weiß, dass sie alles überstrahlte, sah er, wie seine beiden Töchter im Vordergrund wie auf einem Röntgenbild durchleuchtet wurden, faustgroße Blasen entstanden in Sekundenbruchteilen auf ihren Körpern bis ein gewaltiger Sturm einsetzte. Fleischfetzen wurden von dem Glutsturm weggerissen und verdampften, das übrig gebliebene Skelett glühte auf und fiel in einer Aschewolke zusammen.
Mikas Fingerknöchel traten hervor, als sich sein Griff um das Glas verstärkte. Sein Gesicht hatte sich in eine wütende Grimasse verwandelt, als er im Geist auf dem Foto im abklingenden Licht den riesigen Atompilz aufsteigen sah. Abermals spürte eine unbändige Wut in sich.
Anne! Rachel ... Gabrielle! TOT!
Sie wurden ihm genommen innerhalb einer Sekunde. Nie wieder würde er sie in den Armen halten können. Es gab doch noch so viel, was er mit ihnen vorhatte. Ja, er hatte sich auch vorgenommen, vielmehr Zeit mit ihnen zu verbringen. Die Kleine war schon so aufgeregt auf ihren ersten Schultag. Anne wollte dazu etwas ganz Besonderes vorbereiten. Und dann wollten sie nächsten Sommer zusammen in die Toskana fahren, eventuell noch weiter. Und er würde ihnen Rom zeigen. Ganz gewiss. Das Kolosseum, das Amphitheater, er würde Anne zeigen, wo die Gladiatoren wirklich gekämpft hatten. Und wenn die Kinder im Bett wären, würde er mit ihr noch ein Glas Rotwein genießen, mit Blick von der sommerlichen Terrasse über die gesamte Stadt.
“Anne ..., ich wollte, ich könnte das alles aufholen. Ausnahmslos zurückdrehen. Ich würde alles tun, um es ungeschehen zu machen!”
Mikas Augen wurden glasig.
“Anne, du fehlst mir so sehr …”!
Die Flamme der Kerze begann zu flackern, als die Tür geöffnet wurde, doch Mika merkte nichts von all dem. Im Türrahmen zeichneten sich gegen den erleuchteten Flur die Konturen eines Mannes ab, der ein Schwert in der Hand hielt. Leise schloss er die Tür hinter sich, dann bewegte er sich ebenso geräuschlos durch das Zimmer. In einer fließenden Bewegung führte er das Schwert nach vorne, verharrte in dieser Stellung für Sekunden, dann nickte er und legte das Schwert behutsam in den Halter. Anschließend drehte er sich mit einer geschmeidigen Bewegung um und bewegte auf Mika zu. Noch immer saß Mika bewegungslos da, nur seine linke Hand mit den Fotos zitterte. Plötzlich zuckte er zusammen, als er auf seiner linken Schulter eine Hand spürte.
„Hey, Amigo, quäl' dich doch nicht länger“, sagte eine sanfte Stimme. „Du kannst daran nichts mehr ändern.“
„Carlos ... - was weißt du schon! Lass mich einfach in Ruhe, ok? Du hast keine Ahnung und verstehst das nicht.“, entgegnete Mika mit rauer Stimme. Er spürte ein Brennen in seiner Kehle.
Der Griff auf Mikas Schulter wurde stärker.
„Doch, Amigo - doch, ... ich denke schon, dass ich es verstehe. Meine Schwester lebte in Madrid. Das war meine eigene, kleine Familie. Ich hatte sonst niemanden.“
Ein verzerrtes Grinsen überzog Carlos’ Lippen und seine Augen schienen in große Ferne zu blicken. Er blieb noch einige Sekunden stehen, seine Hand lag immer noch auf Mikas Schulter.
„Komm, ruh dich doch noch ein wenig aus. Du weißt nicht, wann es wieder weitergeht.“
Carlos ging um den Tisch herum und stand Mika gegenüber. Große, braune Augen blickten Mika verschmitzt an.
„Sag mal, Amigo, wird dein Alkoholproblem langsam nicht eine teuere Sache?“
„Was meinst du damit“, fragte Mika gelangweilt und sah von seinen Fotos auf.
„Na ja, jeden Abend kippst du dir einen Mordsbecher Whiskey ein, hältst ihn den ganzen Abend fest und schüttest ihn morgens in den Ausguss. Also, wenn das mal kein Alkoholproblem ist, dann weiß ich nicht!“
Mika sah Carlos an und musste zum Ersten mal seit längerer Zeit grinsen.
„Also, ich lege mich auf jeden Fall noch hin“, entgegnete Carlos mit übertriebener Geste, „ich bin im Moment echt geschafft!“
„Du? Geschafft? Was war denn los?“, feixte Mika.
Auf diesen Moment hatte Carlos nur gewartet.
„Mika, du glaubst gar nicht, was mir eben passiert ist“, begann Carlos mit überschlagender Stimme. Schnell zog er den zweiten Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich.
„Nachdem ich mit der Schwertübung fertig war, habe ich wie immer noch meditiert, und dann ... BAFF ..., Mika, das war absolut ungewöhnlich!“
Dabei fuchtelte er mit beiden Händen. Er war zwar oft eine richtige Nervensäge, aber Mika mochte diesen kleinen Spanier. Kurzgeschnittene schwarze Haare und der dunkle Teint ließen ihn zu einem Musterbild eines Südländers werden, wenn nicht da seine fernöstliche Leidenschaft wäre, die dieses Klischee sofort wieder zerstört. Carlos wurde zu Anfang des europäischen Krieges als Kadett ins neue NATO Luftwaffenhauptquartier in Ramstein eingezogen um als Jetpilot ausgebildet zu werden. Mika war sein Ausbilder, der ihn nun seit vielen Monaten auf dem Eurofighter ausbildete.
Ein weiterer Blitz erhellte das gesamte Zimmer.
Erschrocken zuckte Carlos hoch und sagte: „Ja, und genau damit hatte es auch zu tun!“
Mika dachte erschrocken an seinen Albtraum. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn. Neugierig beugte er sich nach vorne, als plötzlich auf dem gesamten Stützpunkt der Alpha Alarm losheulte.