Читать книгу Von Sehnsucht und Träumen - Raphaela Höfner - Страница 11
ОглавлениеMai 1941
Wisła, Polen
Es war Mai und die Obstbäume blühten. Vom Ast eines kräftigen Birnbaums baumelten nackte Kinderfüße. Dreck klebte an den Zehen und Fußsohlen. Der warme Wind, der den Schnee zum Schmelzen gebracht hatte, strich sanft darüber hinweg bis hin zu den weißen Blüten. Über dem Hof mit seinen Feldern und Wäldern spannte sich der blaue Himmel. Vereinzelte Wolken hingen wie Zuckerwatte daran und schwebten vom Wind getrieben über den Horizont.
Als Jacob an den Birn- und Apfelbäumen entlangging, löste sich der Körper und plumpste auf seine Schulter.
»Oskar«, rief Jacob und wirbelte herum. »Du hast mich erschreckt!«
Lachend kugelte sich der Junge im kniehohen Gras.
»Das ist ja der Sinn der Sache«, erklärte Oskar altklug und streckte Jacob die Zunge heraus. »Hast du mich davor etwa nicht gesehen?«
»Nein«, gab Jacob ehrlicherweise zu. Der Junge strahlte übers ganze Gesicht, sodass sich tiefe Grübchen in den Wangen bildeten.
»Wenn nicht einmal du mich sehen kannst, dann kann niemand mich sehen.« Er stand auf, war in wenigen Schritten bei Jacob und schmiegte sich an seine Seite. »Nimmst du mich mit?«, bettelte er und blickte Jacob mit seinen großen, bronzefarbenen Augen an. Dessen Widerstand schmolz, als der Kleine auch noch die Unterlippe nach vorne schob.
»Also schön.«
Oskar machte einen Luftsprung und quiekte auf. »Darf ich huckepack?«
»Ausnahmsweise.«
Schon spürte er den federleichten Körper auf seinem Rücken. Oskar war im Herbst zu ihnen auf den Hof gekommen. Sein Vater war ein Sohn der Bauern gewesen. Er war von den Deutschen erwischt und zusammengeschlagen worden. An die zwanzig Kilometer hatte er sich noch geschleppt, um seinen Sohn hierher zu seinen Eltern zu bringen. Nur wenige Tage nach seiner Ankunft war er gestorben. Jacob erinnerte sich noch, wie der Junge eingerollt zu den Füßen seines Vaters geschlafen hatte. All die Zeit hatte er sich nicht vom Bett wegbewegen wollen, hatte nicht gegessen und kaum etwas getrunken. Er hatte sein kleines Gesicht gegen die wächserne, blaugefärbte Wange seines Vaters gepresst und ihm Wasser eingeflößt. Alles umsonst. Oskar war nun Vollwaise. Seine Mutter war schon vor vielen Jahren gestorben, Geschwister hatte er keine und jetzt war ihm auch noch der Vater viel zu früh genommen worden. Sie hatten ihn am Waldrand begraben und das Grab mit Steinen bedeckt, sodass keine wilden Tiere die Erde aufwühlen konnten. Oskar war viele Stunden einfach nur dagesessen und hatte ins Leere geschaut. Er war noch nicht einmal zwölf Jahre alt, und schon schien sein Leben sinnlos zu sein. Vom ersten Tag an hatte Jacob den Jungen ins Herz geschlossen. Er vermisste es, einen kleinen Bruder zu haben, und musste oft an Levi denken. Der jüngste Sohn der Sternlichts war vor gut zwei Jahren noch rechtzeitig in die Schweiz gebracht worden. Jacob blieb zumindest die Hoffnung, dass er dort in Sicherheit war und ein halbwegs normales Leben führen konnte. Ein Schweizer Kollege von Georg Sedlmayr hatte ihn mit offenen Armen in seine Familie aufgenommen. Erst war Jacob wütend auf seine Eltern gewesen, die ihm den Bruder genommen und sie voneinander getrennt hatten. Doch mehr als einmal musste er sich eingestehen, dass er inzwischen froh für Levi war. Obwohl seine Gedanken oft bei ihm waren, so war er dennoch unendlich weit weg. Aber Oskar war hier. Er brauchte ihn.
Erst als Jacob angefangen hatte, den Jungen auf seine Streifzüge mitzunehmen, hatte er überhaupt wieder zu sprechen begonnen. Vorher war er nur apathisch im Haus gesessen, in Gedanken verloren, gebrochen und allein. Zusammen erkundeten sie nun die Wälder, Jacob hatte ihn zurück ins Leben geholt und die Wörter sprudelten aus Oskar geradezu heraus wie aus einem Wasserfall.
Seit sie ihre bayerische Heimat hatten verlassen müssen, seit er Hannah verloren hatte, schien auch Jacob selbst innerlich zerbrochen. Oskar hatte ihm geholfen, aus den Scherben wieder ein Ganzes zu machen. Sie brauchten einander und gaben sich Halt. In der kurzen Zeit waren sie zu Brüdern geworden.
»Glaubst du, dass ein Karnickel in die Falle getappt ist?«, fragte Oskar. Seine lakritzschwarzen Haare kitzelten Jacob im Nacken.
»Lassen wir uns einfach überraschen.«
Sie verließen die mit Klee und Löwenzahn überwucherten Felder und begaben sich in den Wald.
Der Ort, der hier zu ihrer neuen Bleibe geworden war, hatte sich als Geschenk entpuppt. Als Jacobs Familie damals den Brief mit dem Abschiebe-Bescheid nach Polen erhalten hatte, da sein Vater gebürtiger Pole war, war eine Welt zusammengebrochen. Wohin sollten sie gehen? Wovon leben? Auf der Zugfahrt hatte das Glück ihnen unter die Arme gegriffen. Sie hatten ein junges Paar kennengelernt. Die Eltern des Mannes waren Bauern, und sie hatten ihnen angeboten, mit ihnen zu kommen. Seitdem lebten und arbeiteten sie auf einem Bauernhof in der Nähe der polnischen Stadt Wisła. Sanfte Hügel, Wälder und unberührte Natur prägten das Landschaftsbild. Im Winter hätte man Skifahren können. Seit dem Ersten Weltkrieg zählte der Landstrich hier zu Polen, jetzt war er in deutscher Hand. Weichsel, so hieß er jetzt. Die Natur konnte Jacobs Heimweh zumindest ein wenig lindern. Fast fühlte er sich zurückversetzt in seine Kindheit, als er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang wie eine Katze draußen herumgestromert war.
Nur wenige Kilometer trennten sie von der tschechischen Grenze. Viele Menschen sprachen ohnehin Deutsch, sodass Jacob keinerlei Probleme bei der Verständigung gehabt hatte. Niemand aber brachte ihm Polnisch so geduldig bei wie Oskar. Er selbst lehrte den Jungen dafür Deutsch.
Flimmernd fielen die Sonnenstrahlen durch die Nadeln der Kiefern und Lärchen. Oskar war inzwischen von Jacobs Rücken geglitten und lief hinter ihm. Jacobs Finger fuhren über einen Baumstamm. Er zerrieb das klebrige Harz auf seiner Haut.
»Reib deine Hände etwas mit Harz ein. Das vertreibt deinen Geruch und die Tiere wittern dich nicht so schnell«, sagte Jacob und Oskar gehorchte sofort.
Nach zwanzig Minuten Fußmarsch erreichten sie die erste Falle. Tatsächlich. Ein toter Hase hing darin. Wahrscheinlich hatte er vor lauter Panik einen Herzinfarkt bekommen, das war bei Hasen keine Seltenheit.
»Schau, ob er noch warm ist.«
Die Pfoten des Tieres klebten. Man konnte deutlich sehen, dass es gekämpft und gegraben hatte. Schlapp legte sich der Körper um Oskars Hände.
»Besonders warm ist er nicht mehr.«
»Er ist nicht steif, also kann er noch nicht so lange tot sein«, erklärte Jacob. »Wahrscheinlich können wir noch etwas mit dem Kerlchen anfangen. Was sagst du zu einem leckeren Hasenbraten?«
Oskar leckte sich über die Lippen. Sie legten den Hasen in ihren Beutel und setzten ihren Weg fort. Kurz bevor sie die zweite Falle erreichten, blieb Jacob instinktiv stehen. Hatte er sich das Rascheln nur eingebildet? Schritte scharrten über den Boden. Stimmen erklangen. Ein Flüstern. Jacob schob Oskar hinter einen Baumstamm und holte selbst sein Messer aus der Hosentasche. Er legte den Zeigefinger an seine Lippen als Zeichen, dass er still sein sollte. Mit erschrockenen Augen blickte der Kleine ihn an. Vorsichtig tastete sich Jacob ein paar Schritte heran und spähte über einen Hügel.
»Schneid ihn los. Wir nehmen ihn mit«, wisperte eine Frau.
Der junge Mann neben ihr säbelte mit dem Messer hektisch an der Schlinge.
»Kann ich euch vielleicht zur Hand gehen?«, sagte Jacob laut und die beiden fuhren erschrocken herum. Der Hase, den die Frau auf ihrem Schoß gehalten hatte, rutschte zu Boden, als sie aufsprang.
»Was willst du?«, zischte der Mann auf Polnisch und zeigte mit der Messerspitze auf Jacob. Sein Gesicht lag im Schatten. Ein einzelner Sonnenstrahl fiel auf seine Brust und Jacob erkannte die Fäden an seiner Jacke. An der Stelle musste ein Stern gewesen sein. Sie waren Juden. Das änderte alles.
»Ihr könnt ihn haben«, sagte Jacob und steckte das Messer weg. Der Mann sah ihn einen kurzen Moment an und blickte dann irritiert zu der Frau.
»Bist du allein?«
Ein kleiner Windstoß verriet Jacob, dass Oskar hinter ihm aufgetaucht war.
»Wir sind nie allein. Wir sind immer zu zweit«, antwortete der Junge auf Polnisch.
»Was macht ihr im Wald?«, fragte Jacob.
»Bist du Deutscher?«, stieß der Mann abfällig hervor und blickte Jacob hasserfüllt an. Sein Akzent hatte ihn verraten.
»Deutscher Jude«, antwortete er. »Wir beide sind Juden.« Er deutete von sich auf Oskar.
»Habt ihr es noch nicht gehört? Die Deutschen sind jetzt überall. Sie haben fast alle mitgenommen. Unsere Eltern, meine Großeltern. Mit Lastwägen sind sie gekommen, sie wollen alle Juden mitnehmen.«
Jacob spürte, wie sich Oskars Körper neben ihm verspannte. Er wollte etwas sagen, erwidern, doch seine Zunge lag trocken in seinem Mund.
»Wir haben gesehen, wie sie alle verladen haben. Wie Vieh! Wir haben die Nacht abgewartet, sind dann auf den Hof zurück und haben das Nötigste zusammengepackt.« Die Frau deutete auf zwei Rucksäcke, die an einer Kiefer lehnten. »Die Jungen haben sie weggebracht, die Alten sind geblieben.«
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Oskar aufgeregt. Der Mann fuhr mit dem Zeigefinger über seinen Hals.
Oskar erbleichte. »Ihr lügt«, sagte er.
»Ich wünschte es wäre eine Lüge!«
»Was habt ihr vor?«, fragte Jacob.
»Weg. Vielleicht schaffen wir es über die Grenze. Ihr solltet das auch versuchen. Hier werden sie euch töten.«
Wieder spürte Jacob Oskars Blick auf sich. Hoffnungsvoll. Als hätte er die passende Antwort, eine rettende Idee.
»Wir jedenfalls lassen uns nicht einfach so abholen. Noch weniger erschießen, wir wollen leben. Deshalb sind wir auf der Flucht. Entscheidet ihr für euch selbst. Wenn ihr den Mut dazu habt, dann macht, dass ihr davonkommt. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Er hatte den Hasen von der Schlinge gelöst und legte sich das Tier über die Schulter. »Danke für den Hasen. Ein gutes Abendessen für uns. So etwas hatten wir schon lange nicht mehr.«
»Von wo kommt ihr?«
»Aus der Nähe von Bielitz. Wir sind Tage und Nächte gelaufen. Bald haben wir es geschafft.«
Oskar zog die Luft laut durch die Zähne ein.
»Lebt wohl«, sagte der Mann. »Haltet auf jeden Fall die Augen offen. Auch hier in den Wäldern tummeln sich Deutsche. Auf Juden sind sie nicht gut zu sprechen, selbst wenn es Kinder sind.« Er deutete auf Oskar.
»Danke für eure Warnung. Wir werden wachsam sein«, sagte Jacob. Die Silhouetten der beiden verloren sich zwischen den Bäumen.
»Meinst du, dass sie recht haben?«, fragte der Kleine.
»Ich denke nicht, dass sie einfach so auf der Flucht sind. Wir müssen auf der Hut sein. Aber solange wir beide zusammen sind, kann uns nichts passieren.« Er kniff dem Jungen in die Wange, dass sich unter seinen Fingern wieder die Grübchen abzeichneten. Was hätte er auch sonst sagen sollen?
»Können wir auf unsere Lichtung gehen?«
»So wirst du nie zum guten Jäger«, scherzte Jacob und zerwuschelte ihm die Haare. »Kaum hast du dein Kaninchen, gibst du auf.«
»Das andere haben wir doch den beiden geschenkt. Sonst hätten wir ja schon längst zwei Hasen.«
»Du hast recht. Denk aber daran, dass du immer etwas verschenken kannst, wenn du selbst noch mehr hast als der andere. Irgendwann kommt alles wieder zurück. Dann bist du vielleicht derjenige, der auf das gute Herz eines anderen angewiesen ist.«
Nachdenklich blickte Oskar ins Leere.
Sie schlenderten durch das Dickicht, bis sich eine Lichtung vor ihnen auftat. Sonnenstrahlen fielen auf das Moos. Das junge, frische Gras war schon trocken, und Jacob und Oskar setzten sich und lehnten sich mit dem Rücken gegen einen Stein. Oskar zog seine Schuhe aus. Jacob tat es ihm gleich. Wie schön es war, mit den nackten Zehen über die Grashalme zu streichen. Veilchen blühten und übersäten die Lichtung mit ihrer violetten Pracht. Unberührt und duftend.
»Ich pflücke einen Strauß und nehme ihn für Papa mit«, flüsterte Oskar.
»Eine gute Idee. Du könntest noch einen zweiten Strauß für deine Großeltern mitbringen. Die Veilchen würden sich gut auf dem Küchentisch machen.«
Oskar lächelte.
An einem der Laubbäume befanden sich die Markierungen, die Oskar mit seinem Messer hineingeritzt hatte. Die Initialien aller Familienmitglieder. Auch Hannahs Anfangsbuchstabe war dabei, Oskar hatte ihn mit einem Herz direkt nebem dem J eingeritzt. An diesem Stamm hatten sie mit Nägeln kleine Holzstücke befestigt. Eine unsichtbare Treppe, die hoch nach oben in die Baumkrone führte. Dort waren sie dem Himmel ganz nah.
»Glaubst du, dass der Krieg bald vorbei ist?«, fragte Oskar. Wie jung seine Stimme klang. Manchmal kam er Jacob schon älter vor. Wahrscheinlich weil man in dieser Zeit schneller erwachsen werden musste.
»Ich hoffe es.« Er wünschte sich, dass er dem Jungen eine Antwort geben könnte.
»Ich hasse sie!«, spie Oskar unvermittelt aus. »Sie alle. Auch die Polen.«
»Warum die Polen?«, wollte Jacob wissen.
»Das kann ich dir schon sagen«, Oskar plusterte sich auf wie ein Huhn und drehte sich zu ihm herüber. »Sie haben uns alles genommen. Alles. Du kanntest Papa ja nicht. Nur am Ende, aber das zählt nicht. Er war der Chef von einer Pelzfabrik. Wir haben in einem Haus gewohnt, mit einem richtigen Garten. Ich hatte viele Freunde, das dachte ich zumindest. Als die Deutschen gekommen sind, haben unsere Nachbarn die polnische Flagge ins Haus geholt und gegen die deutsche ausgetauscht. Unsere ganze Straße war voll damit. Sie haben uns nicht einmal mehr gegrüßt. Papa durfte nicht mehr in die Pelzfabrik. Einmal sind wir zusammen noch hingelaufen, obwohl es für Juden verboten war, auf die Straße zu gehen. Die Deutschen haben alle Felle einfach genommen. Dann hieß es im Sommer plötzlich, dass wir aus unserem Haus ausziehen müssen. Wir hatten das Glück, dass wir in den Keller ziehen durften. In unseren eigenen Keller! Das musst du dir mal vorstellen. Unser Hausmädchen ist mit ihrer Familie oben eingezogen und hat all unsere Möbel bekommen. Ein paar Sachen konnten wir retten, wir mussten aber bald die Sachen verkaufen, damit wir etwas zu essen hatten. Ich bin oft raus und habe Lebensmittel organisiert. Als Mann war es zu gefährlich, auf die Straße zu gehen. Kinder sind weniger aufgefallen. Da habe ich erfahren, dass ein alter Freund meines Papas im Sterben lag. Er wollte ihn ein letztes Mal sehen. Das war der Tag, an dem wir von den Deutschen erwischt worden sind. Sie haben Papa mit Gewehrkolben geschlagen und ihn einfach auf der Straße liegen lassen.«
Oskar hatte sich in Fahrt geredet. Jacob unterbrach ihn mit keiner Silbe, da er die Geschichte noch nie von ihm gehört hatte.
»Er hat sich in den Keller geschleppt. Eine nette Nachbarin hat uns dann geholfen. Am nächsten Tag kam sie wieder und hat uns gesagt, dass alle Männer abgeholt werden. Papa hat beschlossen, mich hierher zu bringen. Wir sind Tag und Nacht nur gelaufen. Immer gelaufen.« Oskars Stimme brach und Tränen rollten über seine Wangen. »Ich vermisse ihn so sehr.« Die zarten Schultern zuckten, als ein Beben durch seinen Körper ging. Um sie herum sangen die Vögel. Jacob saß still neben ihm.
»Ich muss pinkeln«, schniefte der Junge, wischte sich die Tränen vom Gesicht und zog die Nase hoch. Er stand auf und war mit einem Mal verschwunden.
Was der Kleine schon alles durchgemacht hatte. Zu viel für ein Kind in seinem Alter.
Ein Knacken riss Jacob aus seinen Gedanken.
»Sie kommen«, rief Oskar und Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Deutsche. Ich habe sie gesehen. Sie kommen in unsere Richtung!«
Jacob reagierte instinktiv. Er sprang auf und zog sich die Schuhe an.
»Auf den Baum«, befahl er Oskar, »und keinen Mucks!«
Oskar rannte auf den Baum zu und kletterte an den kleinen Holzstufen nach oben, wie er es schon oft getan hatte. Jacob warf ihm den Beutel zu, den der Junge mit ruhigen Händen auffing. Jetzt zählte jede Sekunde, sie durften keinen Fehler machen. Schon waren Stimmen vernehmbar. Jacob rannte zu der Stelle, an der sie vor wenigen Augenblicken noch gesessen hatten, und versuchte die Abdrücke mit dem Fuß zu glätten. Die Grashalme richteten sich unendlich langsam wieder auf. Dann setzte auch Jacob den Fuß auf das eingenagelte Holzstück und zog sich am Stamm nach oben. Er konnte Oskar schon auf einem breiten Ast erkennen, um ihn herum das schützende Laub, das ihn in einer Art Umarmung verbarg. Flink folgte ihm Jacob und zog sich auf einen anderen Ast. Keinen Augenblick zu früh. Als er nach unten spähte, erkannte er Stahlhelme.
»Schau mal da«, sagte eine fremde Stimme. »Da war jemand.«
Sie hatten den Platz entdeckt, an dem sie gesessen hatten, kein Zweifel. Jacob hielt die Luft an. Sein Herz hämmerte so hart gegen seine Brust, dass er das Gefühl hatte, die Soldaten müssten es hören.
»Wahrscheinlich ein Liebespaar«, sagte ein zweiter Mann.
Wind raschelte durch die Blätter, und Jacob blieb nur die Hoffnung, dass das Laub dicht genug war, um ihn und den Jungen zu verbergen. Durch eine Lücke konnte er nach unten sehen. Waren es vier Soldaten? Fünf? Einer der Männer ließ seinen Blick schweifen und Jacob bildete sich ein, dass er direkt zu ihnen heraufsah. Schweiß rollte von seiner Stirn. Seine Muskeln verkrampften sich und hielten ihn mit aller Kraft am Ast fest, obwohl Jacob das Gefühl über seinen Körper verloren hatte. Er wagte nicht einmal den Kopf zu drehen und Oskar Mut zu machen. Wenn sie den Jungen erwischten!
Mit angelegtem Gewehr marschierte einer der Soldaten über die Lichtung. Ein Schuss knallte. Vögel flatterten aufgebracht davon. Wieder ein Schuss. Etwas plumpste zu Boden. War es Oskar? Jacobs Magen krampfte sich zusammen. Eine Kugel peitschte durch die Zweige und Blätterfetzen wirbelten durch die Luft. Jacob hatte den Wind gespürt. Sie zielten auf ihren Baum.
»Wie viel Munition willst du noch verschießen?«, herrschte einer der Männer seinen Kameraden an. »Los, weiter jetzt.«
Die Schritte entfernten sich. Der Wald blieb schweigend zurück. Jacob hatte endlich die Kraft, nach oben zu sehen. Wie ein Äffchen klammerte sich Oskar an seinen Ast, das Gesicht kreidebleich. Ohne ein Wort zu sprechen oder sich zu bewegen harrten die beiden noch eine Stunde auf dem Baum aus.
Als die Vögel wieder das Zwitschern anfingen, ließ sich Jacob am Stamm nach unten gleiten. Ein Pfiff an Oskar gerichtet teilte ihm mit, dass er nachkommen konnte. Er sprang vom untersten Ast und landete weich auf dem Waldboden. Oskar rannte auf Jacob zu und flog in seine Arme.
»Alles gut«, wisperte Jacob in sein Haar, »alles ist gut«.
»Ich will nach Hause«, wimmerte Oskar und nahm Jacob an der Hand. »Ich will weg!« Statt einer Antwort konnte er nur die Hand des Jungen drücken.
Sie verließen die Lichtung, doch Jacob drehte im Gehen noch einmal den Kopf. Die Veilchen waren niedergetrampelt, abgebrochen und zerdrückt. Zwischen ihnen ein toter Vogel.
Jacob wollte nur noch weg von hier. Soldaten an ihrem geheimen Ort mitten im Wald! Für ihn hatte der Wald etwas Magisches, etwas Schützendes. Die Soldaten waren eingefallen wie ein Hornissenschwarm, hatten ihre Lichtung entdeckt. Jacob hatte ihren Atem gehört, ihre Stimmen. Zu nah waren sie gewesen.
Die Sonne sank bereits. Sie waren Stunden weg gewesen. Simon, sein älterer Bruder, und seine Eltern würden krank sein vor Sorge. Was wollte er ihnen sagen? Die Wahrheit? Sollte er ihnen sagen, dass sie hier gewesen waren? Dass sie nur wenige Kilometer vom Bauernhof entfernt auf Soldaten getroffen waren, die geschossen hatten? Was war aus dem Strauß Blumen geworden, den Oskar auf das Grab legen wollte?
Während sie rannten und rannten, sah Jacob die toten, zertrampelten Veilchen vor seinem inneren Auge. Erst als sie aus dem Wald kamen und über die Obstwiesen gingen, beruhigte sich sein Atem. In den Zweigen über ihnen flatterte ein Vogel. Das vertraute Bellen des Hofhundes erklang, Blätter bewegten sich in der milden Brise. Hand in Hand gingen Jacob und Oskar über die Wiese. Der Junge lächelte ihn an. Ein Lächeln, das sie noch tiefer verband als zuvor.
Die Fenster des Bauernhauses glänzten golden im letzten Sonnenlicht. Jacob lächelte zurück. Sie waren daheim.