Читать книгу Von Sehnsucht und Träumen - Raphaela Höfner - Страница 7
ОглавлениеMärz 1941
Berlin
Es war ein Samstagmorgen, wie er ihn liebte. Durch das geöffnete Fenster schnitt der scharfe Ostwind herein, der immer wieder Graupel- und Hagelschauer mit sich brachte. Reste von Schnee lagen auf der Wiese im Park, wie Edelweiß auf dem Mieder eines kieferngrünen Dirndlkleides. Die Morgensonne sandte schräge Strahlen auf den Parkrasen vor dem Gebäude und übergoss die kahlen Sträucher mit Licht.
Aufgrund der Kälte war noch keine Spur von Frühling zu sehen. Keine Knospen an den Bäumen. Keine Blumen, die einen Wechsel der Jahreszeit verrieten. Kein fröhliches Gezwitscher der Vögel. Kein Summen der Bienen. Ewiger Winter.
Berlin wirkte auf den ersten Blick nicht wie die Hauptstadt eines Landes, das sich im Krieg befand. Die zerstörten Gebäude, vor allem in den Industrievierteln, die einem der Luftangriffe zum Opfer gefallen waren, fielen natürlich sofort ins Auge. Und es gab weitere Anzeichen, die ihm nicht verborgen bleiben konnten.
Vor wichtigen Gebäuden türmten sich Sandsäcke, Schutzräume waren in den Kellern der Wohnhäuser und Gärten der Vorstädte errichtet worden. Plakate über Luftschutz und den Endsieg tapezierten Wände und Säulen. Er bemerkte, dass Mütter, die mit ihren Kindern durch die Parks liefen, mit den Augen immer wieder ängstlich den Himmel abtasteten, als ob jederzeit ein feindlicher Flieger über den Horizont schießen und Bomben abwerfen könnte.
Natürlich entging ihm auch nicht die Zahl der Autos, die durch die Straßen der Hauptstadt ruckelten. Trotz der strengen Benzinrationierung kündigten Autofirmen neue Modelle an. Waren es die letzten Monate nicht deutlich weniger geworden als noch im vergangenen Herbst?
Wie Ameisen strömten die Arbeiter zu jeder Tages- und Nachtschicht in die Fabriken, deren Schornsteine in den immergrauen Himmel ragten. 24 Stunden, sieben Tage die Woche lockte sich der Rauch aus ihren Mündern. Der Ruß fiel wie dichter Nebel auf die Häuser. Arbeit gab es mittlerweile mehr als genug.
Er kannte auch die Zahlen der Truppen, die mit der Eisenbahn außer Landes geschickt wurden. Eine neue Streitmacht, bestehend aus hunderttausend Mann, war erst vorgestern in den Osten aufgebrochen. Niemand hatte die Absicht, den Nichtangriffs-Pakt mit Russland einzuhalten. Hitler persönlich hatte dem Oberkommando der Wehrmacht seinen Entschluss zu einem Angriffskrieg gegen Russland bereits im Jahr zuvor mitgeteilt. Unternehmen Barbarossa. Winter hatte den Decknamen erfahren, nachdem er das Vertrauen der Obrigen hier gewonnen hatte. Seit Dezember wurden militärische Vorbereitungen getroffen. Spätestens im Herbst würden sie Teile Russlands eingenommen haben, vermutlich nächstes Jahr das gesamte Land.
Auch die Zahl der Toten war ihm geläufig. Auf allen Seiten häuften sich die Leichen, doch er war davon überzeugt, dass ein Opfer gebracht werden musste. Noch nie hatte es in der Geschichte einen Sieg ohne Opfer gegeben.
In seiner Schreibtischschublade bewahrte er einen ganzen Stapel Bilder auf: Fotoaufnahmen von der Eroberung Polens, von lachenden Soldaten, Fotos aus Lazaretten, sterbende Männer. Leichen hatte er inzwischen zur Genüge gesehen.
Er selbst liebte die Großstadt. Ihm gefielen die eleganten, riesigen Gebäude. Der Reichstag mit seiner Kuppel. Die ausgedehnten Mahlzeiten, die ihm trotz der Lebensmittelknappheit zustanden. Die neueste Mode – Kostüme für die jungen Fräulein, gewagte Rocklängen, die das Damenbein in einer Feinstrumpfhose zur Geltung brachten, die breiten Gürtel, die die schlanken Wespentaillen betonten.
Tag und Nacht schlug Berlins Herz wie eine Maschine. Er amüsierte sich gerne in Kinos, Restaurants und Cafés, besuchte sogar hin und wieder Bars und Kneipen. Je mehr Leute sich aber um ihn versammelten, desto mehr sehnte er sich nach der Ruhe seiner Heimat. Nach den immergrünen Hügeln, den endlosen Sommern, der Meeresbrise. Dort, wo er herkam, konnte man stundenlang ausreiten, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen.
Guddin. Das Herz wurde ihm schwer, als der ostpreußische Gutshof in seiner Erinnerung aufflammte. Der Name glitt ihm wie ein Seufzen über die Lippen. Ein Ort voller Schönheit, Magie und Sehnsucht. Lange war er nicht mehr dortgewesen. Das letzte Mal hatte er herausfinden müssen, dass sein Vater, ein ranghoher Offizier im Ersten Weltkrieg, ihn jahrelang belogen und betrogen hatte. An die Demütigungen, die er als Kind erfahren und immer noch ertragen musste, sobald er seinem alten Herrn unter die Augen kam, hatte er sich gewöhnt. Es war aussichtslos, auf Anerkennung, Achtung oder gar einen Funken Liebe zu hoffen. Aber der Tod seiner Mutter ging ihm wie heißes Öl unter die Haut. Es musste einen Grund geben. Irgendetwas, das mit seinem Vater zu tun hatte, musste sie in den Freitod getrieben haben. Er schob den Gedanken beiseite und sperrte die Erinnerungen sorgfältig ein. Schließlich war er doch jetzt da, wo er all die Jahre hinwollte. In der Position, die er sich so lange gewünscht hatte. Doch er träumte von mehr.
Die anfänglichen Ziele, die ihn von Bayern in die Hauptstadt getrieben hatten, hatte er erreicht. Sogar übertroffen, und das mit nur 33 Jahren. Seit einem halben Jahr lebte und arbeitete er nun in Berlin. Jeden Tag stand er um sechs Uhr morgens pünktlich in seinem Arbeitszimmer in der Prinz-Albrecht-Straße 8. In nur sechs Monaten war es ihm gelungen, sich hier einen Namen zu machen. Regelmäßig las er ihn in der Zeitung. Ein seltenes Lächeln ging über sein Gesicht, wenn er ein Bild von sich auf einem Titelblatt erspähte. Er erhielt Einladungen zu großen Feiern, durfte an Besprechungen teilnehmen. Selbst die »hohen Tiere« des Reiches kannten und schätzten ihn. Nicht länger war er irgendein kleiner Fisch im Reichssicherheitshauptamt, das nunmehr an die 3.000 Leute beschäftigte. Seine Befehle wurden befolgt und umgesetzt, er allein trug die Verantwortung für zwei Dutzend Mitarbeiter. Eine Verantwortung, die er sich lange gewünscht hatte. Wenn ihn sein Vater nur so sehen könnte!
Er stand am geöffneten Fenster und kostete den Moment voll aus. Sein Atem formte sich vor seinem Gesicht zu kleinen Wölkchen, dennoch öffnete er es ganz, lehnte sich mit dem Oberkörper nach draußen und schoss ein Bild vom Park. Eine Kamera – das war das Erste, wonach er verlangt hatte. Eine Kamera, um Momente wie diesen festzuhalten.
Sein Herz machte einen Satz, als er eine schlanke, blonde Frau erblickte, die mit einer Tasche am Arm durch die Parkanlage lief. Das Klacken ihrer Absätze drang bis zu ihm nach oben. Er setzte die Kamera an und sah durch die Linse. Enttäuscht erkannte er ein fremdes Gesicht.
Das Schrillen des Telefons lenkte seine Aufmerksamkeit zurück ins Arbeitszimmer. Er hastete zu seinem Schreibtisch und nahm den Hörer von der Gabel.
»Herr Sturmbannführer Winter«, erklang die Stimme seiner Sektretärin am anderen Ende der Leitung.
»Was gibt es?«
»Oberführer Müller möchte Sie sprechen. Er steht hier vor mir.«
Ein so wichtiger Besuch schon am frühen Morgen. Winter streichelte mit dem Daumen über den Telefonhörer und lächelte. Er kannte Heinrich Müller noch aus München. Direkt nach der Machtübernahme Hitlers war er in die neugegründete Bayerische Politische Polizei übernommen worden und kämpfte seitdem gegen die Feinde des Nationalsozialismus. Er war ein großes Vorbild, ein Planungsgenie. Winter kannte alle seine Arbeiten und war immer wieder aufs Neue beeindruckt, mit welcher Präzision und Genauigkeit er vorging. Winter hatte ihn nach dem Anschlag auf Hitler im Bürgerbräukeller persönlich kennenlernen dürfen. Durch Winters entscheidenden Hinweis, die Knie des Verdächtigen zu inspizieren, hatte er selbst damals zur Aufklärung des Falles beitragen können. Der Attentäter Georg Elser konnte daraufhin der Tat überführt werden. Müller, der nun schon viele Jahre in Berlin arbeitete, war sehr beeindruckt gewesen, weshalb er Winter nach seiner Ankunft in der Hauptstadt unter seine Fittiche nehmen wollte.
Die Tür öffnete sich und Heinrich Müller trat ein, ein schlanker Mann mit schmalen Lippen, die ihm eine gewisse Ernsthaftigkeit verliehen.
»Heil Hitler«, begrüßte Winter ihn und nahm den rechten Arm nach oben.
»Heil Hitler.«
»Darf ich dir etwas anbieten, Heinrich? Einen Morgenkaffee? Ich wollte mir selbst auch gerade einen machen lassen.«
»Gerne.«
Winter nahm erneut den Hörer von der Gabel und wählte die Durchwahl zu seiner Sekretärin.
»Hilde, wir möchten gerne einen Kaffee genießen. Ja, für mich schwarz.«
»Milch und Zucker«, sagte Müller.
»Genau, der Herr Oberführer wünscht Milch und Zucker.«
»Hast du die Bilder selbst geschossen?«, fragte Müller und hob eines der Schwarz-Weiß-Fotos hoch, die Winter auf seinem Schreibtisch ausgebreitet hatte. Eigentlich hatte er diese in sein Album heften wollen.
»Erinnerungen, die bleiben«, gab Winter als Antwort.
»Eine hervorragende Idee. Man würde sonst vergessen, wie die Ruinen ausgesehen haben, nachdem wir sie wieder aufgebaut haben.«
Es klopfte zaghaft an der Tür und Winters Sekretärin kam mit einem Tablett herein.
»Ich stelle den Kaffee am besten auf den kleinen Besuchertisch. Milch habe ich in der Kanne dabei, da ich nicht wusste, wie viel es sein darf.«
»Herrlich. Wie immer alles richtig gemacht, Hilde«, schmeichelte Winter und Hildes Wangen flammten rot auf. Sie schlug die Augen nieder und verließ mit einem breiten Grinsen das Zimmer.
»Setzen wir uns doch, Heinrich.«
Winter nahm seine Tasse in die Hand und beobachtete Müller, wie er Milch zum Kaffee mischte.
»Du magst wohl nicht besonders gern blond«, witzelte Müller mit einem Augenzwinkern auf Winters Tasse, in der die schwarze Flüssigkeit fast bis zum Rand schwappte.
»Jedenfalls nicht bei meinem Kaffee«, gab Winter zurück und entlockte Müller damit ein Lächeln. Eisbrecher. Ein Witz war immer ein guter Einstieg in ein Gespräch.
»Ich hatte dir damals rudimentär vom Euthanasie-Programm erzählt. Vom Gnadentod an unheilbar Kranken«, begann Müller und Winter setzte seine Kaffeetasse an, um seinem Gegenüber mehr Zeit beim Formulieren der richtigen Worte zu geben. »Hitler selbst hat damals den Befehl erteilt und wir haben uns gemeinsam damit befasst und Pläne ausgearbeitet.«
»Aktion T4«, sagte Winter.
»Du weißt davon?«
»Man hört doch so einiges.«
Müller warf ihm einen erstaunten Blick zu.
»Keine Sorge, Heinrich. Ich habe nur vage Informationen erhalten, keine Einzelheiten.« Natürlich wusste Erich Winter um die Pläne der Aktion, aber er hoffte, dass Müller nun mit Details herausrückte.
»Ich müsste dir normalerweise eine Verschwiegenheitsurkunde zum Unterschreiben geben«, gab er zu bedenken. Winter fiel auf, dass er dabei den Kopf leicht schief hielt.
»Ich hole einen Stift«, sagte Winter und erhob sich.
»Nein, nein, nicht nötig, Erich.«
Die Finte mit dem Stift klappte immer wieder aufs Neue. Wenn man sofort bereit war, etwas zu unterschreiben, weckte das Vertrauen. Ein Vertrauen, das er brauchte wie die Luft zum Atmen. Vertrauen, das ihm Informationen beschaffte. Nicht nur von Müller, auch von den anderen hohen Funktionären der Gestapo und SS. Müller selbst war Leiter des Amtes IV. Leiter der Gestapo in Berlin und verantwortlich für die Gegnerbekämpfung im Reich. Sein Vertrauen war mehr wert als pures Gold.
»Mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses kamen wir nicht zu dem Ziel, das wir ursprünglich erreichen wollten. Durch die Sterilisationen konnten wir zumindest eine Weitergabe des defekten Erbguts vermeiden, aber dennoch leben die Menschen auf Staatskosten.«
»Von wie vielen Sterilisationen sprechen wir?«
»400.000. Mindestens. Du kannst dir ja vorstellen, wie viele Ärzte und Krankenschwestern wir dafür benötigen. Die Operationen sind vor allem bei Frauen sehr kostspielig.«
»Ich habe mir die Arbeit gemacht, das alles auszurechnen. Hohe Summen, die an anderen Stellen dringend gebraucht werden würden.« Winter blickte Müller aus schmalen Augen an. Wie immer verdüsterte sich seine Laune, wenn es darum ging, dass Gelder unnötig aus dem Fenster geworfen wurden.
»Aber fahr bitte fort, ich habe dich unterbrochen.« Winter trank den letzten Schluck Kaffee und leckte sich über die Lippen.
»Seit 1939 gibt es Meldebögen zur Erfassung bestimmter Personen, um detaillierte Angaben zu Krankheiten und zur Arbeitsfähigkeit machen zu können. Unheilbar Kranke. Psychisch Gestörte. Die Pflegeanstalten sind schließlich kein Entspannungshotel für Dauerurlauber. Man kann die Leute nicht bis an ihr Lebensende durchfüttern und medizinisch versorgen.« Müller hatte sich in Fahrt geredet, sein Kaffee stand vergessen auf dem Beistelltisch. »In unserer Zentrale wurden die Eintragungen an unsere Obergutachter übermittelt. So konnten sie anhand des Zustands der Patienten sofort entscheiden, ob eine Fortführung der Behandlung überhaupt Sinn macht. Ihre Entscheidung wurde den Heilanstalten mitgeteilt und die Patienten verlegt.«
»Wie war das möglich, ohne die Zustimmung der Angehörigen zu bekommen?« Interesse flammte in Winter auf.
»Sie wurden lediglich über die Verlegung informiert. Was sich in den neuen Anstalten abspielt, das obliegt strengster Geheimhaltung.«
»Selbstverständlich, Heinrich. Verzeih mir bitte meine Nachfrage.«
»Ich habe nicht die Absicht, dir Informationen vorzuenthalten«, sagte Müller.
»Wie lange können die Aktionen noch geheimgehalten werden?«, wollte Winter wissen.
»Die Angehörigen erwarten natürlich Antworten. Antworten darauf, weshalb ihre Mütter, Töchter, Söhne oder was auch immer plötzlich verlegt worden und nach nur wenigen Wochen allesamt an einer Lungenentzündung gestorben sind. Vom Gnadentod dürfen sie selbstverständlich nie erfahren, das würden sie nicht verstehen.«
»Wie ist der Gnadentod geplant?«
»Wir haben Räume luftdicht umgebaut und lassen Gas einlaufen. Die Patienten atmen das Gas ein und nach nur wenigen Minuten sind sie eingeschlafen.«
Winter fiel auf, dass sich Müller auf seinem Stuhl versteift hatte. Seine Körperhaltung drückte Anspannung aus. Jetzt war es Zeit, die Frage zu stellen, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte: »Ich schätze dein Vertrauen, Heinrich, aber was hat das Ganze mit mir zu tun? Meine Aufgaben beschränken sich doch auf ein ganz anderes Gebiet.«
Müller schnappte kurz nach Luft, dann griff er in die Innentasche seiner Uniform und holte einen Umschlag hervor. Er öffnete ihn, zog ein einmal gefaltetes dickes, weißes Papier heraus und klappte es auf. Winter erkannte einen offiziellen Briefkopf. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Hatte Müller einen neuen Auftrag für ihn?
»Der Brief stammt aus Grafeneck. Einer dieser Heilanstalten in Baden-Württemberg.«
Winter hob fragend die Augenbrauen und lehnte sich mit dem Oberkörper über den Tisch. Einen Augenblick hatte Winter das Bedürfnis, ihm den Brief einfach aus der Hand zu reißen. Es musste sich um ein wichtiges Dokument handeln, sonst würde er nicht so nervös vor ihm sitzen. Wie ein Schuljunge, den man bei einem Streich erwischt hatte.
»Also?«, begann er, um Müller aus der Reserve zu locken.
»Es geht um deine Frau.« Er blickte auf. »Helene.«
Erich Winter war sofort katzenhaft wach. »Was ist mit ihr?«, rief er aus, und endlich reichte ihm Müller den Brief.
»Er war an mich adressiert, deshalb bin ich gleich zu dir gekommen«, rechtfertigte sich Müller.
Winters Augen flogen über die Buchstaben. Sie machten keinen Sinn. Sie verschwammen vor ihm wie eine dünne Suppe, und er musste den Brief noch einmal lesen. Ein zweites, ein drittes Mal.
»Es tut mir leid, Erich.«
»Was?«
»Es tut mir leid«, begann Müller erneut. Endlich erreichten ihn seine Worte, und Winters Augen blieben auf dem entscheidenden Satz haften: »Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen, dass Helene Winter einer schweren Lungenentzündung erlegen ist. Sofortige Hilfsmaßnahmen brachten keinen Erfolg.« Weiter und weiter und weiter.
Lungenentzündung.
Brechreiz stieg in Winter auf und er musste die bittere Magensäure hinunterschlucken, damit er sich nicht vor Müller vergaß. Zitternd blickte er auf, unfähig seine Zunge zu bewegen und geeignete Worte zu finden.
»Ich habe es auch erst durch den Brief erfahren. Sonst hätte man vielleicht noch einschreiten können. Es tut mir wirklich außerordentlich leid, Erich. Ich hatte keine Ahnung, wie es wirklich um sie stand. Es war sehr mutig von dir, sie damals in eine Heilanstalt zu bringen.«
»Dich trifft keine Schuld, Heinrich.«
Es war seine Entscheidung gewesen. Er hatte es selbst so gewollt. Er hatte handeln müssen.
»Ich lasse dich erst einmal ein wenig zur Ruhe kommen.« Müller erhob sich und verschwand durch die Tür.
Winter war allein. Allein mit dem Brief, der vor ihm auf dem Tisch lag. Helene war tot. Gestorben in irgendeiner dämlichen Heilanstalt, von der er bis vor wenigen Minuten noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte.
Winter rief sich die Erlebnisse von damals ins Gedächtnis. Das Gespräch mit dem leitenden Arzt Professor Doktor Prechtl. Der beißende Geruch des Desinfektionsmittels stieg ihm sofort wieder in die Nase, als er in Gedanken die weißen Gänge entlangschritt. In Helenes Augen eine Mischung aus Unsicherheit und Misstrauen. Erst als sie ihr eröffnet hatten, dass sie in der Münchner Heilanstalt bleiben sollte, damit untersucht werden konnte, weshalb sie nicht in der Lage war, ihrem Ehemann einen Nachkommen zu schenken, sprang ihm aus ihren Augen die Angst wie ein Klappmesser entgegen. Gewaltsam musste sie aus dem Zimmer gebracht werden. Ein peinlicher Auftritt. Dreimal hatte er sie danach noch besucht. Er musste zugeben, dass sie wie ausgewechselt schien. Prechtl hatte ihn persönlich informiert, dass sie mit dem Kopf gegen Wände lief und teilweise das Essen verweigerte. Sie fantasierte, faselte irgendein wirres Zeug, das nicht von der Frau stammen konnte, der er einst das Jawort gegeben hatte. Der Grund für ihre Unfruchtbarkeit blieb unklar, jedoch hatte sie während ihres Aufenthalts wohl eine Art Geisteskrankheit entwickelt. Was als harmloser Versuch, ihr zu helfen begonnen hatte, war völlig außer Kontrolle geraten. Er hätte sich nicht träumen lassen, dass seine eigene Frau zu jenen Irren gehören würde, für die ein Gnadentod die beste Lösung war. Eine sogenannte Lungenentzündung. Wenn sie ihm wenigstens die Wahrheit gesagt hätten. Wut kochte in ihm auf. Wut darüber, dass ihn keiner angerufen hatte. Er hätte selbst nach München reisen und sich ein Bild von seiner Frau machen können. Er war sich sicher, dass er bei ihrem Anblick die richtige Entscheidung hätte fällen können. So war sie ihm einfach gestohlen worden.
Winter kehrte ins Hier und Jetzt zurück, löste sich aus seiner Starre und schleppte sich zum Schreibtisch. Dort zog er seinen persönlichen Ordner aus der Lade und heftete das Schreiben sorgfältig ab. Dann fischte er mit ruhigen Fingern seine Ausweispapiere hervor.
Ehepartnerin: Helene Winter. Winter schüttelte den Kopf und auf einmal brach ein Lachen aus ihm heraus. Erst leise, dann wurde er von einem Lachanfall regelrecht geschüttelt. Sein Schäferhund Zeus, der gerade noch eingerollt auf seiner Decke gelegen hatte, sprang besorgt auf und setzte sich grummelnd vor seine Beine. Er hatte jetzt keine Zeit, ihn zu streicheln und schob ihn beiseite. Mit schwarzem Stift strich er Helenes Namen aus dem Büchlein aus. Sollte er sich schlecht fühlen? Trauern? Weinen und schreien?
Wie eine derart schwere Nachricht nur solche Leichtigkeit in ihm auslösen konnte. Wie lange hatte er nicht mehr an sie gedacht. Er war frei. Bittersüß schmeckte er die neugewonnene Freiheit wie Honig auf seiner Zunge. Die unsichtbaren Fesseln, die ihn noch an diese Ehe gebunden hatten, fielen mit einem Mal von ihm ab.
Er bettete das Büchlein in seine Schublade und kramte tiefer. Liebevoll betrachtete er das Foto, das er von ihr geschossen hatte. Sie hatte direkt in die Kamera geblickt, obwohl sie ihn nicht einmal gesehen hatte. Blonde, lange Haare. Gewitterblaue Augen. Das unschuldige Gesicht.
Winters Lippen strichen über die Aufnahme und sein Herz schlug warm in seiner Brust, als er die junge Frau erneut betrachtete. Es war nicht Helene Winter.