Читать книгу Von Sehnsucht und Träumen - Raphaela Höfner - Страница 17
Оглавление21. Juni 1941
Berlin
Hannah hatte es geschafft. Zusammen mit vier anderen Studenten war sie ausgewählt worden, einer lehrreichen Operation beizuwohnen. Aufgrund ihrer guten Noten und ihrer herausragenden Leistungen in den vergangenen Wochen hatte sie nun das große Los gezogen, vom Besten der Besten zu lernen und ihm auf die Finger zu schauen. Die Entscheidung des Professors hatte großen Neid bei den anderen Studenten hervorgerufen. Jeder wollte dabei sein, wenn es darum ging, an seiner Seite zu stehen, wenn er eine Operation durchführte.
»Warum nimmt er bitteschön immer diese Hannah Sedlmayr? Das ist so ungerecht.«
»Das darf doch nicht wahr sein! Seit wann soll eine Frau talentierter sein als ich?«
»Wahrscheinlich wird sie ohnehin sofort ohnmächtig!«
»Sie schläft bestimmt mit dem Professor! Sonst kann ich nicht glauben, dass sie immer wieder den anderen vorgezogen wird!« Hannah war die Kritik und die Gemeinheiten vieler Kommilitonen bereits gewohnt, dennoch schmerzten die Bemerkungen nach wie vor. Warum konnten sie nicht einfach anerkennen, dass sie ebenso fleißig und talentiert war? Allein Alfred Lange sprach ihr immer wieder Mut zu. Auch er hatte es heute unter die besten Fünf geschafft und zwinkerte Hannah aufmunternd zu. Sein aschfahles Gesicht wirkte im weißen Kittel noch blasser. Schritte hallten über den Boden und alle drehten sich um, als der Professor den Saal betrat.
»Schönen guten Tag, meine Damen und Herren! Ich begrüße Sie alle ganz herzlich und freue mich sehr, dass Sie heute hier an meiner Seite sind. Vielleicht ist einer unter Ihnen bereits der nächste große Überflieger in der deutschen Medizin.« Durch seine Brillengläser wirkten seine Augen groß wie Golfbälle. Drei der Studenten plusterten sich auf wie Gockel, woraufhin sich Hannah und Alfred einen belustigten Blick zuwarfen.
»So, dann wollen wir mal loslegen. Wie Sie sehen, ist der Patient schon eingeschlafen.« Lachen ertönte.
Der leitende Chirurg der Charité rückte seine Brille zurecht und setzte das Skalpell an.
Ferdinand Sauerbruch galt als der bedeutendste und einflussreichste Mediziner seiner Zeit, und Hannahs Vater war selbst in den Genuss gekommen, von Sauerbruch persönlich in München zu lernen. Georg Sedlmayr war genau zwanzig Jahre jünger als er und hatte von den vielen innovativen Techniken und neuen Erfindungen geschwärmt, die seine Arbeit bis heute prägten. Für Hannah war es eine Ehre, solch einer Größe auf die Finger schauen zu dürfen. Zu seinen Patienten gehörten die höchsten Funktionäre der SS, unter anderem behandelte er Himmler und dessen Familie. Er hatte schon die wichtigsten Leute auf dem Tisch gehabt und operiert. Angeblich hatte Sauerbruch Adolf Hitler nach dem missglückten Putschversuch in München im Hause der Familie Hanfstaengl an der Schulter behandelt. Ob das der Wahrheit entsprach oder nur ein Gerücht war, das wusste keiner so genau.
Berühmt war der Chirurg bereits 1905 geworden, nachdem er ein Verfahren begründet hatte, das die operative Öffnung des Brustkorbs erlaubte. Zu dieser Zeit waren solche Eingriffe höchst gefährlich, da die Öffnung des Brustkorbes dazu führte, dass sich Luft im Brustfell ansammelte und dadurch die Lunge zusammenfiel, was zum Tod des Patienten führte. Sauerbruch entwickelte eine spezielle Kammer, in der ein Unterdruck erzeugt wurde, der das Kollabieren der Lunge verhinderte. Um Lungen etwa von Tuberkulose-Erkrankten möglichst schonend und ohne große Bewegungen operieren zu können, war er auf die Idee gekommen, das Zwerchfell zu lähmen. Ein genialer Einfall! Sauerbruch wagte sich bei solchen Eingriffen sogar an die Entfernung von Rippen, um so leichter an die Lunge zu gelangen. Dafür hatte er während seiner Zeit in München ein spezielles Instrument erfunden, von dem Georg Sedlmayr ihr auch schon erzählt hatte.
Sauerbruch war Hannah vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen. Er neigte zwar zu Wutausbrüchen, reagierte cholerisch, wenn jemand nicht schnell genug agierte oder Fehler machte, aber er gab sowohl Männern als auch Frauen diesselben Chancen. Er beäugte sie nicht zweifelnd, ob sie als Frau den schweren Aufgaben hier gewachsen war. Er hinterfragte sie nicht. Er forderte sie, genau wie alle anderen. Alles, was für ihn zählte, waren Leidenschaft, Technik und höchste Qualität. Sie hatte gehört, dass einer seiner besten Freunde ein jüdischer Arzt gewesen war, für dessen Verbleib an der Charité er sich persönlich eingesetzt hatte, was ihr natürlich imponierte. Leider hatten auch Menschen wie Sauerbruch nicht immer Erfolg, schon lange hatten jüdische Ärzte Berufsverbot, und die Charité war judenfrei. Sauerbruch war es scheinbar gelungen, seinem Freund rechtzeitig eine Stelle im Ausland zu besorgen.
Ab dem Ersten Weltkrieg beschäftigte sich Sauerbruch intensiv mit der Geschichte und den Grundlagen von Extremitätenprothesen und entwickelte eine weltberühmte Unterarmprothese. Der sogenannte Sauerbruch-Arm ermöglichte vielen Kriegsgeschädigten eine neue Lebensqualität. Erst gestern war ein Patient, dessen beide Unterarme amputiert worden waren, in die Vorlesung gekommen. Er trug an beiden Armstümpfen die Sauerbruch’sche Prothese, mit der er sogar wieder zu seiner Leidenschaft, dem Malen, fähig war. Als Dank für Sauerbruchs Leistung, die ihm ein neues Leben geschenkt hatte, hatte der junge Künstler dem Arzt ein Portrait von ihm überreicht, das nun im Hörsaal hing.
Hannah hatte sich alle Informationen über die Prothese notiert und die Zeichnungen akribisch genau übernommen. Bei Nachfragen hatte sie mit den richtigen Antworten punkten können, und so hatte sie sich einen der fünf Plätze heute erkämpft.
Der Patient war ein weiterer Soldat, der durch eine Granate seinen Arm verloren hatte. Gestern hatte Hannah noch persönlich mit ihm gesprochen. Über Umwege war er endlich nach Berlin und auf die Liste der Patienten von Sauerbruch gekommen. Der Arzt hatte ihm versprochen, dass er mit seinem neuen Arm wieder in seinen alten Beruf einsteigen könne. Der Soldat wollte die Bäckerei seiner Eltern übernehmen, wenn der Krieg vorbei war.
Das Gesicht des jungen Mannes sah friedlich aus, fast als würde er gerade von schöneren Zeiten träumen. 18 Jahre war er alt. 18 Jahre und vom Krieg gezeichnet.
»Nun machen Sie schon, aber zack zack!«, fuhr Sauerbruch die OP-Schwester an. Mit geübter Hand reichte sie ihm das gewünschte Besteck. An den rauen Ton musste man sich definitiv gewöhnen. An seiner Seite stand ein junger Arzt, dessen Namen Hannah nicht kannte.
»Was überlegen Sie denn so lange? Soll ich Sie gegen einen Studenten austauschen lassen?« Sauerbruch blickte zornig auf. Trotz des Mundschutzes erkannte man, dass sich sein Gesicht rot verfärbt hatte. »Sie scheinen mit dem Kopf wieder woanders zu sein! Ich hatte schon einmal gesagt, dass ich im OP vollste Konzentration verlange.« Er scheute sich nicht, den Kollegen in Anwesenheit aller zu rügen. Sein Gegenüber antwortete nicht einmal, sondern fummelte nervös an seinem Skalpell herum.
Der Muskel des Patienten war nun offengelegt. Jetzt würde, wie gestern beschrieben, der Kanal durch die Oberarmmuskulatur gelegt werden. Die Prothese hatte einen Bolzen aus Elfenbein, der durch genau diesen Kanal geführt werden musste. Auf diese Weise wollte der Arzt die noch vorhandenden Bewegungsreflexe für die Handhabung des Unterarms nutzen. Dieser Mechanismus, der Muskelbewegungen auf Daumen und Zeigefinger übertrug, ließ die Ersatzhand zum Leben erwecken, wodurch die Patienten wieder mobil gemacht wurden. Die Prothese lag vorbereitet auf einem OP-Tisch. Jedes Fingerglied war einzeln beweglich, ebenso das Handgelenk. Eine Meisterleistung, die es dem Mann bestimmt wieder ermöglichen würde, in die Backstube zurückzukehren.
»So! Mir reicht es jetzt! Gönnen Sie sich eine Pause und sortieren Sie bitte Ihre Gedanken! Ich komme hier alleine zurecht«, fuhr Sauerbruch seinen Assistenten erneut an. Dessen Augen funkelten bedrohlich, dennoch legte er sein Operationsbesteck ohne Widerspruch nieder und verschwand. Sauerbruchs Blick fiel auf Hannah. »Dann wollen wir mal einer neuen Ärztin eine Möglichkeit geben, die Prothese einzuführen. Fräulein Sedlmayr? Wären Sie so freundlich, mir zu assistieren? Sie haben fundiertes Fachwissen gezeigt und mich in der Vorlesung absolut überzeugt.« Seine Stimme war wieder freundlich, beinahe einladend. »Kommen Sie nur, ich beiße nicht. Ich traue Ihnen diese Arbeit zu, das sollten Sie selbst auch tun.« Seine Augen beobachteten sie unter den Brillengläsern hindurch und Hannah spürte die neidvollen Blicke der anderen, als sie sich neben Sauerbruch stellte.
»Fräulein Sedlmayr, gestern haben Sie mich in der Theorie überzeugen können. Jetzt sehen wir mal, ob Sie auch hier das Zeug zu einer richtig guten Ärztin haben.« In seinen Augen lag Wärme und eine Zuversicht, die den Mut in ihr wachsen ließ. »Hier sehen Sie die Tunnelierung des Bizeps durch den Dilatator. Oben den zurückgeschlagenen Stiellappen«, erklärte er weiter und fuhr in der Luft über die Stelle. »Ziehen Sie nun einen Mullstreifen durch den Muskeltunnel.« Er reichte ihr das Operationsbesteck und die Mullbinde. Mit ruhigen Fingern zog Hannah die Mullbinde wie er ihr gesagt hatte durch den Tunnel.
»Genau so, Fräulein Sedlmayr. Hervorragend.«
Stolz blickte sie auf ihr Werk.
»Passen Sie auf, ich ziehe den Hautkanal durch den Tunnel, an diesem freien Ende wird er in die Haut eingenäht. Schwester!«
Hannah bemerkte, dass er und die OP-Schwester perfekt eingespielt waren, da sie ihm wortlos seine Werkzeuge reichte.
»So, die ersten Stiche mache ich, dann übernehmen Sie bitteschön.« Er ließ die Nadel geschickt durch die Haut gleiten, dann trat Sauerbruch zur Seite und übergab an Hannah. »Etwas enger die Stiche ansetzen. Jawoll, gut so. Und schon haben wir eine nahezu perfekte Naht.« Mit jedem Stich wurde sie sicherer und sicherer.
»Nun nähen wir die Haut noch an der anderen Seite fest. Wir präparieren den Muskel ab, schlagen ihn über den Hautkanal zurück und befestigen ihn an der Faszie. Schwester!« Sie reichte ihm wortlos die Armprothese.
»Nun dürfen Sie sie anlegen, Fräulein Sedlmayr.«
Während der ganzen restlichen Operation durfte Hannah Sauerbruch assistieren. Als der Patient aus dem Operationssaal geschoben wurde, winkte er Hannah noch zu sich heran.
»Sie haben ganze Arbeit geleistet. Vor vielen Jahren bin ich mit Ihrem Vater im OP gestanden. Ein fähiger Arzt, das kann ich Ihnen sagen. Ich erinnere mich natürlich noch gut an ihn. Ich nehme an, dass er noch seine eigene Praxis hat, nicht wahr?«
»Ja, in Rosenheim«, gab sie zurück und wusch sich dabei die Hände.
»Ein herrlicher Ort dort unten im Süden. Richten Sie ihm bitte aus, dass er mir doch auch einen Besuch abstatten soll, wenn er den weiten Weg auf sich nimmt, um Sie zu sehen. Ich würde mich freuen, einen alten Kollegen wieder einmal zu treffen.«
»Natürlich, ich richte es ihm aus.«
»Sie haben ein gutes Auge und ein feines Händchen, Fräulein Sedlmayr. Aus Ihnen wird mit Sicherheit eine gute Ärztin werden! Vielleicht sogar eine erfolgreiche Chirurgin.« Sein Schnauzbart vibrierte ein wenig und wieder sah er sie durch seine dicken Brillengläser fest an. »Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Nachmittag.«
Eine Schwester trat herein und brachte ihm einen neuen Operationskittel, half ihm beim Anziehen und Desinfizieren. »Ich muss wieder an den nächsten Mann.« Trotz des Mundschutzes konnte Hannah ihn lächeln sehen.
»Du bist wohl zu Sauerbruchs Lieblingen aufgestiegen«, sagte Alfred Lange und schmunzelte. Diese zuckte nur mit den Schultern.
»Ich jedenfalls habe gesehen, dass die anderen wirklich nur neidisch sind und dich schlechtreden wollen. Du hast auf mich eben den Eindruck gemacht, als wüsstest du ganz genau, was du da tust. Ich fand das eben ganz große Klasse!«
»Danke dir, Alfred. Das bedeutet mir wirklich viel!«
»Hast du heute noch etwas vor? Wir könnten noch zusammen lernen, die Zeichnungen durchsehen und die Operation heute nachbesprechen.«
»Ich würde sehr gerne, aber ich bin um 16 Uhr im Tanzcafé zur Arbeit eingeteilt.« Entschuldigend hob sie die Arme.
»Schon wieder? Du solltest wirklich etwas kürzertreten, Hannah. Nicht, dass dir das alles noch zu viel wird. Ich jedenfalls falle nach jedem Tag todmüde ins Bett.«
»Es geht schon«, gab sie schnell zurück. Wie hätte Alfred auch wissen können, dass sie die Arbeit brauchte, um nicht ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Je beschäftigter sie war, desto mehr konnte sie im Hier und Jetzt leben.
»Vielleicht sollte ich mir dieses Moka Efti auch einmal aus der Nähe ansehen«, lachte Alfred. »Soll ja ganz schön dort sein. Wir sehen uns dann morgen.« Alfred hob die Hand zum Gruß und verschwand. Die anderen Kommilitonen hatten sich bereits in Luft aufgelöst, damit sie nichts zu ihr bezüglich der gelungenen Operation sagen mussten. Hannah stieß fest die Luft aus. Ein langer Abend wartete auf sie. Marlene Liebreiz war schon viele Male im Moka Efti aufgetreten, einem beliebten Berliner Tanzcafé, und hatte Hannah die Arbeit als Kellnerin organisiert. Hannah wusste, dass der Besitzer des Moka aus Griechenland stammte, aber einen italienischen Pass hatte. In der Friedrichstraße unterhielt er sein erstes Café und Tanzhaus, in dem auch weitere Geschäfte untergebracht waren, unter anderem ein Friseursalon, ein Billardsalon und ein Schachsaal. Hier konnten die Kunden sogar eine moderne Rolltreppe in den ersten Stock nutzen. Nach dem großen Erfolg eröffnete der Betreiber bereits 1933 ein zweites Lokal, das binnen kurzer Zeit zum angesagtesten Café Berlins wurde. 25.000 Tassen gingen tagtäglich über den Tresen, und nachts schnurrten hier die Paare über den Tanzboden. Eine feste Musikband spielte täglich, da es anderen Künstlern und Musikern oft schwerfiel, öffentliche Auftritte zu bekommen. Einer der Sänger hatte Hannah erklärt, dass man seit einigen Jahren Mitglied in der Reichsmusikkammer sein musste, damit man überhaupt zu einem Auftritt zugelassen wurde. Diese Mitgliedschaft erhielt man erst nach eingehender Prüfung, wenn die Musiker für die Ausübung ihrer Tätigkeit geeignet erschienen und sich verbindlich an die Regeln hielten.
Vor dem Eingangsbereich hing ein Schild mit der Aufschrift Swing tanzen verboten. Diese »abartige Negermusik«, wie sie von den Nationalsozialisten bezeichnet wurde, war streng untersagt, dennoch wurde sie hin und wieder einmal gespielt, da Swing viele junge Leute aus der Reserve und auf die Tanzfläche lockte.
»Ciao, Hannah«, wurde sie freundlich vom Besitzer des Efti begrüßt.
»Ciao«, gab sie zur Antwort. »Schon ganz schön voll hier.«
»Zum Glück«, lachte er und verschwand hinter dem Tresen.
Hannah suchte zunächst den Weg in die Garderobe, die für die Mitarbeiter eingerichtet war. Dort kämmte sie sich das Haar, band es zu einem Zopf zusammen und zog eines ihrer Kleider an, die sie dort aufbewahrte. Darüber kam die Schürze, auf der Moka Efti aufgedruckt war. Sogleich wurde sie eingespannt und bekam schon die ersten vollen Tassen in die Hand gedrückt.
»Heiße Schokolade da drüben!« Ihr Kollege nickte in Richtung einer Sitzecke und Hannah trat an die jungen Leute heran, die wahrscheinlich Studenten waren wie sie. Lachen drang an ihre Ohren, ausgelassene, glückliche Stimmung.
Sie hatte herausgefunden, dass Arbeit das Beste war, um sich abzulenken – von ihren oft schweren und trüben Gedanken, der Sehnsucht an ihre Heimat, ihrer zerbrochenen Liebe zu Jacob. Während die jungen Leute hier ausgelassen feierten, tanzten, lachten und fröhlich waren, versuchte sie, all dies von sich fernzuhalten. Wenn sie nicht kellnerte, saß sie am liebsten über ihren Büchern und lernte. So war ihr Kopf vollgefüllt, sodass sie keine Zeit für anderes hatte. Wenn sie über einem ihrer Bücher einschlief, musste sie nicht lange an die Decke starren, während sie allein und einsam im Bett lag und die Gedanken wie Wildpferde durch ihren Geist galoppierten.
»Du siehst heute traurig aus.« Die Stimme riss sie aus ihrer Versunkenheit und sie wusste sofort, wem diese gehörte.
»Sie? Was machen Sie denn hier?«, fauchte Hannah ihn an. Der Hut lag vor ihm auf dem Tisch, eine leere Tasse daneben.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Erich Winters giftgrüne Augen tauchten in ihre. »Ich hätte noch gern eine Tasse Kaffee. Schwarz bitte, ohne Milch und Zucker.«
Hastig drehte sie sich auf dem Absatz um und rauschte davon. Was erlaubte er sich? Wieder war er ihr gefolgt und hatte sich absichtlich hierher verirrt. Es gab genug andere Möglichkeiten, in Berlin seinen Kaffee zu trinken, dafür musste er nicht ausgerechnet ins Moka Efti am Tiergarten kommen. Nicht in ihrer Schicht!
»Alles in Ordnung, Hannah? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Habe ich auch. Da drüben sitzt er.« Sie nickte in Winters Richtung und ihr Kollege schaute zu ihm hinüber. Winter machte nicht einmal Anstalten, wegzublicken, sondern verzog den Mund zu einem halbseidenen Lächeln.
»So einen haben wir hier gerade noch gebraucht«, stöhnte er und reichte Hannah die gewünschte Kaffeetasse. »Er muss wahrscheinlich prüfen, ob wir uns wirklich an alle Regeln halten. Sag mir, wenn du Hilfe mit ihm brauchst.«
Hannah trat an Winters Tisch heran und knallte die Tasse förmlich vor seine Nase. In dem Moment hallte ausgerechnet Marlenes Stimme durch die Lautsprecher, und an den Nachbartischen fingen die Leute an, den Liedtext laut mitzugrölen.
Winter zog amüsiert die Augenbrauen nach oben. »Interessant, findest du nicht? Bei unserem letzten Treffen haben wir erst über das Fräulein Liebreiz gesprochen. Nun hören wir sie sogar und können uns an ihren Texten erfreuen.« Er reckte das Kinn nach oben und gab vor, der Musik zu lauschen.
»Brauchen Sie noch was?«, meinte Hannah spitz, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.
»Gesellschaft wäre schön.«
»Ich bin hier im Dienst.«
»Wie lange? Vielleicht kann ich dich später nach Hause begleiten. Eine junge Frau sollte nicht allein gehen.«
»Ich bin bis spät in die Nacht hier. Außerdem komme ich gut zurecht. Anständige Fräulein gehen selbstverständlich im Hellen nach Hause. Wenn ich hier rauskomme, geht bereits die Sonne auf.«
Sie wollte sich umdrehen, als er wieder das Wort an sie richtete. »Da fällt mir doch noch was ein. Ich hätte gerne eine Limonade.« Er berührte die Fingerspitzen, sodass sie ein Dach bildeten.
»Limonade?«
»Ja, das ist ein Erfrischungsgetränk.«
»Ich weiß, was eine Limonade ist.«
Er schmunzelte. Zorn stieg in ihr auf. Er wollte sie hinhalten, damit sie wieder und wieder an seinen Tisch kam. Hannah drehte ab und suchte schnell das Weite.
»Eine Limonade bitte«, sagte sie zu ihrem Kollegen, der ihr ein Glas einschenkte und über den Tresen reichte.
Als Hannah zu Winter lief, bemerkte sie, wie er die anderen Leute rundherum musterte. Die Nase war gerümpft, als hätte er Mist darunter. Der Blick glitt abschätzig über die ersten Paare hinweg, die zu Marlenes Lied über die Tanzfläche wirbelten.
»Eine fröhliche Stimmung gehört wohl nicht zu Ihren Stärken?«
Er wandte den Blick von den Tanzenden ab und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich denke, das haben wir beide gemeinsam. Lächeln gehört ja auch nicht zu deinen Stärken. Für eine junge Frau bist du viel zu ernst.«
»Ich lache, wenn es einen Anlass gibt.«
Seine Augen tasteten sie neugierig ab. »Du denkst, dass ich dich angelogen habe, nicht wahr? Was diesen Juden betrifft.« Der Themenwechsel traf sie unvermittelt.
»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Sie mir die Wahrheit sagen. Ein Mann wie Sie kann mir nicht erzählen, dass er so etwas nicht weiß. Als Ortsgruppenleiter war es Ihre Aufgabe, die Juden aus Rosenheim zu vertreiben. Das haben Sie bei den Sternlichts ja gut hinbekommen.«
Er leckte sich über die Unterlippe. Ertappt. »Es war mir egal, wohin sie kommen.«
»Die Sternlichts waren doch Ihre ganz persönliche Angelegenheit, von Anfang an. Es hat Ihnen nicht gepasst, dass ausgerechnet mein Vater mit Hans Sternlicht befreundet war. Dass ich mit den Söhnen befreundet war.«
»Freundschaft nennst du das also?«
Eine eiserne Hand griff nach ihrem Herzen. Er wusste es! Er wusste von ihr und Jacob, daran gab es keinen Zweifel mehr. Das machte die Sache noch viel persönlicher.
»Ich werde die Wahrheit schon noch von Ihnen erfahren. Den Sternlichts muss ein Visum genehmigt worden sein. Oder ein anderes Papier, damit sie außer Landes reisen konnten. Sie haben diese Art von Papieren bei uns in der Stadt ausgestellt. Also verkaufen Sie mich nicht weiterhin für dämlich!«
»Wie ich sehe, hast du eine große Wut in dir aufgestaut. Das ist natürlich schade. Ich wünschte, ich könnte dir helfen.« Das verhasste Lächeln zeigte sich wieder in seinem Gesicht. Aus ihm war nichts herauszubekommen, jedenfalls nicht heute Abend. Seine Hände klammerten sich um das Limonadenglas. Sie waren äußerst gepflegt, beinahe zart.
»Genießen Sie jetzt Ihre Limonade und die Musik. Deswegen sind Sie ja schließlich hierhergekommen, nicht wahr?«
Wieder lachte er leise auf. Wie sehr sie ihn für seine Arroganz verabscheute.
»Die Großstadt ist nichts für dich, Hannah. Sie verändert dich. Berlin tut dir nicht gut.«
Der ohnehin schon dünne Geduldsfaden war nun endgültig gerissen. »Hören Sie endlich auf, sich in mein Leben einzumischen.«
Er wirkte betroffen. »Ich mache mir nur Sorgen.«
»Es ist nicht Ihre Aufgabe, sich um mich zu sorgen, hören Sie! Sie sind nicht mein Vater! Nicht mein Bruder oder sonst irgendeine wichtige Person in meinem Leben. Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!« Sie betonte jede Silbe einzeln und funkelte ihn zornig an.
»Barbarossa.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er stand auf und trat langsam auf sie zu. »Barbarossa«, wiederholte er und beugte sich etwas nach vorne, sodass nur sie ihn hören konnte. Seine Lippen streiften beinahe ihre Wange. Der Atem strich wie Fingerspitzen über ihre Haut.
»Was soll das bedeuten? Barba …« Weiter kam sie nicht, denn er hatte ihr den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Der Geruch seiner Haut strömte ihr in die Nase.
»Es hat schon längst angefangen, Hannah. Schon bald werden die Russen ihre Bomben auch hier in der Hauptstadt abwerfen, und ich würde tatsächlich besser schlafen, wenn ich dich fernab vom Geschehen wüsste. Berlin wird das Ziel sein. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
»Wovon zum Teufel sprechen Sie?«
»Die Wehrmacht wird Russland in wenigen Stunden angreifen.« Er zog eine goldene Taschenuhr hervor und blickte gedankenverloren auf die Zeiger, die langsam tickten. Sekunde für Sekunde. »Wenn wir erst einmal in Russland eingefallen sind und den Iwan beschießen, dann ist es auch hier ein für allemal vorbei mit der Hochstimmung. Schluss mit dem Tanzen, den Cafés und den Feiern.« Die Worte wollten ihr nicht einfallen und sie stand ihm sprachlos gegenüber. »Sag am Ende nicht, dass ich dich nicht gewarnt hatte. Du musst weg aus Berlin!« Dieses Mal betonte er jede Silbe einzeln und sein Atem kitzelte ihre Wangen.
»Ist alles in Ordnung, Hannah? Ich brauche dich am Tresen.« Ihr Kollege war hinter ihr aufgetaucht und sie wandte sich zu ihm.
»Ja, alles in Ordnung. Ich komme sofort.« Als sie sich wieder zu Winter umdrehen wollte, war dieser verschwunden. Die leere Tasse und das volle Glas mit der frischen Limonade hatte er zurückgelassen. Daneben das ausstehende Geld. Sein Geruch war geblieben, so als stünde er noch direkt vor ihr.
Schon bald würde sich der Krieg auch in der Hauptstadt seine Opfer suchen. Je lauter das Lachen um sie wurde, desto einsamer fühlte sie sich. Erich Winter hatte sie tatsächlich vor etwas gewarnt.