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ОглавлениеZwischenwelt, früh am Morgen
Mit wehendem Mantel stand Esrael am Rand des Canyons und blickte auf das tiefgrüne Meer. Dann drehte er sich ruckartig um und warf die Arme nach oben.
„Nein, du machst es falsch“, tobte er. „Ich sage es dir zum hundertsten Mal. Du wünscht es dir zu sehr. Du bist in Gedanken nicht selbstlos.“
Es war frisch an diesem Morgen. Die Sonne war seit einiger Zeit am Himmel, doch durch die dichte Schicht aus Wolken und Nebel war nur ein leuchtender Fleck zu sehen.
Mit großen Schritten ging er auf den am Boden liegenden Kadaver zu, der entfernt Ähnlichkeit mit einem Säugetier hatte. Es war mehr eine Art halbflüssiger Zellhaufen, aus dem fünf unterschiedlich ausgebildete Armstümpfe ragten. Zwei riesige, teilweise ineinander verschmolzene Gebisse zierten den feucht schimmernden Rücken des flunderförmigen Experiments.
„Und nun das hier. Schau dir das an“, rief er und trat mit dem rechten Fuß gegen den organischen Haufen. Wie ein Gelatineklumpen wabbelte das unförmige Etwas, bis es zur Ruhe fand. Er warf die Hand hoch, die Handfläche geöffnet. Dann knickte er seine Hand im Gelenk ab und deutete von oben herab auf den Klumpen.
„Ich predige es dir immer und immer wieder. Warum tue ich das hier. Es ist reine Zeit- und Ressourcenverschwendung. Hörst du mir überhaupt noch zu?“
Eleya würdigte Esrael mit keinem Blick. Sie stand teilnahmslos da und zog das lange Kapuzencape enger um sich. Man merkte ihr an, dass sie fror. Ihr Blick war aufs Meer gerichtet.
„HE, ELEYA ...!”
Langsam blinzelte sie und drehte sich wie in Zeitlupe zu Esrael um. Sie legte einen verwirrten Gesichtsausdruck auf.
„Hmm? Was ... ?“, Sie zog die Augenbrauen zusammen. Ihre Ohren stellten sich ab, als sie den Kopf neigte.
„Oh, entschuldige, Brüderchen, ich habe nicht zugehört. Kannst du das bitte nochmal wiederholen?“
Esrael stapfte auf sie zu und blieb einen halben Meter vor ihr stehen.
Die Brise, die vom Meer herüberwehte und nun wärmere Luft herantrug, ließ ihr schulterlanges weißes Haar wehen. Eleya strich sich eine Strähne hinter ihr Ohr. Sie schob ihr Kinn vor, legte den Kopf schief und schaute ihn mit einem Grinsen an.
Esrael schnaufte innerlich. Schon öfters in letzter Zeit hatte sie sich solche Sachen einfallen lassen, die ihn zur Weißglut trieben. Früher war sie durch seine Wutausbrüche sehr eingeschüchtert geworden und hatte oft mit den Tränen kämpfen müssen.
Doch in den letzten Monaten hatte sich ihr Charakter geändert. Ja, gewiss, sie war stärker geworden. Aber Esrael fiel in erster Linie auf, wie trotzig und launig sie bei solchen Gelegenheiten wurde. Irgendwie verstand sie es immer besser, seine Wut gegen ihn selber zu lenken. Doch diesmal sollte sie damit kein Glück haben. Er konnte sich auch anpassen. Ja, damit würde sie nicht rechnen. Esrael kochte.
Er legte ein zuckersüßes Lächeln auf und sagte in leisem Ton: „Schau mal, ich versuche doch nur, dir zu helfen.“ Esrael legte beide Hände auf ihre Schultern.
„Ich weiß ja, wie schwer du es hast.“ Innerlich biss er sich fast die Zunge ab. Auch er legte den Kopf schief und säuselte: „Ich kenne keinen, der so gut ist wie du. Du machst das ganz phantastisch - wirklich!“
Der erwartete Effekt trat ein. Eleya fühlte sich in der momentanen Situation unsicher. Mit Wut und Beleidigungen kam sie gut zurecht. Was konnte er ihr damit schon entgegenbringen? Er wollte doch etwas von ihr. Und wenn sie nicht das lernen konnte, was Vater ihnen aufgetragen hatte, würde es auf ihn zurückfallen. Also ... !
Esrael senkte den Kopf und sah sie lächelnd an.
„Schwesterchen, glaub mir, ich habe schon viele unterrichtet. Und ich habe eine Menge gesehen. Aber im Ernst, alles, was du hier vollbringst, lässt sich mit keinem Maßstab messen!“
Jetzt nur nicht übertreiben, dachte er.
Eleya war verwirrt. Sie öffnete den Mund, als ob sie etwas sagen wollte.
Esrael fuhr fort: „Aber ich weiß, dass du es besser kannst. Noch viel besser. Ich habe blindes Vertrauen in dich.“
Eleya blickte kurz zur Seite, dann fixierte sie wieder Esraels Augen.
„Aber ...“, begann sie, „aber ich habe doch genau gemacht, was du gesagt hast.“
Mit einem Mal war ihr gesamtes, gleichgültiges Verhalten gewichen. Auch sie benutzte jetzt beide Hände und begann, ihre hervorsprudelnden Worte zu unterstreichen.
„Die Zeitverteilung habe ich exakt überprüft und die verschiedenen Strömungen im Chi-Fluss keinen Moment aus den Augen verloren. Ich wollte alles so richtig machen. Ich habe sogar verschiedene Zwischeninterpolationen durchgeführt ...“
„Was hast du“, fragte Esrael zart, immer noch lächelnd.
„Na, ich habe erst mal alles in die kleinsten Bausteine zerlegt und dann alle Möglichkeiten durchprobiert, wie man es wieder neu zusammensetzen könnte. Dabei habe ich entdeckt, dass es mehr als nur eine Möglichkeit gibt. Und da dachte ich, ...“
Esrael sah sie schweigend an. Seine Gedanken rasten. Das habe ich noch nie gemacht, dachte er. KEINER hat so etwas bisher versucht!
Er erwachte aus seiner Starre und wiegte ihre Schultern vor und zurück, dann zupfte er kurz an einer Haarsträhne.
„Ja, Kleine. Ich glaube, genau das ist es.“ Er ließ sie los und sein flimmerndes Erscheinungsbild schritt durch sie hindurch. Er ging noch ein paar Meter weiter, als Eleya sich zu ihm umdrehte und fragte:
„Was meinst du?“
Esrael blieb stehen. Er stellte sich breitbeinig hin und verschränkte die Arme. Aus dieser Bewegung heraus griff er sich mit der Hand nachdenklich ans Kinn.
„Ja, ich glaube, das ist der Grund. Du möchtest es perfekt machen, nicht wahr?“
Eleya war immer noch zu verunsichert und vermutete eine Fangfrage dahinter. Daher sagte sie nichts und hörte zu, innerlich lauernd, ob nicht doch der nächste Ausbruch bevorstand.
„Du weißt, was du kannst. Das mit der Zwischeninterpolation habe ich übrigens vorher noch nie gehört“, lächelte er. „Ich wusste gar nicht, dass so etwas überhaupt geht. Nicht übel – für einen Anfänger!“
Verdammt, warum habe ich so etwas vorher nie versucht?
Eleya wurde verlegen und begann ebenfalls zu lächeln.
„Aber schau, Schwesterchen, genau da fängt das Problem an. Du versuchst, das alles perfekt zu machen. Du möchtest alles im Griff haben. Du willst den Fluss nach belieben steuern.“
Esrael drehte die Handflächen nach oben.
„Eleya, siehst du es denn nicht?“
Er strahlte sie an.
„Du hast alle Fähigkeiten, die notwendig sind. Aber du hast den selbstlosen Weg vergessen. Du versuchst, alles immer unter Kontrolle zu halten. Und genau das führt zu deinem Scheitern. Wir haben zu viel gelernt und dabei das Wesentliche außer Acht gelassen. Besinn dich doch nochmals auf die Anfänge deiner Ausbildung. Konzentriere dich mit jeder Faser auf deine Aufgabe. Schau sie dir in Gedanken an. Ganz genau – aus jeder erdenklichen Richtung. Achte auf alle Details. Bleib dabei aber hierbei neutral. Nicht werten, nicht beurteilen, nicht kommentieren – nur beobachten. Und dann ... übergib dich dem Fluss. Versuche nicht selbst, etwas zu regeln. “ES” wird dich regeln. Du bleibst einfach nur als Beobachter zurück. Alles wird eins. Und es geschieht einfach. Bring hierbei keinen eigenen Willen ein.“
Eleya wusste genau, was Esrael meinte. Konnte es wirklich sein, dass ... ?
Ihre Gedanken begannen zu kreisen.
In der Tat hatte Esrael Recht, sie kannte alle Details, kannte sie sogar in- und auswendig. Und bei den normalen Übungen klappt alles tadellos. Sie war davon sehr überzeugt. Ja, da strengte sie sich auch nicht mehr an, das geht einfach von selbst. Fast ohne ihr zutun. Aber immer dann, wenn sie etwas besonders gut machen will ...!
Lächelnd hob sie ihren Kopf.
„Ich glaube, ich weiß, was du meinst.“
Esrael sah aufmerksam zurück.
„Und? Hab ich es dir nicht schon tausendmal gesagt?“
Er zeigte ein strahlendes Lächeln.
„Ja, schon, doch diesmal bist du so ..., so ...“, Eleya suchte nach Worten, „... so nett! Und du erklärst es auch so schön!“
Esrael stand da und präsentierte weiße Zähne. Er musste aufpassen, dass daraus keine Grimasse wurde.
Nett!
Ja, nett wollte er schon immer sein, ging ihm ironisch gemeint durch den Sinn. Er schenkte Eleya ein kurzes Nicken, gefolgt von einem Schulterzucken.
Jetzt nur nichts kaputt machen, dachte er.
„Na, was meinst du? Wollen wir es nochmal versuchen? Ich bin sicher, du schaffst es ohne Probleme“, versicherte Esrael.
Eleya strahlte.
In diesem Moment lichtete sich der Nebelvorhang und ließ wärmende Sonnenstrahlen durch.
Eleya schaute blinzelnd in den Himmel. Sie hielt als Blendschutz die Hand vor die Augen und blinzelte zwischen einem winzigen Spalt zwischen den Fingern in die Sonne.
„Esrael, sieh mal“, sagte sie. Er hatte ebenfalls den Blick auf die Sonne gerichtet und erkannte, dass ihr blaues Licht zu flimmern begann.