Читать книгу Von Sehnsucht und Träumen - Raphaela Höfner - Страница 16

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Juni 1941

West Point, Militärakademie, New York

Das goldene Licht des Sonnenuntergangs floss über die Welt, die weit unter ihm lag. Von hier oben hatte man den besten Ausblick über die Häuser, die Straßen, den Fluss, alles war auf einmal so klein, als könne man es wie Spielzeug in die Hosentasche packen.

Levi Sternlicht saß an der Kante der offenen Flugzeugtür, und der kalte Atem des Windes blies ihm mit voller Kraft ins Gesicht. Die Schutzbrille schirmte seine Augen ab, der Ganzkörpertarnanzug sollte ihn vor der Kälte schützen.

Es war das zweite Mal, dass er aus einem Flugzeug sprang. Wie beim ersten Mal saß Joe Parker hinter ihm, er war mittlerweile ein geübter Fallschirmspringer, der Levi überredet hatte, seine anfängliche Höhenangst zu überwinden. Dass er bei seiner Überfahrt im letzten Sommer auf Joe gestoßen war, war ein wahrer Glückstreffer gewesen. Während der langen Nächte auf dem Schiff hatte er ihm von West Point erzählt, hatte die Militärakademie bis ins kleinste Detail beschrieben. George Washington hatte damals den Standort dafür ausgewählt und Dwight D. Eisenhower war selbst Absolvent gewesen.

Bevor ihn die Wellen in den Schlaf wogen, stellte sich Levi alles haarklein vor. Joe hatte ihm zwar von der harten Aufnahmeprüfung berichtet, doch noch in der Nacht hatte Levi den Entschluss gefasst, dass er ein Teil von West Point werden wollte. Laut Joe konnte es nicht mehr lange dauern, bis die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten. Das war seine Chance. Seine Chance zu kämpfen, anstatt tatenlos zuzusehen, was in Europa geschah. Eine militärische Ausbildung schien ihm der beste Weg dafür zu sein. Wenn er nach Europa zurückkehrte, dann wollte er bestmöglich ausgebildet sein. Er würde allen beweisen, dass er als Jude mehr wert war, als angenommen wurde.

Die Wellen schlugen an dem Tag hoch, als ihr Schiff in den Hafen von New York steuerte. Levi erkannte die Freiheitsstatue aus der Ferne, und ihn überlief am ganzen Körper eine Gänsehaut. Als er Miss Liberty, wie Joe sie nannte, ins Gesicht blickte, tobte in seiner Brust ein Kaleidoskop an Gefühlen. Für Levi war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, niemals zuvor hatte er ein solches Bauwerk gesehen. Stärke, Widerstandsfähigkeit, grenzenlose Kraft, Freiheit! Er hatte genau das gefunden, wonach er gesucht hatte. Die goldene Fackel kratzte am blauen Himmel die Wolken beiseite. Von ihrer Krone standen majestätisch die sieben Zacken ab. Levi bog den Kopf in den Nacken, je näher sie ihr kamen.

»Stay strong, never give up. If you can dream it, you can do it«, drang Joes Stimme ihm ins Ohr. Er würde diesen Moment für immer im Gedächtnis behalten.

Danach war alles schnell gegangen. Bevor er an der Militärakademie aufgenommen wurde, hatte Joe ihm eine Gastfamilie gesucht. Levi hätte nie gedacht, dass es für ihn von großem Vorteil sein würde, fließend Deutsch sprechen zu können. Er war sich sicher: dies hatte seinen Teil dazu beigetragen, dass er bereits zum Herbst an der Akademie aufgenommen wurde. Seit diesem Tag lebte Levi nach dem Motto Pflicht, Ehre, Vaterland. Endlich war sein Name wieder etwas wert. Anfangs hatte er gedacht, er würde seinen neuen Namen Weyss verwenden müssen. Levi war der jüngste Sohn seiner Eltern. Ein kleiner Junge, als sie damals entschieden hatten, ihn aus Deutschland hinauszuschmuggeln, da sich die Lage für Juden in der Heimat immer mehr und mehr zuspitzte. Georg Sedlmayr hatte damals den rettenden Einfall gehabt und seinem Vater vorgeschlagen, ihn in die Schweiz zu bringen. Levi hatte bei der Familie Weyss Unterschlupf gefunden. Alfons Weyss war ein angesehener Arzt, den Dr. Sedlmayr aus dem Studium kannte. Levi hatte in der Schweiz wieder zur Schule gehen können. Ohne Hänseleien zu erfahren, ohne sich auf dem Schulweg zu fürchten. Er hatte Freunde und in den Kindern der Familie neue Geschwister gefunden. Jeden Tag hatte er aber an seine richtigen Eltern und seine großen Brüder gedacht. Aus den Nachrichten und der Zeitung hatte er von den Angriffen auf jüdische Geschäfte gehört. Vor drei Jahren hatte er ein Telefonat zwischen Alfons Weyss und Georg Sedlmayr belauscht. Die Erwachsenen meinten es nur gut, wollten ihn schützen und nicht damit belasten, dass ihre Apotheke in Rosenheim vollkommen verwüstet war. Der Vater und der älteste Bruder verhaftet worden waren. Nur mit Mühe und Not hatten Hannah und Georg Sedlmayr sie vor dem Konzentrationslager retten können. Wenn er persönlich nach seiner Familie fragte, betonte Alfons stets, wie gut es allen ginge. Schon damals war die Wut in ihm aufgekocht, dass er nie die Wahrheit aus seinem Mund gehört hatte. Er war der Familie Weyss dankbar, dass sie ihn ohne zu zögern aufgenommen hatten, dankbar, dass sie ihn nie hatten spüren lassen, dass er Jude war. Umso schlechter es den Juden in Deutschland ging, umso größer wurde der Wunsch in ihm, Europa zu verlassen. Alles hinter sich zu lassen. Der Traum nach Amerika zu gehen wuchs Tag für Tag. Alfons Weyss hatte ihn in seinem Vorhaben unterstützt und ihm letztendlich die Papiere besorgt. Levi Weyss. Levi White. Jetzt wo er hier war, wusste er, dass er seinen alten Namen wieder mit Stolz tragen konnte. Hier musste er sich nicht verstecken, jemand anderes sein. Sternlicht. Es war der Name, mit dem er geboren worden war, den seine Eltern und seine Brüder trugen. Der Name, der sie noch immer miteinander verband, obwohl sie auf anderen Kontinenten lebten. Der jüdische Klang machte ihn hier zu etwas Besonderem. Er war Levis Identität, seine Vergangenheit und seine Zukunft. Nun war er ein siebzehnjähriger junger Mann voller Energie und voller Leben. Nach nur wenigen Monaten der Ausbildung hatte er Muskeln aufgebaut. Wenn er sich im Spiegel betrachtete, sah er seine Brüder vor sich, die ebenfalls groß und muskulös gewesen waren. Beides talentierte Boxer.

»Ready, Red?«, brüllte Joe gegen den Wind. Levi zog sich seinen Zopf enger, der ihm unter anderen den Spitznamen »Wikinger« eingebracht hatte. Aufgrund der feuerroten Mähne nannte Joe ihn nur Red.

Das Flugzeug rüttelte durch die Wolken. Levi hob den Daumen nach oben und rutschte noch weiter nach vorne an die Kante, dann nickte er. Schon jetzt merkte er, wie sein Magen Saltos schlug, und er war noch nicht einmal im freien Fall. Er musste seine Nerven unbedingt in den Griff bekommen, wenn er es als Fallschirmspringer zu irgendetwas bringen wollte. »Man muss Spaß am Flug haben«, drangen Joes Worte wieder in sein Bewusstsein. Er spürte seinen Atem im Nacken, als dieser noch etwas enger rückte und sich dann von der Kante abstieß.

Der Himmel verschluckte sie schnell und brachte viele Meter zwischen sie und das davonratternde Flugzeug. Knapp 4.000 Meter trennten sie vom festen Untergrund. Levis Eingeweide krampften sich zusammen, während sein Körper dem Boden entgegenfiel. Joe tippte ihn ermahnend an. Körperspannung! In Levis Arme und Beine kehrte Leben und er erlangte die Kontrolle zurück. Beim ersten Flug war er hin- und hergeflattert wie eine Fahne im Wind, dieses Mal musste er es besser machen. Er musste fliegen wie ein Adler, mit Flügeln anstelle von Armen. Neben sich erkannte Levi einen anderen Rekruten durch die Luft sausen. Dieser formte mit Daumen und Zeigefinger ein O. Unter ihnen glitzerte die Sonne im Hudson River.

Joe drückte ihm die Reißleine in die Hand und sobald Levi sie zog, spannte sich der Fallschirm einen Wimpernschlag später wie eine riesige Qualle auf. Ihre Körper wurden katapultartig nach oben gerissen. Das waren die entscheidenden Sekunden. War der Fallschirm sicher? War auch wirklich nichts kaputt? Der Flug verlangsamte sich, und sie konnten aufatmen. Levi spähte nach oben und sah, wie sich der Fallschirm einem großen Segel gleich aufblähte. Auch neben ihnen hatten die Kameraden die Reißleine gezogen und schwebten dem Boden entgegen. Immer näher kamen sie, und langsam nahm die Landschaft mehr Formen an. Levi sah nun sogar die einzelnen Grashalme, die im Sommerwind wogten. Noch wenige Meter. Er bereitete sich auf die Landung vor. Die steifen Füße berührten den Boden und er und Joe trabten aus, bis sie sich auf die warme Erde fallen ließen. Der Fallschirm landete wenige Augenblicke später sanft neben ihnen.

»Well done, Red«, lachte Joe und schlug ihm auf die Schulter. Levi löste sein schulterlanges, feuerrotes Haar, und grinste von einem Ohr zum anderen. Adrenalin pulsierte durch seine Adern bis in jede Zelle seines Körpers.

»Was für ein Sprung«, lobte einer der Jungs, die kurz nach ihnen gelandet waren. Der 25-jährige Tom Ford aus Pennsylvania war ein hervorragender Pilot und verfügte bereits über Kampferfahrung. Er war in Europa mit einer britischen Fliegereinheit geflogen. Sein Gesicht war wettergegerbt und eine lange Narbe zog sich über die linke Gesichtshälfte von der Oberlippe bis unters Auge. Die Splitter seiner berstenden Frontscheibe hatten ihm damals die Haut zerschnitten. Gerüchten zufolge war er nur deshalb noch am Leben, weil er seine Maschine durch eine Notlandung sicher auf den Boden gebracht hatte. Die Besatzung hatte durch seine Flugfähigkeit überlebt. Levi beneidete ihn. Er bewunderte Tom und hoffte darauf, dass er einer seiner Lehrlinge werden durfte. Der junge Mann war ihm Jahre voraus. Er hatte dem Feind gegenübergestanden, während er noch mit seinem Lederranzen zur Schule rannte. Auch Joe Parker war für die Briten bereits auf deutschem Gebiet abgesprungen. Was dort zu seinen Aufgaben gehört hatte, hatte Levi bisher noch nicht in Erfahrung bringen können. Joe schwieg wie ein Grab, wenn es um seine Pflichten ging. Wenn sie das nächste Mal zum Einsatz kamen, wollte Levi dabei sein. Er wollte mit seinen Kameraden losziehen, gegen die Deutschen kämpfen, die ihn aus seinem eigenen Land vertrieben hatten. Wie alle hier wusste auch Tom, dass Levi ein deutscher Jude war. Er sah in ihm die Wut auf die Nazis, die ihn tagtäglich zu Höchstleistungen antrieb. Sie alle waren hungrig darauf, den Ozean zu überqueren und den Kampf gegen die Deutschen aufzunehmen.

»Hey Wikinger, du hast Post aus Deutschland bekommen«, sagte Tom unvermittelt. »Heute Morgen, kurz nachdem du los bist.« Er grinste breit.

Verdutzt blieb Levi der Mund offenstehen. »Von meiner Familie?«, wollte er wissen. Hoffnung keimte in ihm auf.

»Nein, ein anderer Name. Deiner stand nur als Empfänger darauf, zusammen mit vier weiteren Namen.« Levi runzelte verdutzt die Stirn. Wer konnte ihm schon schreiben? Wer wusste überhaupt, wo genau er war? Hatte Alfons Weyss von seinem Vorhaben erfahren? Er wusste genau, wie sein Gastvater zu Waffen und Gewalt stand, und hatte es vorgezogen, seinen wahren Wohnort noch nicht zu verraten.

»Eine typische Mädchenschrift«, lachte ein anderer der Kameraden und klopfte Levi so fest auf die Schulter, dass dieser fast in die Knie ging.

»Unser Wikinger lässt nichts anbrennen, Jungs. Drüben hat er eine Freundin, von der er uns gar nichts erzählt hat. Ich wette, das liegt an seiner unwiderstehlichen Mähne!« Auch Tom klopfte ihm auf die Schultern.

Ein Mädchen? Levi grübelte, um wen es sich dabei handeln könnte. Er zermarterte sich den Kopf, während sie die Fallschirme zusammenfalteten und in die Jeeps packten, die sie zurück nach West Point fuhren.

Als sie endlich ankamen, führte Levis erster Weg zur Poststelle. Der Mitarbeiter überreichte ihm den welken Umschlag, der aussah, als hätte er eine wirklich lange Reise hinter sich. Die Namen seiner Eltern und Brüder standen darauf. Ganz unten sein Name – Levi Sternlicht. New York stand in feinen Lettern darauf. Jeder Buchstabe sah aus wie gemalt. Der Brief war an seine ganze Familie adressiert. Hatten sie es aus Europa rausgeschafft? Waren sie etwa auch hier auf amerikanischem Boden? Mit einer anderen Handschrift war West Point als Ort ergänzt worden. Wahrscheinlich war der Name Levi Sternlicht aufgefallen und sie hatten entdeckt, dass er hier registriert war.

Neugier packte ihn, und Levi drehte den Brief mit nervösen Fingern um, damit er den Adressaten lesen konnte. Als ihm der Name ins Auge fiel, setzte sein Herz einen Schlag lang aus. Der Brief stammte von Hannah Sedlmayr.

Von Sehnsucht und Träumen

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